Burghard Rieger
Ihr Erkenntnisinteresse richtet sich - im Gegensatz zur traditionellen Literatur- und Dichtungswissenschaft - auf die Beschreibung und Analyse der gesellschaftlichen und/oder historischen Bedingungen solcher Prozesse, die sprachliche Kommunikation im weitesten Sinne ermöglichen, steuern und vermitteln.
2. Textwissenschaft ist eine o p e r a t i o n a l e Wissenschaft.
Ihre Grundlagen sind - wissenschaftstheoretisch gesprochen - nicht Essenzialia oder Realitäten gleich welcher Art, deren Eigenschaften und Strukturen 'an sich' feststehen, sondern stellen Operationen, Prozesse und Handlungsabläufe dar, deren Konstitution eine wissenschaftliche Zuwendung selbst erst bewirkt2. Die Erforschung von Sprache und deren fixierten auch historischen - Erscheinungsformen (Texte) kann daher nicht unter Absehung von jenen Bedingungen erfolgen, welche diese als Erkenntnis-Gegenstand allererst ermöglichen: die jeweils konstitutiven (gesellschaftlichen und/oder historischen) kommunikativen Kontexte.
3. Für die Textwissenschaft ist eine echte I n t e r d i s z i p l i n a r i t ä t charakteristisch.
Neben den bisher schon Sprache entweder thematisierenden oder aber sprachliche Zeugnisse - und die in ihnen vermittelten Informationen - verarbeitenden Geistes- und Gesellschaftswissenschaften werden in zunehmendem Maße mathematische und naturwissenschaftliche Disziplinen einbezogen werden können. Aufgrund der einheitlichen (operationalen) wissenschaftstheoretischen Fundierung bleibt Kooperation nicht bloß verbalisiertes Bekenntnis, sondern wird konkrete, methodologisch sinnvolle Wissenschaftspraxis.
4. Bei der Übertragung informations- und kommunikationstheoretischer Vorstellungen auf textwissenschaftliche Problemstellungen führt die Interdependenz von Erkenntnisabsicht und Erkenntnisziel zur Konsequenz einer neuen operationalen E r k e n n t n i s m e t h o d i k.
Anhand der beiden kommunikationstheoretischen Schemata der Beobachtungskette (Abb. 1) und der sprachlichen Kommunikationskette (Abb. 2) erhellt die informationstheoretische Ausgangslage des textwissenschaftlichen Ansatzes als eine Beobachtungskette, deren Signalquelle eine sprachliche Kommunikationskette bildet (Abb. 3). Damit befindet sich der Textwissenschaftler in einem Informations-Notstand angesichts der Aufgabe, intersubjektiv nachprüfbare Aussagen über einen Gegenstandsbereich (Sprachliche Kommunikationsprozesse) zu machen bei nur beschränkt zugänglichen Informationen (Textmaterial). Genau hier erhält die S t a t i s t i k ihre methodologische Bedeutung als Zusammenfassung von Methoden, welche es erlauben, im Falle von unvollkommenem Informationsstand verläßliche Aussagen zu machen.
5. Textwissenschaft versucht in der m e n g e n o r i e n t i e r t e n Analyse einer Vielzahl kommunikationstheoretisch h o m o g e n e r Texte, die Bedingungen der diese Texte konstituierenden Kommunikationsprozesse intersubjektiv nachprüfbar zu beschreiben und zu analysieren.
Im Gegensatz zur traditionellen Literaturwissenschaft, welche die Singularität und Individualität ihres Forschungsgegenstandes 'Dichtung' unter Absehung von den sie erst konstituierenden gesellschaftlich-historischen Faktoren zu erweisen suchte, definieren textwissenschaftliche Untersuchungen ihren Forschungsgegenstand als eine Menge von Texten, die ihrerseits gegliederte Mengen zeichentragender Elemente bilden und als textmateriale Zwischenglieder sprachlicher Kommunikationsketten beschrieben und analysiert werden können. Die Definition der Homogenität solcher in einer textwissenschaftlichen Untersuchung zu analysierender Textmengen erfolgt aufgrund kommunikationstheoretischer Merkmale (gleiche Autorengruppe, gleicher medialer Ort, gleiche Leserzielgruppe etc.), womit gleichzeitig das jeweils anzugehende historisch und/oder gesellschaftlich bestimmte Forschungsziel präzisiert wird.
