Burghard Rieger

Rieger: Bedeutungskonstitution

Bedeutungskonstitution
Einige Bemerkungen zur semiotischen Problematik eines linguistischen Problems1

Abstract

The set-up of recent theories both in the sciences and the humanities tend to exhibit new epistomological characteristics one of which is their increasingly `semiotic' tendency. Its most prominent feature can be described as the absence of a clearly cut distinction between what is believed to be factual reality which hence may (or may not) be observed and analysed, as opposed to those phenomena which are considered to be in fact constituted only by the very process of experience, observation or analysis. Some advanced theories of linguistic semantics prove to be border-line cases in this respect, failing, however, to topicalize the basic (semiotic) aspect of any (natural or formal) language's usage, namely `semantisation'. Paradigmatically enacted in verbal communication, the notion of semantisation is introduced as a continuous process of choice restriction constituting `meaning' by gradually increasing acuity from one semiotic dimension to the other (pragmatics - semantics - syntactics - phonetics) successively.

lt is argued that any system modelling this process has to have both, formally and empirically adequate means to cope with problems of (phonetic) variety, (syntactic) ambiguity, and (semantic) vagueness. Fuzzy sets theory together with procedures of statistical text-analysis serve these purposes comprehensively, giving rise to a new type of theory that allows semiotic (and as such, essentially fuzzy) phenomena to be modelled or emulated without distortion in a precise way.

1.  

Wenn in der Entwicklung einer Naturwissenschaft ein Einzelner oder eine Gruppe erstmalig eine Synthese hervorbringt, die in der Lage ist, die meisten Fachleute der nächsten Generation anzuziehen, verschwinden allmählich die alten Schulen. Zum Teil wird ihr Verschwinden durch den Übertritt ihrer Mitglieder zum neuen Paradigma verursacht [...] Jene, die ihre Arbeit nicht anpassen wollen oder können, müssen allein weitermachen oder sich einer anderen Gruppe anschließen. Historisch gesehen, sind sie oft einfach in den Gehegen der Philosophie geblieben, aus denen so viele Spezialwissenschaften hervorgegangen sind [...] Bei den Wissenschaften [...] waren die Entwicklung von Fachzeitschriften, die Gründungen von Fachvereinigungen und die Beanspruchung eines besonderen Platzes im Lehrplan gewöhnlich mit der Annahme eines ersten verbindlichen Paradigmas durch die Gruppe verbunden. (Kuhn 1973, S. 39f)

Wollte man versuchen, die Veränderungen und Modifikationen der Ansätze und Aufgabenstellungen auch in jenen Disziplinen nachzuzeichnen, die - weil mit der natürlichen Sprache als Gegenstand und/oder Medium ihrer Aktivitäten befaßt - den ,,Gehegen der Philosophie'' ohnehin näherstehen als die Naturwissenschaften, so würden sich vermutlich zahlreiche Belege für eine möglicherweise Wissenschaft-übergreifende Tendenz finden lassen. Anerkennt man weiterhin die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Semiotik (DGS) 1976 innerhalb der International Association for Semiotic Studies (IASS) als ein Indiz - im Sinne Kuhns - für die Annahme eines neuen Paradigmas, so könnte man diese übergreifende Tendenz - bei aller Vorläufigkeit einer solchen versuchsweisen Charakterisierung - als zunehmende Semiotisierung der Wissenschaften bezeichnen.

Damit ist zunächst jene eigentümliche Verschiebung des Forschungsinteresses gemeint, die sowohl die eher geisteswissenschaftlich-interpretierenden als auch die eher exakt wissenschaftlich-feststellenden Ansätze in den sprachthematisierenden Disziplinen zu verändern scheint. Deren Aufmerksamkeit wendet sich in wachsendem Maße auch solchen Phänomenenbereichen und Problemkomplexen zu, die sie - wie etwa die empirischen Grundlagen einerseits bzw. erkenntnistheoretischen Voraussetzungen andererseits - vordem noch ausklammern zu können geglaubt hatten.

Gleichzeitig ist die Bezeichnung aber auch gegen eine verbreitete Mißinterpretation dieser Verschiebung gerichtet. Danach erscheinen die genannten Veränderungen innerhalb der beiden auch wissenschaftstheoretisch unterschiedlichen Ansätze als eine beiderseitige Annäherung an die Fragen- und Aufgabenstellungen der jeweils anderen Position, die deren Integration unmittelbar ergäbe. Eine solche Deutung übersieht aber, daß die auch in anderen Disziplinen beobachtbaren Veränderungen, eher auf eine neue, dritte Position hinauslaufen, in der die derzeit sichtbaren Entwicklungen möglicherweise einmal konvergieren (vgl. Follesdal 1972).

