Warum mengenorientierte Textwissenschaft?
Zur Begründung der Statistik als Methode. *

Burghard Rieger

0.  Jede Wissenschaft läßt sich charakterisieren durch die Angabe

a) des Erkenntniszieles, das sie verfolgt,
b) des Gegenstands, den sie hierzu untersucht und
c) der Methode, die sie dabei anwendet.

Es zeigt sich jedoch, daß diese drei Bestimmungsstücke eine zwar notwendige, nicht aber auch hinreichende Grundlage darstellen für die Beurteilung der von wissenschaftlichen Disziplinen angebotenen Erkenntnisformulierungen. Denn einerseits wird deren kritisch-rationale Überprüfung solange als unangemessen zurückgewiesen werden können, wie die wechselseitige Bedingtheit von Ziel, Gegenstand und Methode nicht systematisierend mitreflektiert, d. h. in einer Theorie dieser Wissenschaft aufgehoben ist. Andererseits bietet aber auch eine -- explizit oder implizit -- vorliegende Theorie einer Wissenschaft, die deren Sätze formal zu überprüfen erlaubt, noch keine hinreichende Gewähr ihrer Beurteilbarkeit.

Für die objektive, d. h. eine bloß systemimmanente Kritik übersteigende Beurteilung der Resultate einer Wissenschaft ist daher von ihrer Theorie zweierlei zu fordern:

  1. Daß die ,Erfahrung' [...] als eine bestimmte Methode der Auszeichnung eines theoretischen Systems 1 fungiert und es damit von anderen, formal gleichwertigen wissenschaftlichen Theorien unterscheidet  u n d
  2. daß es die logische Form des Systems ermöglicht, dieses auf dem Wege der methodischen Nachprüfung negativ2 auszuzeichnen, um es prinzipiell überholbar zu machen.

0.1  Die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen dieser Forderungen wurden im Laufe der verschiedenen wissenschaftstheoretischen Ansätze -- auf formalem wie empirischem Gebiet -- vom sog. Operationalismus3 entwickelt und in der fundamentalen Bedeutung der Regelhaftigkeit bzw. der Gesetzmäßigkeit4 allgemein bestimmt. Diese erscheint ihm als notwendige Bedingung des Zusammenhangs aller derjenigen Wahrnehmungen bzw. Beobachtungen von Geschehen, denen das Prädikat wirklich oder objektiv (Kant)5 bzw. intersubjektiv nachprüfbar (Popper)6 soll zugesprochen und die deswegen als wissenschaftlich sollen zugelassen werden können.

Damit läßt sich die von wissenschaftlichen Aussagen erwartbare Objektivität als deren intersubjektive Nachprüfbarkeit7 und die von wissenschaftlich-theoretischen Systemen erwartbare Gültigkeit als deren Bewährung8 operational definieren: Nicht ihre Verifikation sondern ihre im Prinzip mögliche Falsifizierbarkeit liefert das übergreifende Beurteilungskriterium, das damit den grundsätzlich hypothetischen Charakter wissenschaftlicher Sätze, Theorien und ganzer Theoriensysteme unterstreicht9.


0.2  Erst unter dieser Bedingung übergreifender Beurteilbarkeit durch durchgängige Operationalisierung wird sinnvoll versucht werden können, die Erkenntnisse unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen in gegenseitigem Austausch wechselseitig zu nutzen und miteinander zu verknüpfen. Die heute angesichts komplexen Phänomenbereiche gerade innerhalb der historischen Gesellschafts- und Geisteswissenschaften geforderte Interdisziplinarität wird aber solange ohne praktische Konsequenzen bleiben, wie die Kompatibilität der einzelnen Fachrichtungen, d. h. deren einheitliche wissenschaftstheoretische Fundierung noch aussteht.

Werden dementsprechend die Prinzipien moderner Wissenschaftstheorie10 als gültig anerkannt auch für eine Textwissenschaft, die sich als allgemeine, alle sprachthematisierenden Disziplinen umfassende Wissenschaft von gesellschaftlichen Kommunikationsprozessen 11 begreift, dann sollte ihre Theorie insgesamt wie auch ihre -- den unterschiedlichen Disziplinen entsprechenden -- Teiltheorien als ein deduktives System hypothetischer Sätze formulierbar sein, die objektiv, d. h. intersubjektiv nachprüfbar, also im Prinzip falsifizierbar sind.

Die Frage, ob eine solche Forderung an eine allgemeine kommunikationstheoretisch ausgerichtete Sprach- und Textwissenschaft erfüllbar ist, kann vorab nicht beantwortet werden. Beim derzeitigen Stand dieser Wissenschaft, die von ihrer deskriptiven Phase kaum erst zur explikativen Phase fortzuschreiten beginnt, vermag keiner der inzwischen vorliegenden theoretisch-programmatischen Entwürfe12 zu antizipieren, was Aufgabe und Leistung erst einer dritten Entwicklungsstufe, der theoretischen Phase dieser Textwissenschaft wird sein können.


0.3  Die folgenden Überlegungen wollen daher weder eine -- im genannten Sinne -- übergreifende Theorie der Textwissenschaft bieten, noch die Reihe der Entwürfe und Programme zu einer kritischen Wissenschaft vom Text fortsetzen. Hier soll vielmehr versucht werden, von der traditionellen Literaturwissenschaft ausgehend, die empirisch-operationale Fundierung einer eben deswegen mengenorientiert arbeitenden Textwissenschaft zu thematisieren, um daraus jene wissenschafts-praktischen Konsequenzen zu ziehen, die in den wissenschafts-theoretischen Programmen nur gefordert werden können. Im einzelnen soll versucht werden

  1. die Divergenz von theoretisch-programmatischem Anspruch und praktisch-analytischer Leistung textwissenschaftlicher Untersuchung als ein kommunikationstheoretisch beschreibbares Problem unzureichender Informationsgrundlagen zu fassen;
  2. die aus dieser allgemein kennzeichnenden Ausgangslage resultierende Aufgabe zusätzlicher Daten- und Informationsgewinnung als ein speziell textwissenschaftliches Methodenproblem zu bestimmen;
  3. die mengenorientierten Verfahrensweisen (Statistik) als praktikable Lösung dieses Methodenproblems darin zu erweisen, daß sich in der Statistik die Interdependenz von Gegenstand und Ziel textwissenschaftlicher Untersuchungen operationalisieren läßt, wodurch die Bedingungen ihrer jeweiligen Anwendbarkeit wie auch ihre Resultate intersubjektiv nachprüfbar formuliert werden können.