6. Anhand eines konkreten Beispiels lassen sich einige
textwissenschaftliche Untersuchungsschritte vorführen, welche
semantische Zuordnungsbeziehungen zu analysieren versuchen in der
Erkenntnis, daß diese - in Abhängigkeit von historischen und
gesellschaftlichen Faktoren - eine entscheidende Voraussetzung
kommunikativer Prozesse bilden. Das Ausgangsmaterial bildet die
deutsche Studentenlyrik des 19 und 20. Jahrhunderts.
6.1 Die informationstheoretische Ausgangslage (Abb. 3)
zwingt den textwissenschaftlichen Analysator, die durch Befragung
von Autoren (Studenten des 19. Jhs.) A und Leser (Lesepublikum
des 19. Jhs.) L unmittelbar nicht zugänglichen
Informationen über das Expedienten- bzw. Perzipienten-Glied und
deren Repertoires V1 und V2 (Abb. 2) mittelbar über
zugängliches Ausgangsmaterial T zu gewinnen.
6.2 Da allein das textmateriale Zwischenglied (Text des
Studentengedichts) als konkret vorliegendes und objektiv
zugängliches Zeugnis eines zwischen Autor und Leser tatsächlich
abgelaufenen oder zumindest doch intendierten
Kommunikationsprozesses für dessen Untersuchung zur Verfügung
steht, ist die Analyse dieses primären Materials T der Analyse
anderer Informationsquellen (z.B. Sekundärliteratur) vorrangig.
6.3 Die Untersuchung nicht e i n z e l n e r sondern
einer M e n g e (rund 3000) solcher textmaterialer
Zwischenglieder ist deswegen notwendig, da es um die Beschreibung
von sie konstituierender Variablen (semantische
Zuordnungsbeziehungen) geht, die ihrerseits einer Vielzahl von im
einzelnen nicht kontrollierbarer Einflußgrößen unterliegen.
6.4 Die Forderung der kommunikationstheoretischen H o m
o g e n i t ä t der zu untersuchenden Texte wird im vorliegenden
Falle durch die relativ hohe Homogenität der Autorengruppe
(17-27jährige Studenten an deutschen Hochschulen) erfüllt, womit
der Gültigkeitsbereich der erbrachten Forschungsresultate
präzisiert ist.
6.5 Die Analyse selbst hat den Charakter eines E x p e r
i m e n t s , d. h. sie ist derart operational aufgebaut, daß die
in ihr vorgenommenen Analyseschritte3 intersubjektiv
nachprüfbar sind. Hierdurch erst läßt sich das Analyseverfahren
effektiv beurteilen, insofern seine Resultate auf ihren
Informationsgehalt hin kontrollierbar sind und gegebenenfalls
verworfen werden können.
6.6 Die als Resultat solchen Vorgehens für drei
Zeitschnitte (1840-1900-1960) operational definierten s e m a n
t i s c h e n U m g e b u n g s f e l d e r einer Vielzahl von
Worten, Begriffen oder Motiven (Beispiel Abb. 4) setzen sich
zusammen aus einem Startmotiv (STRAHLEN) und seinen Zielmotiven
(STERN, BILD, HIMMEL, SONNE etc.), wobei die Intensität ihrer
Zuordnungsbeziehungen m e ß b a r (Affinität = positiver Wert,
Repugnanz = negativer Wert) und zur Grundlage der Erstellung des
Umgebungsfeldes jedes Zeitschnitte gemacht wurde. Die
Gegenüberstellung synchroner Einzelanalysen erlaubt dabei ihren
diachronen Vergleich.