Semiotisierung weist damit auch auf die mögliche Überwindung jener dichotomen Unterscheidung wissenschaftlicher Theorietypen (Von Wright 1971) hin, die keine bloße Vermengung intentional-mentalistischer und kausal-deterministischer Ansätze wird sein können. Vielmehr werden naturwissenschaftlich-physikalische Erklärungsmodelle, welche ,,Realität'' unter (möglichst weitgehender) Ausklammerung der Individualität des ,,erkennenden'' Subjekts als ein System empirischer Daten und deren Strukturzusammenhänge als Ursache-Wirkung-Beziehungen in nomothetischen Aussagen deuten, mit historisch-geisteswissenschaftlichen Erklärungssystemen zu vermitteln sein, welche in ideographischen Aussagen quasi singuläre Zusammenhänge zwischen solchen Gegebenheiten herstellen, für die eine (kognitive, soziale, historische, etc.) Intention der einzelnen ,,interpretierenden'' Subjekte gerade konstitutiv ist. Solche neuen Modellbildungen, die hier weder innerhalb einer Systematik der Modelltypen (Stachowiak 1965) charakterisiert noch logisch im metatheoretischen Rahmen einer Sneed-Matrix (Sneed 1972; Schnelle 1976; Finke 1977) rekonstruiert werden können, entwickeln sich bezeichnenderweise - wie z.B. die ,,Kopenhagener Deutung'' der Quantentheorie in der Physik - im Zusammenhang der Zeichen- und Erkenntnisproblematik der betreffenden Disziplin (Heisenbergs Unschärferelation). Dabei fällt auf, daß ihre vermittelnde Funktion diese Modelle vorerst nur als eigentümlich hybride Bildungen beschreiben läßt. Denn sie müssen sowohl als deskriptiv-analytisch gelten, insofern sie scheinbar noch zu unterscheiden gestatten zwischen Beobachtungsbasis (in der in vornehmlich quantitativen Ausdrücken empirisch zugängliche Daten beschrieben werden), der abstrakten Theorie (die in vornehmlich formalen Ausdrücken Beziehungen und Zusammenhänge kennzeichnet) und einen Verknüpfungsteil, der die Regeln enthält, nach denen die (quantitativen) Terme der Beobachtungssprache den (formalen) Termen der Theoriesprache zugeordnet werden. Diese Modellbildungen müssen - aber gleichzeitig auch als interpretativ-hermeneutisch gelten, insofern sie weder eine auf intersubjektiv Präzisierbares reduzierte Objektwelt noch eine auf eindeutige Subsumierbarkeit eingeschränkte Zusammenhangsstruktur schon voraussetzen. Denn durch ihren Verknüpfungsteil, dessen Regelapparat Zuordnungen von geringster (stochastischer) über regelhafter (probabilistischer) bis hin zu strengster (deterministischer) Abhängigkeit zuläßt, wird nicht nur die scharfe Trennung von ,,beobachtbaren Zusammenhängen'' und ,,zusammenhangstiftenden Beobachtungen'' aufgehoben, sondern es wird darüber hinaus die Notwendigkeit einer (kausal-deterministischen bzw. intentional-mentalistischen) Interpretation solcher Zusammenhänge überhaupt obsolet angesichts des ontologisch neutralen Verständnisses von Zuordnung, das diesen neuen Modellen zugrundeliegt und sie am ehesten wohl als funktional-probabilistisch charakterisieren läßt. Dabei braucht die These von der solche Modellbildungen fördernden zunehmenden Semiotisierung der Wissenschaften den Morrisschen Vorstellungen von der integrativen Rolle der ,,Semiotik'' nur in dem Maße entgegenzustehen, wie sie umgekehrt der Saussureschen Vorstellung vom Verhältnis der ,,Sémiologie'' zu den Wissenschaften überhaupt nahekommen dürfte.

Semiotic has a double relation to the sciences: it is both a science among the sciences and an instrument of the sciences. The significance of semiotic as a science lies in the fact that it is a step in the unification of science, since it supplies the foundations for any special science of signs, such as linguistics, logic, mathematics, rhetoric, and (to some extent at least) aesthetics [...] And since it will be shown that signs are simply the objects studied by the biological and physical sciences related in certain complex functional processes, any such unification of the formal sciences on the one hand, and the social, psychological, and humanistic sciences on the other, would provide relevant material for the unification of these two sets of sciences with the physical and biological sciences. Semiotic may thus be of importance in a program for the unification of science, though the exact nature and extend of this importance is yet to be determined (Morris 1971, S. 17f).
On a discuté pour savoir si la linguistique appartenait à l'ordre des sciences naturelles ou des sciences historiques. Elle n'appartient à aucune des deux, mais à un compartiment des sciences (qui, s'il n'existe pas, devrait exister sous le) nom de  s é m i o l o g i e, c'est-a-dire science des signes ou etude de ce qui se produit lorsque l'homme essaie de signifier sa pensée au moyen d'une convention nécessaire (Saussure 1974, N 24 a [3342.1]).

2.   Überblickt man die Theorienbildung zur Sprachbeschreibung in der Linguistik, so sind die Beschreibungs- und Repräsentationsmodelle, welche bisher entwickelt wurden - zur Formulierung und/oder Ableitung relevanter Aussagen über ,,physisch-psychische Grundlagen der Sprachproduktion und -rezeption, strukturelle Eigenschaften, kommunikative Funktion der Sprache, soziale Bedingungen und Konsequenzen der Sprachverwendung, geographische Verteilung und politische Bedingtheit von einzelsprachlichen Sprachbesonderheiten sowie von verschiedenen Sprachen, Sprachveränderungen, u.a.m.'' (Bartsch/Vennemann 1973, S. 34) -, mit wenigen Ausnahmen (z.B. Labov 1970; Suppes 1972; Klein 1974) durchweg noch ,,Zusammenhang-interpretierende'' Theorien im genannten Sinne. Und wenn nicht - wie die modelltheoretischen Ansätze in der formalen Linguistik -, dann fehlt diesen Modellen, die eine mathematische Technik zur Untersuchung bestimmter Eigenschaften formaler Systeme unmittelbar für die Untersuchung der natürlichen Sprache und ihrer Eigenschaften zu nutzen suchen (Potts 1975), eine empirische Komponente, welche durch Rückbindung an Erfahrungsbereiche die Erklärungsstärke dieser Ansätze und den Grad ihrer Bewährung und Anwendbarkeit erst abzuschätzen bzw. praktisch zu erproben gestattete.