1.
 Wollte man die traditionelle Literatur- und Dichtungswissenschaft,
  a) deren Forschungsgegenstand die als singulär und essentiell aufgefaßten sprachlichen Kunstwerke sind, und
  b) deren Erkenntnisziel im erlebenden Verstehen von Dichtung durch interpretierende Rekonstruktion ihrer historischen Zusammenhänge liegt,
von der Textwissenschaft abheben,
  c) deren postulierter Gegenstandsbereich sprachliche Kommunikationsprozesse im allgemeinen sind, und
  d) deren Erkenntnisabsicht programmatisch auf die feststellende Beschreibung und explikative Analyse solcher Prozesse und der sie ermöglichenden und bedingenden historisch-gesellschaftlichen Faktoren abzielt,
dann müßte -- trotz aller hier nicht aufweisbaren Unterschiede zwischen hermeneutisch-dichtungswissenschaftlichem und operational-textwissenschaftlichem Ansatz -- gleichwohl die gemeinsame, kommunikationstheoretisch beschreibbare Ausgangslage beider konstatiert werden: In beiden Fällen sieht sich der Forscher einem Gegenstandsbereich (a bzw. c) gegenüber, dessen Beschaffenheit ihn im Hinblick auf sein jeweils angestrebtes Erkenntnisziel (b bzw. d) in einen offensichtlichen Informations-Notstand bringt.

Dieser soll zunächst am Beispiel des textwissenschaftlichen Ansatzes exemplifiziert werden, weil die textwissenschaftliche Verallgemeinerung des Forschungsgegenstands13 bei gleichzeitiger Präzisierung des Forschungszieles14 jenes durchgängige Basisproblem der Informationsgrundlagen überhaupt erst sichtbar macht und zu fassen erlaubt, das innerhalb der traditionellen Literatur- und Dichtungswissenschaft -- wenn überhaupt -- nicht in dieser Schärfe hervortrat.


1.1  Richtungweisend für das Selbstverständnis der Textwissenschaft und für ihre programmatische Konzeption sind modelltheoretische Überlegungen der Informationstheorie und Kybernetik. Auf deren operationale Begriffs- und Theorienbildung innerhalb der Kommunikationswissenschaften konnte deswegen zurückgegriffen werden, weil sie -- zumindest in ihren mathematisch-systematischen Teilen hinreichend abstrakt und umfassend -- eine Übertragung auf andere Sachkomplexe prinzipiell erlauben.

Aufgabe der Informationstheorie ist es, Kommunikation von Mensch zu Mensch, die sich als Zeichenverkehr manifestiert oder die Kommunikation des Menschen mit der Welt, die auf eine Beobachtung hinausläuft, einer quantitativen und strukturellen Erfassung zugänglich zu machen, während die Kybernetik als ,science of relations' die regulären Verhaltensweisen von hochkomplexen energetisierten ,Systemen' (d. h. von informationsverarbeitenden Maschinen, Lebewesen und Gruppen von Lebewesen) mit mathematischen Methoden studiert15.

Versteht man in diesem Sinne unter Kommunikation den Handlungsablauf der Abgabe, Aufnahme und Verarbeitung von Signalen, so bilden die an einem so sich konstituierenden Kommunikationsprozeß beteiligten (lebenden oder leblosen) Glieder eine Kommunikationskette16. Sie stellt das fundamentale Schema allen Zeichenaustausches und aller -- auch wissenschaftlichen -- Informationsgewinnung dar. Anhand dreier vereinfachter Schemata von Kommunikationsketten läßt sich der bisher eher nur postulatorisch umrissene Ansatz der Textwissenschaft präzisieren.

Die einfachste Form einer Kommunikationskette bildet die sogenannte Beobachtungskette (Abb. 1):

Abb.1
Abb.1

Ein als Signalquelle fungierendes materielles Objekt sendet Signale S aus, die von einem menschlichen Beobachter aufgenommen und interpretiert werden können. Dabei werden die über periphere Rezeptionsorgane p einfallenden Sinneseindrücke dadurch zu Signalen, die in einem zentralen Organ z weiterverarbeitet werden können, daß sich über periphere Aktionsorgane p¢ ein Rückmeldekreis R aufbaut, der einen als wiederholbar und regelhaft erkennbaren Zusammenhang von Quelle und Signal erst konstituiert.

Im Gegensatz zur Beobachtungskette weist die einfachste Form der sprachlichen Kommunikationskette (Abb. 2) eine zusätzliche Verbindung, zwischen den sie konstituierenden Gliedern bzw. Kommunikationspartnern auf.

Abb.2
Abb.2

Neben der Signalverbindung zwischen Expedient und Perzipient (die im Hinblick auf die textwissenschaftliche Thematik hier durch das zentrale Zwischenglied Text als materiell-objektivem Signalträger zwischen Sender/Autor und Empfänger/Leser ergänzt wurde), besteht eine Vereinbarung über die Zeichenfunktion der im Text materialisierten Signale. Diese Vereinbarungsrelation gewährleistet sprachliche Kommunikation, wenn der Zeichenvorrat des Expedienten V1 eine genügende Zahl gemeinsamer Elemente V3 mit dem Zeichenvorrat des Perzipienten V2 aufweist. Die Rückmeldekreise RE und RP schließlich veranschaulichen die sowohl auf der Seite des Expedienten (Autor) als auch auf der Seite des Perzipienten (Leser) mögliche Kontrolle und Repetition bei der Konzeption bzw. Rezeption eines Textes.


1.2  Wendet man die kommunikationstheoretische Modellbildung, die als ein methodologisches Prinzip den textwissenschaftlichen Ansatz bestimmt, methodisch auf diesen selbst an, dann wird das Schema der sprachlichen Kommunikationskette als Ganzes gleichsam zu einer potentiellen Signalquelle , der sich der Textwissenschaftler als Beobachter wie im Schema der Beobachtungskette gegenüber sieht.

Abb.3
Abb.3

Für dieses Schema der textwissenschaftlichen Beobachtungskette (Abb. 3), das dem postulierten Gegenstandsbereich (sprachliche Kommunikationsprozesse) und dem Erkenntnisziel (feststellende Beschreibung und explikative Analyse einwirkender Faktoren) Rechnung trägt, gilt aber auch, daß die in einer Kommunikationskette sich abspielenden Prozesse [...] nur von, einem außerhalb der Kette stehenden externen Beobachter hinreichend exakt beschrieben werden [können], einem Beobachter, dem sämtliche Glieder der Kette zugänglich sind 17.