7. Die Konsequenzen textwissenschaftlicher Analysen für
den Literaturunterricht sind im einzelnen noch nicht abzusehen.
Die Tatsache, daß die Methoden einer Wissenschaft nicht auch die Methoden der Vermittlung dieser Wissenschaft (im Unterricht) sein müssen, könnte für das Verhältnis von Textwissenschaft und Literaturunterricht bedeuten, daß textwissenschaftliche Resultate als Zusammenfassung relevanter Informationen über solche Bereiche dienen könnten, welche im einzelnen zu erarbeiten nicht Aufgabe des Lehrers sein kann. Vielmehr sollte Textwissenschaft ihm stichhaltige, leicht benutzbare Informationsgrundlagen liefern, mit denen im Literatur-Unterricht gearbeitet werden kann.
So ist im vorliegenden Fall geplant, die semantischen Umgebungsfelder in einem Synoptischen Affinitäts-Lexikon (SAL) zugänglich zu machen4, womit sich für den Benutzer die Möglichkeit ergäbe, verläßliche Informationen bei der Einarbeitung in das zeitabhängige sich verändernde Repertoire zunächst des sog. lyrischen Ausdrucks übersichtlich zur Verfügung zu haben. Denn gerade die Kenntnis der Beschaffenheit eines zu einer Zeit von bestimmten Autoren und Lesergruppen benutzten Vokabulares und Repertoires, dessen Aufbau, Gliederung und Struktur, ist wesentliche Voraussetzung dafür, hinsichtlich sprachlicher Kommunikationsprozesse und der auf sie einwirkenden Faktoren nicht nur Behauptungen, sondern nachprüfbare Aussagen machen zu können. Es ist nicht einzusehen, weshalb zwar im Mathematikunterricht die Benutzung einer Logarithmen-Tafel nicht nur als zulässiges sondern notwendiges Hilfsmittel gilt, während die Benutzung eines strukturell ähnlichen Hilfsmittels (Affinitäts-Lexikon) im Literaturunterricht als utopisch und dem Gegenstandsbereich unangemessen abgelehnt werden sollte. Mit einer - wissenschaftstheoretisch gesprochen operationalen Fundierung der Textwissenschaft ändert sich nicht nur die Forschungsmethodik sondern auch das Forschungsergebnis: es ist nicht länger mehr die im Behauptungsverfahren sich legitimierende Tradierung habitualisierter Wert- und Überzeugungsfixierungen, sondern Zusammenstellung benutzbarer, weil falsifizierbarer d. h. intersubjektiv nachprüfbarer Informationen mit klar definiertem Gültigkeits- und Anwendungsbereich.
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1Erschienen in: Protokollband Nr. 1846 des Hessischen Instituts für Lehrerfortbildung, Reinhardswaldschule, Kassel 1972, S.12-20.
1Schmidt, S. J.: Literaturwissenschaft als Forschungsprogramm. Hypothesen zu einer wissenschaftstheoretischen Fundierung einer kritischen Literaturwissenschaft. In: Linguistik und Didaktik, 4 (1970) 269-281; 5 (1971) 43-59, S. 270.
2Klüver, J.: Operationalismus. Kritik und Geschichte einer Philosophie der exakten Wissenschaften, Stuttgart/Bad Cannstatt (Frommann-Holzboog) 1971, bes. S. 9-21.
3Rieger, B.: Poetae Studiosi. Analysen studentischer Lyrik des 19. und 20. Jhs. - ein Beitrag zur exaktwissenschaftlichen Erforschung literarischer Massenphänomene. Frankfurt/M. (Vowinckel) 1970.
4Rieger, B.: Über die Erstellung eines Synoptischen Affinitäts-Lexikons (SAL) . In: Literatur und Datenverarbeitung. Bericht über die Tagung im Rahmen der 100-Jahrfeier der RWTH Aachen, Hrsg. H. Schanze, Tübingen 1971