Jede empirische Theorie bezieht sich [...] gleichzeitig auf einen gewissen Bereich von Erfahrungsobjekten. Die gewonnenen formalen Strukturen müssen daher interpretiert werden als Aussagen über tatsächliche oder mögliche Erfahrungen, die entweder unmittelbar oder mittelbar mithilfe von Meßeinrichtungen gewonnen werden können. Die formale Struktur der Theorie steht somit als ein (Abstraktions-)Modell, oder als ein Bild für die möglichen Zusammenhänge der Wirklichkeit. Die Beschreibungsstruktur rekonstruiert bzw. modelliert die Struktur des Beschriebenen (Wunderlich 1971, S. 93).

Darüber hinaus wird aber keine auch noch so umfassende Erweiterung des potentiell empirischen Gegenstandsbereichs einer formal-linguistischen Theorie allein - ohne gleichzeitige Entwicklung von Basis- und vor allem Verknüpfungsteil - sicherstellen können, daß ihre (abstraktiven) Modellbildungen damit auch schon als ,,funktional-probabilistisch'' im oben entwickelten Sinne zunehmender Semiotisierung werden gelten dürfen. Das läßt sich exemplarisch anhand der Entwicklung der generativen Grammatiktheorie als prominentem Teilbereich linguistischer Theorienbildung zur Sprachbeschreibung illustrieren, der - sehr skizzenhaft - etwa folgenden Zusammenhang erkennen läßt.

Im Rahmen der zunächst strikt syntaktisch konzipierten Theorie des ,,Standardmodells'' (Chomsky 1965), durch die - unter Voraussetzung des idealen Sprechers/Hörers als Repräsentanten einer homogenen Sprachgemeinschaft - das Vermögen zur Produktion (und zum Verstehen) wohlgeformter bzw. akzeptabler Sätze der natürlichen Sprache als eine konsistente Regelmenge formal rekonstruiert werden soll, wird deutlich, daß man nicht ohne gewisse semantische Zusatzinformationen (der Oberflächenstruktur) auskommt. Dieser Modifikation, die im ,,erweiterten Standardmodell'' (Chomsky 1971) noch als Komplettierung einer im übrigen autonomen, syntaktischen Tiefenstruktur gedacht ist, läuft die Entwicklung einer ausschließlich von der semantischen Basis her bestimmten Syntaxtheorie parallel: die ,,generative Semantik'' (McCawley 1968; Ross/Lakoff 1971) kann auf die ,,syntaktische'' zugunsten der ,,logischen'' Tiefenstruktur des Satzes verzichten, in der sie dessen Semantik unmittelbar repräsentiert. Etwa gleichzeitig aber war mit der ,,universalen Grammatik'' (Montague 1970) eine intensional-logisch motivierte formale Theorie vorgelegt worden, die nicht nur wie die generative Semantik eine Syntax so konstruiert, daß der semantische Aufbau der Sätze mit dem syntaktischen strukturgleich ist, sondern die mit der logischen Forderung, daß jede Semantik als Interpretationssemantik nicht nur Bedeutungen zuordnen, sondern die Wahrheitsbedingungen natürlichsprachlicher Sätze müsse formulieren können, auch pragmatische Zusammenhänge einzubeziehen beginnt. Dazu wird im Prinzip der (Carnapsche) Gedanke, wonach sich Intensionen von sprachlichen Ausdrücken als extensionsbestimmende Funktionen auf möglichen Welten konstruieren lassen, kontext-semantisch erweitert, indem neben die Menge I der möglichen Welten eine Menge J der möglichen Gebrauchskontexte tritt, so daß jedes Paar ái,j ñ als Referenzpunkt Argument von wahrheitswertfähigen Bedeutungsfunktionen sprachlicher Ausdrücke werden kann. Nicht schon die Interpretation einer Sprache, durch die jedem Ausdruck dieser Sprache eine Bedeutung zugeordnet wird, sondern erst die Rückbindung solcher Interpretation an Referenzpunkte im anwendungskontextuellen Modell ermöglicht es, in der pragmatisch fundierten Kontext-Semantik der Montague-Grammatik, Ausdrücken der natürlichen Sprache Wahrheitswerte zuzuordnen.

Die Entwicklung macht soweit deutlich, daß zur formal-adäquaten Beschreibung der Syntax beliebiger Sätze einer natürlichen Sprache offenbar schon semantische, und daß weiter zur logisch-adäquaten Charakterisierung der Semantik dieser Sätze offenbar schon pragmatische Bestimmungen hinzugenommen werden müssen.