Genau hier wird das Basisproblem unzureichender Informationsgrundlagen in der Textwissenschaft faßbar: denn im Unterschied zur textwissenschaftlichen Programmatik bilden ja nicht ganze Kommunikationsketten, sondern in der Regel nur Texte den zugänglichen Untersuchungsgegenstand, so daß nicht sämtliche Glieder sondern jeweils nur ein Glied bei der Analyse von Kommunikationsprozessen zur Verfügung steht. Über das Autor-/Expedienten-Glied und das Leser-/Perzipienten-Glied einer zu untersuchenden Kommunikationskette lassen sich dabei in den seltensten Fällen -- zumal bei der Untersuchung historischer Texte -- stichhaltige, d.h. hinreichend exakte Informationen (z.B. über die Repertoires, deren Umfang und Strukturiertheit) direkt gewinnen. Solche Informationen sind jedoch notwendige Voraussetzungen, um die im Erkenntnisziel angestrebten intersubjektiv nachprüfbaren Aussagen über etwa Motivation, Funktion und Wirkung von Texten in deren jeweiligem historischen und/oder gesellschaftlichen Kontext machen zu können.


1.3  Unter dem Druck dieses Informations- und Datenmangels droht dabei auch der textwissenschaftlich arbeitende Forscher wiederum Lösungen zu akzeptieren, die schon die traditionelle Literaturwissenschaft als methodischen Ausweg aus dieser auch für ihre Ausgangslage kennzeichnenden Problematik anbot. Verführt durch die Spezifik des einzig verfügbaren Untersuchungsobjektes Text als sprachmaterialem Zwischenglied einer Kommunikationskette, ist der Textwissenschaftler nur zu leicht bereit, gerne im Hinblick auf Forschungsgegenstand und Forschungsziel einzig angemessene, externe Beobachterposition aufzugeben und selber als Perzipient/Leser in die textsprachliche Kommunikationskette einzutreten, deren Analyse und Beschreibung -- nicht aber deren Glied zu sein und deren Erlebnis -- er anstrebt. Der Versuch, auf diese Weise ein durch Sprachteilhabe, individuelle Erfahrung, wissenschaftliche Lektüre etc. angesammeltes Wissen in den Analysevorgang einzubringen, übersieht dabei einerseits die grundsätzlich aufzusetzende Begrenztheit und Zufälligkeit dieser Zusatzinformationen, welche der Untersuchende als sein erster -- und häufig einziger -- Proband überdies selbst liefert, andererseits wird mit dem so sich vollziehenden Wechsel der Kommunikationspositionen die Unterscheidbarkeit der Untersuchungsebenen aufgehoben.

Die wechselseitige Vermengung der externen Beobachterposition mit der internen Perzipientenhaltung führt dabei zu jener zirkelhaften Grundstruktur bei der Datengewinnung, die für die hermeneutisch-interpretierenden im Unterschied zu den operational-deskriptiven Wissenschaften kennzeichnend ist. Sie hat eine weitgehende Subjektivität der daraus abgeleiteten Aussagen zur Folge. Der oft hohe Erlebnis- und Bekenntniswert solcher Aussagen -- quasi als Ausgleich ihres geringeren intersubjektiv nachprüfbaren Informationsgehaltes -- ist für die werkimmanente Phase der traditionellen Literaturwissenschaft, die diese Verfahrensweise zu ihrem methodologischen Prinzip erhob, inzwischen allgemein erkannt und hinreichend kritisiert worden. Für die Textwissenschaft dagegen, deren theoretisch-programmatisches Konzept eine Konsequenz dieser Kritik darstellt, scheint die ständige Gefahr eines Rückfalles in immanente Lösungen noch kaum erkannt. Der Abbau der bisher noch konstatierbaren Divergenz von Anspruch und Leistung textwissenschaftlicher Untersuchungen wird aber nicht dadurch bewirkt werden können, daß man sie um so entschiedener leugnet, je eher man bereit ist, die methodologischen Prinzipien operationaler Wissenschaften für eine Sprach- und Textwissenschaft als unangemessen abzulehnen.



2.  Akzeptiert man dagegen auch für die geforderte Textwissenschaft das Prinzip der intersubjektiven Nachprüfbarkeit angebotener Erkenntnisformulierungen in Relation zu Erkenntnisabsicht, Erkenntnisgegenstand und Erkenntnismethode, dann erweist sich die bisherige Divergenz von Anspruch und Leistung selbst als eine nur empirisch-operativ zu lösende Herausforderung. Sie läßt sich -- im Anschluß an den oben herausgearbeiteten Informations-Notstand -- präzisierend auf die vorrangig zu lösende Aufgabe reduzieren, wie im Hinblick auf die Zielprojektion (Beschreibung und Analyse der bei sprachlichen Kommunikationsprozessen wirksamen gesellschaftlichen und/oder historischen Faktoren) und unter Neufassung der Gegenstandsbestimmung (Texte als objektiv zugänglicher sprachmateriale Signalträger) zusätzliche Daten sich gewinnen und auf ihren Informationswert hin beurteilen lassen, ohne dabei in eine Werkimmanenz hergebrachter Art zurückzufallen. Das aber ist eine Frage der Erkenntnismethode.


2.1  Die kommunikationstheoretisch beschriebene Ausgangslage zwingt den textwissenschaftlichen Analysator, die notwendigen aber  u n m i t t e l b a r  nicht zugänglichen Zusatzinformationen über das Expedienten-/Autor-Glied bzw. das Perzipienten-/Leser-Glied einer zu analysierenden Kommunikationskette (Abb. 2)  m i t t e l b a r  aber zugängliches Untersuchungsmaterial zu gewinnen. Es wäre verfehlt, die im Hinblick auf das textwissenschaftliche Untersuchungsziel benötigten Daten leicht vermittels Autor- bzw. Leser-Befragungen erheben zu wollen. So nützlich solche Befragungen in anderen Fällen sein können: sie werfen eine eigene Problematik auf und liefern dem Analysator wiederum nur -- wenngleich je nach Anlage der Fragebögen mehr oder weniger strukturierte -- sprachliche Texte an die Hand. Darüber hinaus ist aber jedes Befragungsverfahren zeitgebunden, was besagen will, daß es immer dann unanwendbar ist, wenn dem Textwissenschaftler nicht  z e i t g e n ö s s i s c h e  sondern  h i s t o r i s c h e  Texte vorliegen, deren jeweils historische kommunikative Kontexte (etwa als Voraussetzung der Analyse ihrer wechselnden Wirkung über einen Zeitraum hinweg) untersucht werden sollen.

Die in solchen Fällen sich anbietende Möglichkeit, Zusatzinformationen aus der Lektüre sogenannter Sekundärliteratur zu gewinnen, scheint -- wenn man ihre Bedeutung innerhalb der traditionellen Literaturwissenschaft veranschlagt -- zunächst erfolgversprechender, obwohl es sich auch hierbei wiederum nur um sprachliche Texte handelt. Gerade der Literaturwissenschaftler jedoch weiß, daß eine allemal gebotene kritische Lektüre nur vorsichtige Schlüsse zu ziehen erlaubt, ohne die in sekundärliterarischen Texten fehlenden Angaben ersetzen zu können.

So sieht sich der Textwissenschaftler sowohl beim Befragungsverfahren als auch bei der Aufarbeitung von Sekundärliteratur vor die Aufgabe gestellt, die so ermittelten Daten auf ihre Verläßlichkeit hin zu beurteilen, ehe er sie im Sinne seiner Untersuchung als Zusatzinformationen wird verwenden können. Kommunikationstheoretisch gesprochen: Befragung und Lektüre zwingen den Analysator, jeweils in eine neue Kommunikationskette einzutreten, die sich über die Fragebogen bzw. die Sekundärliteratur (Texte) zwischen dem jeweiligen Probanden bzw. Autor (Expedienten) und dem Textwissenschaftler (Perzipienten) aufbaut, mit allen einen solchen Kommunikationsprozeß möglicherweise beeinflussenden Faktoren. Bei der Beurteilung des Informationswertes so erhobener Daten wiederholt sich damit im Prinzip jene Ausgangsproblematik, zu deren Lösung doch diese Daten gewonnen werden sollten. Sie werden im Rahmen textwissenschaftlicher Untersuchungen denn auch eher zur Bildung als zur Überprüfung von Hypothesen herangezogen werden können.

Wenn aber allein der Text als einzig authentisches und objektiv zugängliches Zwischenglied eines zwischen Autor und Leser tatsächlich abgelaufenen oder zumindest doch intendierten Kommunikationsprozesses für dessen Untersuchung zur Verfügung steht, muß eine Analyse dieses  p r i m ä r e n  Materials in jedem Falle der Analyse  s e k u n d ä r e r  Informationsquellen vorangehen.


2.2  Es mag aussichtslos erscheinen, von hieraus einen Zugang finden zu wollen zu Phänomenen wie Aussage und Bedeutung, Motivation und Anlaß, Funktion und Wirkung eines Textes. Allzu offensichtlich ist die Abhängigkeit dieser Phänomene von Autor und Leser und deren historischer aber auch sozialer, ökonomischer und edukativer Situation, die als Einflußgrößen das Expedienten- bzw. Perzipienten-Glied und damit die kommunikative Umgebung eines Textes prägen.

Vergegenwärtigt man sich jedoch, daß für das Zustandekommen aller sprachlichen Interaktionen ein (gesprochener oder geschriebener) Text notwendige Voraussetzung ist, dann müssen die durch ihn tatsächlich bewirkten oder doch zumindest beabsichtigten kommunikativen Funktionen im Text selbst auffindbare Korrelate haben. Diese müssen im Prinzip regelhafter Natur sein, damit sie -- wie es bei sprachlichen Kommunikationsprozessen tatsächlich der Fall ist -- vom jeweiligen Expedienten intendiert und produziert, vom jeweiligen Perzipienten erkannt und verstanden werden können.

Die Textwissenschaft geht nun davon aus, daß die bei jedem Sprachteilhaber als einem potentiellen Kommunikationspartner (Sprecher/Autor bzw. Hörer/Leser) vorauszusetzende (mehr oder weniger vollkommene) Beherrschung der Regularitäten seiner Sprache (Kompetenz) sich als Resultat eines andauernden Lernprozesses deuten läßt, in dem jeder Sprach-Teilhaber während seines ganzen Lebens steht und augrund von zahllosen sprachlichen Interaktionen (Performanz) eine stets erweiterbare Kenntnis dieser seine Sprache insgesamt konstituierenden Regularitäten erwirbt. Der für jeden Sprachteilhaber unterschiedliche, weil den vielfältigsten und im einzelnen unkontrollierbaren Einflüssen unterliegende Lernprozeß wird dabei einer unmittelbaren empirischen Analyse unzugänglich bleiben, zumal nur ein sehr kleiner Teil aller sprachlichen Interaktionen durch Aufzeichnung in Texten objektiv zugänglich ist. Seine experimentelle Simulation zur Gewinnung zusätzlicher Informationen über potentielle Kommunikationspartner wird daher theoretisch bleiben müssen.

Dagegen eröffnet die Untersuchung nicht einzelner, sondern einer Vielzahl von Texten eine Möglichkeit, auch unabhängig von der Kenntnis des Lernprozesses der einzelnen Sprachteilhaber, intersubjektiv nachprüfbare Aussagen über die Beschaffenheit der in einer Sprache vorherrschenden Regularitäten zu machen. Dabei entsprechen Lernprozeß der Sprachteilhaber und Analysevorgang des Textwissenschaftlers einander derart, daß die aber eine große Menge sprachlicher Interaktionen sich konstituierenden Regularitäten ihrerseits nur über die Analyse einer wiederum großen Menge von Texten werden erkannt und beschrieben werden können. In beiden Prozessen werden die Regularitäten umso deutlicher sein, je größer die zugrundegelegten Mengen sind. Übergreifendes Ziel eines solchen Ausgangs ist es von der Untersuchung der Regularitäten zunächst einzelner zu der immer zahlreicherer Aspekte fortzuschreiten, deren Wechselwirkung vielleicht einmal in Form komplexen Systeme und Teilsysteme zusammenfassend dargestellt und beschrieben werden kann. Erst auf dieser Ebene wurden Begriffe wie Aussage und Bedeutung, Funktion und Wirkung von Texten sich möglicherweise als regelhaftes Zusammenwirken einer Anzahl bestimmter, operational definierter Einflußgrößen präzisieren lassen.


2.3  Für die Analyse sprachmaterial-feststellbarer Ordnungsrelationen in Texten als Funktion ihrer zeichenhaft-kommunikativen Umgebungen ist eine nomologische Textdefinition unzureichend. Vielmehr wird eine operationale Definition des Textbegriffs formuliert werden müssen, die mit der anzusetzenden Untersuchungsmethodik identisch ist.

Analog zur allgemeinen Texttheorie, welche die Realität der Texte, nicht die Realität der Welt voraussetzt, wenigstens zunächst nicht 18, kann nur die sprachmateriale Wirklichkeit der Texte den unmittelbar zugänglichen Gegenstand der Untersuchung bilden. Danach erscheint ein Text als ein Verknüpfungsschema, in dem gegliederte Mengen von Elementen Strukturen entstehen -- und erkennen -- lassen.