Mit einer solchen - im Sinne etwa der Morrisschen Systematik -, schrittweisen Ausweitung des Gegenstandsbereichs von syntaktischen über semantische auf pragmatische Aspekte der natürlichen Sprache ist aber paradoxerweise verbunden, daß keine klare theoretische Unterscheidung zwischen Syntax und Semantik (wie in der ,,generativen Semantik'') und darüber hinaus zwischen Semantik und Pragmatik (wie in der ,,universalen Grammatik'') mehr möglich ist. Dieser Umstand hat nun dazu geführt, die Relevanz solcher Unterscheidung überhaupt anzuzweifeln (z.B. Wunderlich 1974, S. 261; Wimmer 1977), anstatt ihn als Resultat eines spezifischen (semiotischen) Mangels zu verstehen, der diesen theoretischen Ansätzen selbst anhaftet. Denn die Voraussetzung des idealen Sprechers/Hörers als dem Repräsentanten einer von aller individuellen Spezifik befreiten homogenen Sprachgemeinschaft wird ja nicht etwa schon durch den Kunstgriff der bloßen Hinzunahme einer Vielzahl anwendungskontextueller Indizes (Lewis 1972) wirklich überwunden, ebensowenig wie diese zusätzlichen pragmatischen Indizes geeignet sind, die durchgängig realistische Konzeption einer interpretativen (Übersetzungs-)Semantik, welche den zunächst ,,bedeutungslosen'' sprachlichen Elementen vor deren Verwendung ,,Bedeutungen'' als eigene, besondere Entitäten erst zuordnet, in ein semiotisches Modell zu überführen.

Beide Kennzeichen - Homogenitätshypothese und die Annahme einer Interpretationssemantik - lassen vielmehr erkennen, daß hier System als Strukturzusammenhang nicht im Modell konstituiert und beschrieben, sondern vom Modell schon vorausgesetzt wird, und daß ,,Bedeutung'' deswegen nicht als Leistung und Resultat solcher Systemkonstitution in den Blick kommen, sondern immer nur schon als deren Voraussetzung beschrieben und repräsentiert werden kann.

Alle linguistisch-semantischen theorien sind begrifflich nicht hinreichend ausgerüstet, um diese klasse kommunikativer phänomene adäquat analysieren zu können: sie sind im prinzip keine interaktionistischen, sondern sprachsystemorientierte theorien, die individuen höchstens als sprachproduzenten oder sprachrezipienten in jeweiliger isoliertheit, nicht aber als kommunikatives mehr-personen-system in rechnung stellen (Ungeheuer 1974, S. 4f).
Die [...] pragmatische Sprachauffassung sieht umgekehrt das Sprechen zunächst als eine besondere Weise des Handelns an, und zwar so, daß das sprachliche Handeln für die Bedeutung der verwendeten Ausdrücke konstitutiv ist. Demnach ist eine sprachliche Handlung (und sekundär dazu auch ein sprachlicher Ausdruck) genau dann bedeutungsvoll, wenn es einen Handlungszusammenhang gibt, in dem diese sprachliche Handlung eine sinnvolle Rolle spielen kann. Bedeutung konstituiert sich dieser Auffassung zufolge also erst im sprachlichen Handeln und ist nicht dessen Voraussetzung (Schneider 1975, S. 92).

3.   Im Mittelpunkt einer von der kommunikativen Funktion der natürlichen Sprache her bestimmten linguistischen Theorienbildung steht nicht die (formal rekonstruierbare) Fähigkeit des Menschen, wohlgeformte Zeichenketten (Sätze) bilden zu können, sondern die Frage nach deren (zunächst nur beschreibbaren) Bedingungen. Als deren Summe gilt sein praktisch-soziales Vermögen zu kommunikativem (sprachlichem wie nicht-sprachlichem) Handeln und Verhalten. Darauf aufbauende Neuansätze die nicht mehr im Hinblick auf ausschließlich Kompetenz-orientierte (Kontext-unabhängige) Syntaxmodelle nur Satzkonstruktionen, sondern tatsächliche Äußerungen bzw. ganze (ko- und kontextuelle) Äußerungszusammenhänge zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen machen, laufen - wenn überhaupt - auf Performanz-fundierte (Kontext-abhängige) Modellbildungen zwischen Semantik und Pragmatik hinaus (vgl. Kanngießer 1973).

Dabei kann einerseits auf eher verhaltenstheoretisch ausgerichtete Untersuchungen zurückgegriffen werden, wie sie in der Nachfolge von Mead, Morris oder Skinner in der frühen Sozio- und Psycholinguistik entstanden sind, andererseits kann auch auf den eher handlungstheoretisch ausgerichteten Bemühungen aufgebaut werden, wie sie nach der Rezeption von Grice, Austin und Searle inzwischen im Rahmen der Pragmalinguistik unternommen werden.