Im Unterschied dazu richtet sich die allgemeine Kommunikationstheorie gerade auf diese Realität der Welt , wenn sie den informationellen Aspekt der Texte thematisiert. Danach erscheint ein Text immer auch als ein Kommunikationsschema, in dem gegliederte Mengen von Zeichen Bedeutungen entstehen -- und verstehen -- lassen.

Diese abstraktive Differenzierung von Verknüpfungsschema, Element und Struktur einerseits, von Kommunikationsschema, Zeichen und Bedeutung andererseits, wird aufgehoben in der mengenorientiert-textwissenschaftlichen Definition des Textbegriffs. Sie versucht sowohl den strukturell-elementaren als auch den kommunikativ-zeichenhaften Aspekt als wechselseitig abbildbare Einheit operational zu fassen, wenn Text als gegliederte Menge zeichentragender Elemente definiert wird.

In einem solchen Textbegriff ist Regelhaftigkeit die entscheidende Voraussetzung sowohl für das Erkennen von Strukturen als auch für das Verstehen von Bedeutungen. Sie erlaubt es, die Struktur eines Textes, die als Ordnungsrelationen seiner Elemente beschrieben werden können, auf deren kommunikative Funktionen zu beziehen, die solcher Struktur in einer Menge von Texten Bedeutung verleiht und als Zuordnungsbeziehungen von Zeichen beschreibbar wird19.

Definiert man zum Beispiel das Wort, das innerhalb eines Textes sprachmateriales Element ist, aber in einer Menge von Texten als Zeichen fungieren kann, als die diese beiden Aspekte verkörpernde Einheit, so kann es -- im Hinblick auf eine Vielzahl von Texten, in der jeder Text nur mehr statistisches Element ist -- als Merkmal aufgefaßt werden, das gleichsam verschiedene, je nach Textlänge zahlreiche, graphisch-differenzierte Ausprägungen hat. Deren Frequenzen, Verteilungen, Verknüpfungsrelationen etc. lassen sich im Textmaterial empirisch ermitteln und numerisch bestimmen. Unter diesen werden aber nur diejenigen als die gesuchten textmaterialen Korrelate kommunikativer Funktionen gelten können, die sich vor dem Hintergrund theoretischer Regellosigkeit innerhalb anzugebender Margen als regelhaft isolieren lassen. Eine solche Aufgabe aber fällt in den Bereich der Statistik.

3.  Statistiken sind numerische Tatsachen, aber die S t a t i s t i k  ist eine Gesamtheit von Methoden, die es ermöglicht, zu vernünftigen Entscheidungen zu kommen, wenn wir infolge von Unvollständigkeit oder Unsicherheit der vorhandenen Informationen vor einem Zweifel stehen. Die Entscheidungen mögen notwendig sein, um bei einer praktischen Aufgabe den besten Weg des Handelns zu wählen, oder um bei der Forschung unser allgemeines Wissen zu erweitern.

Die intelligente Lösung von Problemen - auch wissenschaftliche Methode genannt - verlangt die Beobachtung von Tatsachen; die Formulierung von Hypothesen, die die Beziehung der Tatsachen untereinander beschreiben; die Schlußfolgerungen aus den Hypothesen hinsichtlich bestimmter Dinge, die zutreffen müssen, wenn unsere Hypothesen stimmen; und die Erhärtung dieser Schlußfolgerungen durch Beobachtung weiterer Tatsachen. Die S t a t i s t i k   hilft uns, die Beobachtungen zu planen, sie zu organisieren und nach ihnen Hypothesen zu formulieren. Sie hilft uns ferner zu beurteilen, ob die neuen Beobachtungen hinreichend gut mit den Voraussagen aus den Hypothesen übereinstimmen20 .

3.1  Überträgt man diesen methodologischen Zusammenhang auf die mengenorientierte Textwissenschaft, so entfaltet deren Textbegriff selbst den Bereich dessen, was als Tatsache beobachtet und numerisch festgestellt werden kann (zeichentragende Elemente). Die Formulierung von Hypothesen, welche die Beziehungen der Tatsachen untereinander intersubjektiv nachprüfbar beschreiben (Ordnungsrelationen von Elementen/Zuordnungsbeziehungen von Zeichen), läßt dabei auf die diese Mengen auszeichnenden (gliedernden) Strukturen bzw. Bedeutungen schließen, die ihrerseits erkannt bzw. verstanden, in jedem Falle aber regelhaft sein müssen, wenn die Hypothesen stimmen. Die Erhärtung der Schlußfolgerungen verlangt die Beobachtung weiterer Tatsachen, die wiederum nur an Texten festgestellt werden können, usw., so daß Regularitäten (d.h. Befunde, deren Zustandekommen nicht mehr mit dem Zufall erklärbar ist) umso klarer hervortreten, je größer die untersuchte Textmenge ist. Darüber hinaus erlaubt erst die quantifizierende Behandlung exakte, numerische Angaben über den jeweiligen Grad der Unsicherheit mit dem diese Aussagen gemacht werden21.

Man kann daher allgemein formulieren, daß die Untersuchung nicht einzelner sondern einer Menge von Texten immer dann notwendig ist, wenn es um die Beschreibung und Analyse von sie konstituierenden Regularitäten geht, die ihrerseits einer Vielzahl von im einzelnen nicht kontrollierbaren (historischen, sozialen, edukativen etc.) Einflußgrößen unterliegen.

Es bleibt aber gleichwohl festzuhalten, daß der Analyseprozeß selbst einer großen Menge von Texten nicht die in den Lernprozessen der Sprachteilhaber angesammelten Kenntnisse simulierend aufzuarbeiten vermag, da diese eine vergleichsweise sehr viel größere Menge sprachlicher Interaktionen einschließen. jede textwissenschaftliche Analyse steht daher von vornherein vor der Aufgabe, anhand eines nur ausschnitthaft zugänglichen Untersuchungsgegenstands intersubjektiv nachprüfbare Aussagen zu machen, d.h. zu vernünftigen Entscheidungen zu kommen trotz Unvollständigkeit oder Unsicherheit der vorhandenen Informationen im Hinblick auf ihr jeweils angestrebtes Untersuchungsziel. Die hierin weisende wechselseitige Abhängigkeit von Ziel und Gegenstand mengenorientierter Textuntersuchungen ist daher vor dem Hintergrund Statistik als Methode zu präzisieren.


3.2  Um die Interdependenz von Ziel und Gegenstand einer Untersuchung einerseits, von Grundgesamtheit und zufälliger Stichprobe andererseits als wechselseitig abbildbaren Zusammenhang zu verdeutlichen, soll zunächst ein Beispiel aus dem merkantilen Bereich gegeben werden, in dem statistische Verfahren seit langem erfolgreich, Anwendung finden.

Eine bei einem Grossisten eingegangene Warensendung, die aus einer großen Menge elektrischer Sicherungen besteht, sei daraufhin zu prüfen, ob sie der bei der Bestellung vereinbarten Qualitätsnorm entspricht. Um feststellen zu können, ob eine Sicherung diese Norm erfüllt, muß ihre Funktion geprüft werden, was mit der Zerstörung der Sicherung verbunden ist. Der Grossist prüft aus diesem Grunde nicht die ganze Warensendung (Grundgesamtheit), sondern nur einige wenige Sicherungen (Stichprobe), um aus deren Beschaffenheit auf die der ganzen Sendung zu schließen. Sein Untersuchungsziel ist es demnach, eine Aussage über eine Eigenschaft (Belastbarkeit der Sicherungen) der Grundgesamtheit zu machen, obwohl ihm als Untersuchungsgegenstand nur eine Stichprobe aus dieser Grundgesamtheit zur Verfügung steht. Um die mit solchen Aussagen notwendigerweise verbundene Unsicherheit quantitativ angeben zu können, wählt er die zu prüfenden Sicherungen (Stichprobe) nach einem Zufallsverfahren aus, das dadurch gekennzeichnet ist, daß es bei genügend häufiger Wiederholung am Ende sämtliche Sicherungen der ganzen Sendung (Grundgesamtheit) erfassen würde; anders ausgedrückt: mit zunehmendem Stichprobenumfang werden sich die aus den Stichproben ermittelten Beschreibungsgrößen immer weniger von denen der Grundgesamtheit unterscheiden.

Bei der sinnvollen Anwendung statistischer Methodik in der Textwissenschaft stellt sich analog hierzu die Interdependenz von Ziel und Gegenstand einer Untersuchung unter einem neuen Aspekt dar. Wenn die aufgrund eines -- wie gezeigt worden ist -- nur begrenzt zugänglichen Ausgangsmaterials gewonnenen Informationen Aufschluß geben sollen über regelhafte Bedingungen oder Gesetzmäßigkeiten, die nicht nur für die tatsächlich analysierte Menge von Texten sondern möglicherweise darüber hinaus gültig sind, dann ist zu fordern, daß die einer Untersuchung als Ausgangsmaterial zugrundegelegte Textmenge sich als zufällige Stichprobe aus einer Grundgesamtheit muß deuten lassen. Die Frage nach der Zufälligkeit der Stichprobe ist dabei nur operational, die Frage nach der Grundgesamtheit nur vom Untersuchungsziel her zu beantworten.

Die Zufälligkeit einer Stichprobe läßt sich als diejenige Operation der Abgrenzung eines Untersuchungsgegenstandes (Textmenge) definieren, die bei -- im Prinzip beliebig häufiger -- Wiederholung auf eine Grundgesamtheit hin konvergiert. Eine Bestimmung dieser Grundgesamtheit -- die im textwissenschaftlichen Bereich im allgemeinen fiktiv sein wird, da sie ja alle Texte umfassen müßte, die tatsächlich entstanden sind und hätten entstehen können -- läßt sich nur über die Formulierung eines Untersuchungszieles vornehmen. Denn aus der Sicht der Statistik ist ein Untersuchungsziel identisch mit dem Vorhaben, intersubjektiv nachprüfbare Aussagen über eine Grundgesamtheit zu machen aufgrund einer daraus entnommenen zufälligen Stichprobe, die den Untersuchungsgegenstand bildet.

Dieser Zusammenhang läßt sich am Beispiel einer mengenorientierten Textanalyse der deutschen Studentenlyrik22 verdeutlichen.

Die Abgrenzung der Menge der praktisch zu analysierenden Texte geschah aufgrund extra-linguistischer (historischer und soziologischer) Merkmale, die allen diesen Texten gemeinsam sind: ihre Autoren bilden eine soziologisch definierbare Gruppe (17- bis 27jährige Studenten), ihre Publikationsform ist im allgemeinen der Musenalmanach , ihre Entstehungszeit als Grundlage historischer Differenzierungen ist bekannt. Der so abgegrenzte Untersuchungsgegenstand ließ sich als zufällige Stichprobe aus der Menge all jener Gedichttexte verstehen, die von den Studenten jemals geschrieben wurden bzw. jemals hätten geschrieben werden können (Fiktivität der Grundgesamtheit). Damit war bei einer textstatistischen Untersuchungsmethode gleichzeitig auch das Untersuchungsziel präzisierbar: nämlich die diese Grundgesamtheit strukturierenden Regelhaftigkeiten (die einer Vielzahl im einzelnen nicht kontrollierbaren Einflußgrößen unterliegen), intersubjektiv nachprüfbar zu beschreiben und in ihrem historischen Wandel zu bestimmen. Die gleiche Textmenge als Untersuchungsgegenstand erschiene dagegen dann als nicht-zufällige Stichprobe, wenn das Untersuchungsziel und damit die Grundgesamtheit etwa die deutsche Lyrik dieser Zeit schlechthin beträfe, weil die Hinzunahme weiterer Stichproben nach den gleichen Abgrenzungsprinzipien niemals die deutsche Lyrik dieser Zeit erfassen könnte.

So stellt sich für die mengenorientierte Textwissenschaft die statistische Methodenfrage in jeweils doppelter Weise:

a) welche Untersuchungsziele können über eine mengenorientiert-textstatistische Analyse an einem vorliegenden Untersuchungsgegenstand sinnvoll angegangen (und gelöst) werden?

b) welcher Untersuchungsgegenstand muß zugänglich sein, wenn ein angestrebtes Untersuchungsziel über eine mengenorientiert-textstatistische Analyse sinnvoll soll angegangen (und gelöst) werden können?

Daraus erhellt, daß selbst ein mit größtem Aufwand durchgeführtes textstatistisches Analyseverfahren solange textwissenschaftlich irrelevant bleibt, wie eine Abgrenzung und Definition der Menge der untersuchten Texte die Interdependenz von Erkenntnisziel und Erkenntnisgegenstand nicht reflektiert und auf den die statistische Methodik konstituierenden wechselseitigen Zusammenhang von Zufälligkeit einer Stichprobe und Fiktivität ihrer Grundgesamtheit abbildet.