Hierzu bedarf es freilich eines semiotischen Konzepts, das als Funktion zu rekonstruieren erlaubt, was von tatsächlichen Sprechern/Hörern in konkreten Kommunikationssituationen vermöge sprachlicher Äußerungen intendiert und produziert bzw. erkannt und verstanden werden kann: Bedeutung als Prozeß zunehmender Einschränkung jeweils noch vorhandener Wahlmöglichkeiten. Dieser innerhalb verschiedener Disziplinen formulierte Grundgedanke, der sich in psychologisch-kognitionstheoretischen (z.B. Watzlawick/Beavin/Jackson 1967, S. 126; Olson 1970, S. 264) ebenso wie in anthropologisch-soziologischen Positionen (z.B. Wallace 1961, S. 297; Luhmann 1971, S. 34), in philosophisch-sprachanalytischen (z.B. Lorenzen 1965, S. 32; Lorenz 1970, S. 192) ebenso wie in strukturalistisch-linguistischen Überlegungen (z.B. Harris 1968, S. 12; Lyons 1968, S. 423; Schnelle 1973, S. 257) findet, ist mit dem informationstheoretisch-kybernetischen Ansatz (Shannon/Weaver 1949) nicht nur vereinbar, sondern er stellt eine gewisse Verallgemeinerung desselben dar.

Während jener nämlich zu einer quantitativen Bestimmung von ,,Information'' als Funktion der Anzahl der ausgeschlossenen Wahlmöglichkeiten Anlaß gab, geht es bei einer semiotischen Verallgemeinerung gerade um den qualitativen Aspekt, d.h. um die Frage nach ,,Bedeutung als Funktion jener Wahlmöglichkeiten, die in Abhängigkeit von bestimmten Bedingungen, Voraussetzungen und Umständen überhaupt abgebaut werden können.

Bei der Beantwortung dieser Frage, die offenbar nicht theoretisch zu lösen ist, sondern nur mit der empirisch-praktischen Rekonstruktion dieser Wahlmöglichkeit identisch sein kann (vgl. Lorenz 1976, S. 251f), können handlungstheoretische Überlegungen weiterführen. Ihnen zufolge kann es nicht (wenigstens zunächst noch nicht) um die Beschreibung und Analyse etwa privater Intentionen und Empfindungen individueller Sprecher/Hörer gehen, denen bestimmte sprachliche Äußerungen in Abhängigkeit von konkreten kontextuellen Umständen unmittelbar zugeordnet wären. Vielmehr wird es der - einzig die kommunikative Leistung tatsächlicher Sprachhandlungen voraussetzenden - Rekonstruktion von potentiellen Wahlmöglichkeiten gerade um jene überindividuellen Verbindlichkeiten und Regularitäten gehen, die - im sozialen Handlungszusammenhang ,,Kommunikationssituation'' immer schon akzeptiert - von den einzelnen Sprechern/Hörern benützt werden müssen, wenn sie ihre individuellen Intentionen vermittels sprachlicher Äußerungen artikulieren, d.h. erkennen und verstehen lassen wollen.

Sprachliches Handeln ist bestimmt durch diese Verbindlichkeit - es ist nicht von einer Reduktion auf das Ich (die Iche) mit ihren privaten Intentionen und Empfindungen her zu verstehen. Die Verbindlichkeiten sind geronnene Handlungszusammenhänge: als solche sind sie Leistungen des [auch sprachlichen] Handelns - und sie werden auch durch das Handeln gelernt, das sich in ihnen vergegenständlicht. Sich auf eine Situation einlassen, heißt die mit ihr verbundenen Verbindlichkeiten akzeptieren. Für Sprechhandlungen heißt das, die in der Sprechhandlung symbolisch gebundenen (geronnenen) Handlungszusammenhänge zu lebendigen zu machen, d.h. sie auszuprobieren [...]: das ist es, was ,,verstehen'' bedeutet (Maas 1972, S. 305f).
Im Unterschied zu den der Nachrichtentechnik entlehnten kommunikationstheoretischen Schematisierungen (Sender-Kanal-Empfänger) und ungleich auch einzelner für die Pragmalinguistik verbindlicher Vorstellungen (Intention-Sprechakt-Verstehen) soll daher hier eine zwischen diesen vermittelnde, dritte Position eingenommen werden, die das Intendieren von Bedeutungen und das Produzieren von sprachlichen Zeichen(ketten) durch Sprecher/Schreiber einerseits mit dem Erkennen sprachlicher Zeichen(ketten) und dem Verstehen von Bedeutungen durch Hörer/Leser andererseits verbindet. Eine derart auf die Kommunikationsfunktion reduzierte, die Einheit semiotischer Prozesse aber repräsentierende Abbildung von Sender-Intention auf Empfänger-Verstehen muß dabei als Voraussetzung der (auch empirischen) Rekonstruktion jener Wahlmöglichkeiten gelten, die oben als Bedingung für Bedeutungskonstitution bezeichnet wurden. Denn erst diese semiotische Vermittlung erlaubt es, aus den Verwendungsweisen von Zeichen(ketten) in einer Vielzahl von zu Kommunikationszwecken geäußerten sprachlichen Ausdrücken jene Strukturzusammenhänge indirekt aufzubauen, die als ein System von (je nach semiotischer Ebene unterschiedlich determinierenden) Regularitäten die syntaktischen, semantischen und pragmatischen Wahlmöglichkeiten mit abnehmender Schärfe konstituieren; und die jeder einzelne sprachliche Ausdruck - sofern er Bedeutung konstituiert - direkt einschränkt.