Statistik kann man nicht im Stile von Kochrezepten verwenden. [...] Wir müssen erkennen, daß Statistik ohne ein gutes Verständnis der jeweiligen Stoffe, auf die sie angewandt wird, nicht ausgenutzt werden kann. Ein Statistiker, der [textwissenschaftliche] Daten aufzuarbeiten hat, muß die Sprache und die Aufgaben der [Textwissenschaft] verstehen. Ohne ein solches Verständnis wird er nur allzu leicht Trivialitäten von sich geben, die zwar technisch glatt sind, aber zur Erkenntnis der Materie wenig beitragen. Umgekehrt kann sich der [Textwissenschaftler] ohne ein Verständnis des statistischen Verfahrens sehr leicht in allerlei ungeschickte, unpraktische und sinnlose Versuche verwickeln, die ihm keine Beweise für seine Probleme liefern, sondern ihn auch noch zu falschen Schlüssen verleiten. Die Geschicklichkeit und das Fachwissen des Statistikers und des [Textwissenschaftlers] müssen sich also vereinigen. [...] Eine solche [interdisziplinäre] Zusammenarbeit nimmt den beiden Partnern die Verpflichtung nicht ab, beide Wissenschaften jedenfalls zu verstehen; sie entlastet sie nur von der Notwendigkeit, zwei Spezialgebiete in allen Einzelheiten zu kennen23.

4. Zusammenfassung

Die Übertragung empirischer Erkenntnismodelle auf Sprache und auf Texte und die damit verbundene Anwendung mengenorientierter, vornehmlich mathematisch-statistischer Verfahrensweisen in der Textwissenschaft entspringt nicht einer zufälligen und eher spielerischen Verbindung zweier im Grunde unvereinbarer Bereiche, sondern sie ist sachlich begründet in der kommunikationstheoretisch beschreibbaren Ausgangslage dieser Wissenschaft. Dabei kann die statistische Analyse großer Textmengen den Informations-Notstand methodisch zu überwinden helfen, in den -- angesichts gerade auch historischer Fragestellungen -- der extern beobachtende Textwissenschaftler seinem Gegenstandsbereich gegenüber gerät, der ihm nur ausschnitthaft zugänglich ist.


Footnotes:

* Erschienen in: Gunzenhäuser, R. (Hrsg.): Mathematisch orientierte Textwissenschaft (Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 8), Frankfurt/M. (Athenäum) 1972, S. 11-28

1Popper, K.R.: Logik der Forschung (1934), Tübingen (4. verb. Auflage) 1971, S. 14.

2 Ein empirisch-wissenschaftliches System muß an der Erfahrung scheitern können.  (Popper, a.a.O., S. 15).

3 Als operationalistisch oder operativ werden [...] alle die Richtungen der Wissenschaftstheorie, Wissenschaftsphilosophie und der Wissenschaft selber bezeichnet, die die jeweilige Wissenschaft, mit der sie sich beschäftigen, primär als ein System menschlicher Handlungen interpretieren, so daß der eigentliche wissenschaftstheoretische Grundbegriff nicht eine ,Realität' gleich welcher Art ist, sondern der der Operation - auf formalem oder empirischem Gebiet. Eine unmittelbare Konsequenz eines derartigen Ansatzes ist es, daß die wissenschaftlichen Objekte nicht mehr als ,an sich' existierend aufgefaßt werden, sondern daß sie erst durch die spezifische Art des wissenschaftlichen Zugriffs konstituiert werden.  (Klüver, J.: Operationalismus. Kritik und Geschichte einer Philosophie der exakten Wissenschaften, Stuttgart/Bad Cannstatt 1971, S. 11).

4vgl. Fucks, W.: Über den Gesetzesbegriff einer exakten Literaturwissenschaft, erläutert an Sätzen und Satzfolgen  in: LiLi 1-2 (1971) 113-137, bes. S. 113 ff.

5 Daß also etwas geschieht, ist eine Wahrnehmung, die zu einer möglichen Erfahrung gehöret, die dadurch wirklich wird, wenn ich die Erscheinung, ihrer Stelle nach, in der Zeit, als bestimmt, mithin als ein Objekt ansehe, welches nach der Regel im Zusammenhange der Wahrnehmungen jederzeit gefunden werden kann.  (Kant, I.: Critik der reinen Vernunft (1781; 1787), Theorie-Werkausgabe Bd. III, hrsg v. W. Weischedel, Wiesbaden 1956, S. 235; A S. 199; B S. 200)

6 Nur dort, wo gewisse Vorgänge (Experimente) auf Grund von Gesetzmäßigkeiten sich wiederholen, bzw. reproduziert werden können, nur dort können Beobachtungen, die wir gemacht haben, grundsätzlich von jedermann nachgeprüft werden. Sogar unsere eigenen Beobachtungen pflegen wir wissenschaftlich nicht ernst zu nehmen, bevor wir sie nicht selbst durch wiederholte Beobachtungen oder Versuche nachgeprüft und uns davon überzeugt haben, daß es sich nicht nur um ein einmaliges ,zufälliges Zusammentreffen' handelt, sondern um Zusammenhänge, die durch ihr gesetzmäßiges Eintreffen, durch ihre Reproduzierbarkeit grundsätzlich intersubjektiv nachprüfbar sind.  (Popper, a.a.O., S. 19)

7 Die Objektivität der wissenschaftlichen Sätze liegt darin, daß sie intersubjektiv nachprüfbar sein müssen.  (Popper, a.a.O., S. 18)

8 Die positive Entscheidung bei Verifikation der Folgerungen kann das System immer nur vorläufig stützen; es kann durch spätere negative Entscheidungen bei Falsifikation der Folgerungen immer wieder umgestoßen werden. Solange ein System hypothetischer Sätze eingehenden und strengen deduktiven Nachprüfungen standhält und durch die fortschreitende Entwicklung der Wissenschaft nicht überholt wird, sagen wir, daß es sich bewährt.  (Popper, a.a.O., S. 8)

9 Man überprüft die Theoriesysteme, indem man aus ihnen Sätze von geringerer Allgemeinheit ableitet. Diese Sätze müssen ihrerseits, da sie intersubjektiv nachprüfbar sein sollen, auf die gleiche Art überprüfbar sein - usw. ad infinitum. [... ] Aber wir wollen schon hier bemerken, daß in diesem Umstand einer praktisch ja nicht ad infinitum fortsetzbaren Nachprüfung kein Widerspruch gegen die von uns postulierte Nachprüfbarkeit jedes wissenschaftlichen Satzes liegt. Wir fordern ja nicht, daß jeder Satz tatsächlich nachgeprüft werde, sondern nur, daß jeder Satz nachprüfbar sein soll; anders ausgedrückt: daß es in der Wissenschaft keine Sätze geben soll, die einfach hingenommen werden müssen, weil es aus logischen Gründen nicht möglich ist, sie nachzuprüfen.  (Popper, a.a.O., S. 21).

10Leinfellner, W.: Struktur und Aufbau wissenschaftlicher Theorien, Wien 1965; ders.: Einführung in die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie (BI-Tb. 41/41a), Mannheim 1967; Stegmüller, W.: Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie - Bd. I: Wissenschaftliche Erklärung und Begründung, Berlin 1969, Bd. II: Theorie und Erfahrung, Berlin 1970.

11Schmidt, S.J.: Literaturwissenschaft als Forschungsprogramm  in: LuD 4 (1970), S. 270.

12Vgl. etwa: Baumgärtner, K.: Der methodische Stand einer linguistischen Poetik  in, Jahrb. f. Intern. Germanistik, Jg. 1, Bad Homburg 1969 S. 15-43; Brinker, K.: Aufgaben und Methoden der Textlinguistik. Kritischer Überblick über den Forschungsstand einer neuen linguistischen Teildisziplin  in: WW 4 (1971) 217-237; Breuer, D.: Vorüberlegungen zu einer pragmatischen Textanalyse  in: WW 1 (1972) 1-23; Fischer, W.L.: Mathematik und Literaturtheorie. Versuch einer Gliederung  in: SitZ 34 (1970) 106-120; Ihwe, J.: Linguistik und Literaturwissenschaft: Bemerkungen zur Entwicklung einer strukturalen Literaturwissenschaft  in: LB 3 (1969) 30-44; ders.: Ein Modell der Literaturwissenschaft als Wissenschaft  in: LiLi 1-2 (1971) 153-190; ders.: Linguistik in der Literaturwissenschaft. Zur Entwicklung einer modernen Theorie der Literaturwissenschaft (Grundfragen der Literaturwissenschaft 4), München 1971; Ingendahl, W.: Zur Metaphorik als Grundlage einer linguistischen Poetik  in: Jahrb. f. Intern. Germanistik, Jg. 2, Frankfurt/M. 1970, S. 125-143; Jauß, H.R.: Paradigmawechsel in der Literaturwissenschaft  in: LB 3 (1969) 44-56; Leibfried, E.: Kritische Wissenschaft vom Text. Manipulation, Reflexion, transparente Poetologie, Stuttgart 1970; Schmidt, S.J.: Literaturwissenschaft als Forschungsprogramm. Hypothesen zu einer wissenschaftstheoretischen Fundierung einer kritischen Literaturwissenschaft (Teil I und II)  in: LuD 4 (1970) 269-282, 5 (1971) 43-59; ders.: Allgemeine Textwissenschaft. Ein Programm zur Erforschung ästhetischer Texte  in: LB 12 (1971) 10-21; Stempel, W.D. (Hrsg.): Beiträge zur Textlinguistik, München 1971; Stroszeck, H.: Literaturwissenschaft und Kommunikationswissenschaft  in: Beiträge zu den Sommerkursen 1971. Goethe-Institut, Rosenheim (1972), S. 89-103; Wienold, G.: Formulierungstheorie - Poetik - Strukturelle Literaturgeschichte: am Beispiel altenglischer Dichtung, Frankfurt/M. 1971; ders.: Textverarbeitung. Überlegungen zur Kategorienbildung in einer strukturalen Literaturgeschichte  in: LiLi 1-2 (1971) 59-89; Wunderlich, D.: Pragmatik, Sprechsituation, Deixis  in: LiLi 1-2 (1971) 153-190.

13Nämlich die Erweiterung auf sprachliche Kommunikationsprozesse, innerhalb derer das sprachliche Kunstwerk nur einen extremen Sonderfall darstellt.

14Nämlich die Reduktion auf intersubjektiv nachprüfbare Beschreibung und Analyse derjenigen Bedingungen und Faktoren, die sprachliche Kommunikationsprozesse ermöglichen und beeinflussen.

15Meyer-Eppler, W.: Grundlagen und Anwendungen der Informationstheorie (Kommunikation und Kybernetik in Einzeldarstellungen, Bd. 1), Berlin/Heidelberg/New York (2. Auflage) 1969, S. V.

16 Der Elementarvorgang der Kommunikation wird durch die Kommunikationskette schematisch dargestellt. Von besonderem Interesse ist der Spezialfall, in dem Sender und Empfänger Menschen bzw. Gruppen von Menschen sind und die Kommunikation mit Hilfe der (geschriebenen oder gesprochenen) natürlichen Sprache stattfindet. Kommunikation dieser Art ist Gegenstand der Kommunikationsforschung, die sich vor allem als Anwendung der Informationstheorie auf die Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft herausgebildet hat.  (Klaus, G..- Wörterbuch der Kybernetik 1, Frankfurt/M. 1969, S. 305 f)

17Meyer-Eppler, a.a.O., S. 5 f

18Bense, M.: Programmierung des Schönen. Allgemeine Texttheorie und Textästhetik (aesthetica IV), Baden-Baden/Krefeld 1960, S. 78

19Es kann daher hier nicht um die Bedeutung selbst gehen, sondern einzig um die Beschreibung solcher Regularitäten, die als textmaterial feststellbare Korrelate kommunikativer Funktionen das Zustandekommen von Bedeutung erst ermöglichen.

20Wallis, W. A./Roberts, H. V.: Statistics. A New Approach, Glencoe, Ill. (USA) 1956; deutsch: Methoden der Statistik, (Freiburg 1960) Reinbek 1969, S. 12

21 Eine Hypothese gilt in diesem Sinne als geprüft, soweit der Einfluß des Zufalls im Beweismaterial korrekt gedeutet worden ist. Wir verfügen über statistische Verfahren, die das Risiko inkorrekter Deutung objektiv, in numerischen Ausdrücken von Wahrscheinlichkeiten, zu messen erlauben; anders ausgedrückt, die die Risiken von fehlerhaften Schlußfolgerungen messen  (Wallis/Roberts, a.a.O., s. 5)

22Rieger, B.: Wort- und Motivkreise als Konstituenten lyrischer Umgebungsfelder. Eine quantitative Analyse semantisch bestimmter Textelemente.  in: LiLi 4 (1971) 23-41.

23Wallis/Roberts, a.a.O., S. 9