Ein Resultat dieses ,,vermittelnden'' Ansatzes ist es, die oben skizzierte historische Entwicklung der generativen Grammatiktheorien zwar nicht auf den Kopf, möglicherweise aber auf die Füße stellen zu können in einer semiotischen Genese des bedeutungskonstituierenden Prozesses, die auch für dessen systematische Rekonstruktion im Modell richtungweisend ist.

Geht man nämlich davon aus, daß die Morrissche Gliederung des semiotischen Prozesses (Semiosis) in die Aspekte Pragmatik, Semantik und Syntaktik drei - wenn auch abstraktive - Stufen des möglicherweise kontinuierlichen Prozesses der Bedeutungskonstitution (im oben entwickelten Sinne) kennzeichnet, dann ließe sich um mit der am besten ausgebauten Syntaxtheorie zu beginnen - folgender Aufbau skizzieren: Das Vermögen (und dessen formale Rekonstruktion), grammatikalisch korrekte Sätze produzieren und erkennen zu können, würde nicht schon der Explikation des Sprachvermögens gleichgesetzt, sondern könnte selbst als im Dienst der Bedeutungskonstitution stehend beschrieben werden, und zwar als der syntaktische Aufbau der in einer (idiolektisch, soziolektisch, fachsprachlich, historisch oder wie immer bestimmten) Lexikonstruktur vorgegebenen Wahlmöglichkeiten. Das Vermögen, korrekte und darüber hinaus sinnvolle Sätze und Satzfolgen (Texte) äußern zu können, wäre als die eine Lexikonstruktur konstituierende semantische Einschränkung der in einem pragmatischen Anwendungskontext vorhandenen Wahlmöglichkeiten und der syntaktischen Einschränkungen dieser Lexikonstruktur zu beschreiben. Das kommunikative Vermögen schließlich, korrekte, sinnvolle und situationsadäquate sprachliche Texte äußern und verstehen zu können, ließe sich damit als eine stufenweise zunehmende Einschränkung der Wahlmöglichkeiten des ,,universe of discourse'' zunächst auf eine Kommunikationssituation (Pragmatik), dieser Kommunikationssituation auf eine Lexikonstruktur (Semantik) und dieser Lexikonstruktur schließlich auf Sätze (Syntaktik) begreifen. Allgemein ergeben sich daraus für eine semiotische Modellbildung in der Linguistik zumindest folgende Konsequenzen:

(1) Bedeutung wird nicht länger als besondere Qualität von Zeichen und Zeichenfolgen interpretiert, die diesen vermittels einer (Übersetzungs-)Semantik wie Entitäten besonderer Art unmittelbar zuordenbar wäre, sondern Bedeutung wird allgemein als ein (mögliches) Resultat komplexer - in Zeichen nicht notwendig schon repräsentierter - kognitiver Prozesse gedeutet, in deren Verlauf es über (mehr oder weniger streng determinierende) Reguläritäten zur Ausbildung von (mehr oder weniger deutlich) erkennbaren Zuordnungsbeziehungen (Relationen) kommt, die ihrerseits Strukturzusammenhänge (mehr oder weniger scharf) konstituieren.

(2) Diese Strukturzusammenhänge, auf die Zeichen und Zeichenfolgen als deren mögliche Extensionen (Denotate) bzw. Intensionen (Designate) referieren können, werden nicht - wie etwa in den (aus Interpretation und Referenzpunkt bestehenden) Modellen der Montague-Grammatik - schon vorausgesetzt, sondern - im Sinne einer handlungstheoretischen Sprachauffassung - selbst wiederum als eine Funktion jener systemkonstituierenden Regularitäten rekonstruiert, mit denen wirkliche Sprecher/Hörer Zeichen und Zeichenfolgen in konkreten Situationen offenbar dann verwenden müssen, wenn sie zum Zweck der Kommunikation Bedeutung konstituieren wollen.

(3) Eine solche Rekonstruktion läuft auf die modellierende Nachbildung des in einem (pragmatisch zu definierenden) Anwendungskontext einer möglichen Welt (Referenzpunkt) konstituierten bzw. sich konstituierenden Systems von Wahlmöglichkeiten (potentieller Interpretationen) hinaus, in dem die drei semiotischen Dimensionen nur mehr als ein kontinuierlicher Übergang von Zuordnungsregularitäten abnehmender Determiniertheit (von Syntaktik über Semantik bis Pragmatik) zwar formal rekonstruiert, nicht aber mehr (scharf) unterschieden werden können.

(4) Das semiotische Modell sprachlicher Bedeutungskonstitution kann weder nur formal-logisch noch transzendental-ontologisch, sondern sollte empirisch-deskriptiv entwickelt werden. Deswegen tritt an die Stelle der theoretischen Homogenitäts-Annahme, die eine Kompetenz-orientierte, formal-linguistische Modellbildung im Hinblick auf die Sprachgemeinschaft machte, jetzt eine pragmatische Homogenitäts-Forderung, die jede Performanz-fundierte, empirisch-semiotische Modellbildung im Hinblick auf die zugrundezulegenden Sprachäußerungen (Texte) erheben muß. Geeignete Textkorpora heißen danach pragmatisch-homogen, wenn sie solche natürlich-sprachlichen Äußerungen wirklicher Sprecher/Hörer bzw. Schreiber/Leser umfassen, die in konkreten, dabei ähnlichen Anwendungskontexten im Verlauf verbaler (mündlicher bzw. schriftlicher) Interaktionen zum Zweck der Kommunikation gemacht wurden.

(5) Für eine semiotische Modellbildung, deren wechselseitig sich korrigierende Verbindung theoretischer mit experimentellen Verfahren auch durch die Verknüpfung formal-algebraischer Notationen mit empirisch-quantitativen Ausdrücken in den Termen des Modells repräsentiert wird, braucht das Phänomen der Unschärfe natürlich-sprachlicher Bedeutungskonstitution nicht (mehr) ausgeklammert zu werden. Was in phonologisch-syntaktischer Hinsicht als Varietätenproblem, unter syntaktisch-semantischem Aspekt als Ambiguitätenproblem und im semantisch-pragmatischen Zusammenhang als das der Vagheit erscheint, könnte dabei übergreifend als Resultat von Eigenschaften allgemein kognitiver Prozesse (Zadeh 1975; Gaines 1976) beschrieben, analysiert und im Modell repräsentiert werden.

4.   Im Rahmen dieser semiotischen Problematik eines linguistischen Problems wurden inzwischen einzelne Untersuchungen durchgeführt, deren Ergebnisse - in Vorträgen, Berichten und Aufsätzen veröffentlicht - über die oben entwickelte Programmatik z.T. hinausgehen. Diese Arbeiten haben zu einem empirisch-generativen Modell einer Lexikonstruktur geführt, das aufgrund statistischer Analysen größerer Mengen natürlich-sprachlicher Texte (lexikalische) Bedeutungen von sprachlichen Ausdrücken als Funktion ihrer Verwendungsweisen zu rekonstruieren und deren systembildenden Zusammenhang formal zu repräsentieren gestattet. Das Modell, für das die Vagheit natürlich-sprachlicher Bedeutung konstitutiv ist, kann dabei in seiner abstrakt-algebraischen Komponente als sprach- bzw. korpusunabhängiges Konstrukt bedeutungskonstituierender Kompetenz (,,langue'') gedeutet werden, während seine empirisch-numerische Komponente die sprach- bzw. korpusabhängigen performativen Daten konkret konstituierter Bedeutungen (,,parole'') enthält.

Die grundlegenden empirischen Daten bilden im wesentlichen Ko-Okkurrenzen von Wörtern, Lexemen bzw. lemmatisierten Morphemgruppen in Zeichenketten, wie sie sich in Mengen pragmatisch-homogener Texte finden. Die in solchen Textmengen sich herausbildenden Regelhaftigkeiten in der Verwendung von Wörtern/Lexemen lassen sich dabei über statistische Textanalysen ermitteln. Durch sie werden generell beobachtbare Zuordnungsregularitäten zwischen Zeichen, die sich vor dem Hintergrund des Zufalls als Korrelationen kontinuierlich zunehmender Determiniertheit deuten und messen lassen, in numerischen Ausdrücken graduell beliebig präzise erfaßt. Die Unterschiede zwischen Mengen solcher Zuordnungsregularitäten stellen dabei eine abgeleitete, zusätzliche numerische Charakteristik dar. Formal läßt sich die Menge aller Unterschiede aller Zuordnungsregularitäten eines in den analysierten Texten verwendeten Ausdrucks (Wortes/Lexems) zu sämtlichen anderen als eine ,unscharfe` Teilmenge des verwendeten Vokabulars abbilden, welche durch eine sie charakterisierende Zugehörigkeitsfunktion definiert wird. Die derart jedem Ausdruck zugeordneten unscharfen Teilmengen können nun zu Bausteinen gemacht werden bei der Rekonstruktion des (paradigmatischen) internen Zusammenhangs, d.h. der semantischen Struktur des Vokabulars. Diese Struktur kann als Mengensystem, d.h. als Menge von unscharfen Teilmengen des verwendeten Vokabulars aufgebaut und formal als von ,,Bedeutungspunkten'' gebildete (metrische) Raumstruktur interpretiert werden. Dadurch lassen sich die Zugehörigkeitsfunktionen als semiotisch-funktionale Rekonstruktionen der Bedeutung jeden einzelnen Ausdrucks verstehen, insofern sie dessen Extension (d.h. den über die unscharfe Teilmenge des Vokabulars definierten Bedeutungspunkt) intensional (d.h. in Abhängigkeit von den kontextuellen Bedingungen, unter denen gerade dieser Bedeutungspunkt diesem Ausdruck als seine Extension zukommt) bestimmen und festlegen. Durch die den primären kommumnikativen Zusammenhang sprachlicher Äußerungen nicht etwa ausklammernde sondern systematisch einbeziehende empirisch-statistische Textanalyse können den formalen Termen im Modell überdies numerische Terme so zugeordnet werden, daß auch die im Bereich der formalen Semantik natürlicher Sprache entwickelten semiotischen Modelle - bei aller Vagheit und Unschärfe eines vorab gerade nicht präzisierten Gegenstandsbereichs - gleichwohl empirisch überprüfbar bleiben.

Die entwickelte und erprobte Lexikonstruktur ist - ihrer Grundidee nach (Rieger 1974) - ein topologisches Gebilde. Es fungiert als beschreibendes Modell der Wahlmöglichkeiten, die als ein paradigmatischer (vieldimensionaler) Systemzusammenhang repräsentiert werden, auf den natürlich-sprachliche Kommunikation immer schon aufbaut, wenn in den syntagmatischen (linearen) Strukturen tatsächlicher Sprechakte von deren Teilhabern (Produzenten/Perzipienten) Bedeutungen in Äußerungen konstituiert (intendiert bzw. verstanden) werden (Rieger 1977a). Darüber hinaus erlaubt die Allgemeinheit des topologischen Formalismus eine auch algebraische Interpretation, wodurch das zunächst deskriptive Analyse-Modell - über das Konzept der unscharfen Mengen als relativ anschaulicher Begriffsbildung für unendlich-wertige Logiksysteme - in ein generatives Enumerations-Modell überführt werden kann. Einige der mit der Vagheit natürlich-sprachlicher Bedeutungskonstitution verbundene Sachverhalte lassen sich hierdurch formal befriedigend und empirisch testbar, d.h. adäquater explizieren, als es bisher in den auf (eindeutige) Entscheidbarkeit und Äquivalenzen aufbauenden zwei-wertig logischen Modell- und Systembildungen möglich war.

So lassen sich paradigmatische Felder einzelner Wörter, Lexeme, etc. als topologische Umgebungen der ihnen im Modell der Lexikonstruktur zugeordneten Bedeutungspunkte explizieren, wobei die mit unterschiedlichen kommunikativen Erfordernissen wechselnde Schärfe oder Bestimmtheit vager Bedeutungen über variable Toleranzen erfaßt werden kann (Rieger 1975). Durch die Übertragung der in der Theorie der unscharfen Mengen gegebenen algebraischen Definitionen und Verknüpfungen auf das Modell lassen sich überdies aus den textanalytisch ermittelten Bedeutungen durch deren Negation, Konjunktion und Adjunktion neue Bedeutungen generieren, die dann - als wiederum unscharfe Teilmengen des Vokabulars beschreibbar - neue Bedeutungspunkte als Elemente in der (semantischen) Raumstruktur definieren (Rieger 1977b). Und weiterhin können in diesem Strukturmodell Beziehungen erklärt werden, die es gestatten, Sinnrelationen wie Synonymie, Hyponymie, Ähnlichkeit, etc. zwischen vagen Bedeutungen formal, dabei Kommunikations-abhängig aber Satz-unabhängig zu explizieren (Rieger 1976a). Während also die zur Definition von unscharfen Teilmengen des Vokabulars bzw. von Bedeutungspunkten (Elementen) der Lexikonstruktur empirisch ermittelten Relationen oberflächenstrukturelle Zuordnungsbeziehungen sprachlicher Zeichen erfassen, betreffen die durch die algebraischen Operationen und Definitionen erklärten Relationen Beziehungen zwischen den (vagen) Bedeutungen dieser Zeichen, wie sie sich aus deren Verwendung in pragmatisch-homogenen Texten ergeben.

Vergleichbar dem Grundgedanken der Kategorialgrammatik, wonach neue Kategorien sich formal als Funktionen definieren lassen, die auf einer Menge von Grundkategorien als deren Argumenten operieren, können auch in diesem Strukturmodell zusätzliche Form- und Funktionswörter wie grammatische Kategorien eingeführt werden, deren Argumente Bedeutungspunkte der Lexikonstruktur bilden (Rieger 1977c). Dabei kann das Problem des (semiotischen) Zusammenhangs von Analysemethoden und Repräsentationssystem gerade von einem die prinzipielle Unschärfe und Vagheit natürlich-sprachlicher Bedeutungskonstitution akzeptierenden (linguistischen) Ansatz her angegangen werden - was eine Aufarbeitung auch der älteren, schon historischen Überlegungen hierzu verdeutlichen kann (Rieger 1976b).

Für Untersuchungsansatz wie Modellbildung wird gleichwohl geltend bleiben, daß die Beziehung zwischen der ,,Struktur des Beschriebenen'' der nicht-mathematischen Realität (hier: die aufgrund des kommunikativen Gebrauchs bestimmter Wörter in bestimmten Kontexten sich konstituierenden Bedeutungen) und der ,,Beschreibungsstruktur'' des mathematischen Modells (hier: die Topologie der Lexikonstruktur als Repräsentationsmodell von Bedeutung) nicht vorab schon als Isomorphie gedeutet, sondern als eine homomorphe Annäherung von Modell und Gegenstand begriffen wird, der immer nur ein-gewisser Approximationsgrad zukommt. Im Unterschied etwa zu modelltheoretischen Ansätzen in der linguistischen Semantik wird also hier der Ausschnitt des zu beschreibenden Gegenstandsbereichs nicht vom mathematischen Modell und seinen Eigenschaften bestimmt, sondern es wird umgekehrt für einen durch den engeren Problemansatz vorgegebenen Ausschnitt der Realität (hier: Unschärfe natürlich-sprachlicher Bedeutungskonstitution) ein mathematisches Modell entwickelt und erprobt, das vage Gegebenheiten - ohne sie zu präzisieren - gleichwohl exakt zu repräsentieren erlaubt.

Literatur

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Footnotes:

1Erschienen in: Gunzenhäuser, R. (Hrsg.): Semiotik (Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 27/28), Frankfurt/M. (Athenäum) 1977, S. 55-68.


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