Germanistik und Computer
Eine zukunftsweisende Verbindung?1

Burghard Rieger

1  Schwieriger Übergang

Der für beinahe sämtliche philologischen Disziplinen durch Ausbildungsgang, Berufstätigkeit und Studieninteresse über Jahrzehnte charakteristische Kreislauf - von der Schule zur Universität zurück zur Schule oder Hochschule - ist heute nicht bloß unterbrochen. Er scheint vielmehr auch nachhaltig in einem Sinne gestört, durch den langfristig schwierigere Probleme entstehen könnten, als sich kurzfristig durch eine bloß zeitweilige Unterbrechung (wie von selbst) lösen:

Während im Jahre 1979 noch mehr als 83 Prozent der Studienabsolventen für das Lehramt in den Schuldienst übernommen wurden (von 41 000 Bewerbern erhielten 34 000 eine Anstellung) waren es 1985 nurmehr noch knapp 17 Prozent (nur noch 10 400 von 62 000 Bewerbern), die eingestellt wurden. Diese schon seit Anfang der 70er Jahre erkennbare, aber erst mit Beginn der 80er Jahre in ihrer Konsequenz sich abzeichnende Tendenz hatte zunächst zu vereinzelten Bemühungen geführt, Alternativen zum traditionellen Tätigkeitsrahmen des Lehrers und Pädagogen zu finden. Dessen akademische Isoliertheit von der übrigen Berufswelt - durch die auf Schule und Lehrerausbildung ausgerichteten Curricula besonders der Philologien an den deutschen Universitäten gleichsam vorgegeben - ließ dabei freilich - von den bekannten und immer wieder genannten alten Beispielen möglicher Tätigkeiten und Berufsalternativen in Medien und Werbung (Journalist, Texter etc.), im Fort- und Weiterbildungssektor (Verlagslektor, Bibliothekar etc.) einmal abgesehen - neue berufliche Möglichkeiten gar nicht erst in den Blick geraten. Daß aber diese gerade in den hochentwickelten Industriegesellschaften wie der unseren sich unter dem Einfluß einer veränderten kommunikativen Infrastruktur erst entwickelnden neuen Tätigkeitsbereiche von akademisch ausgebildeten Philologen bzw. den Absolventen germanistischer Studiengänge im allgemeinen kaum wahrgenommen werden, wurde schon früher eingehend dargelegt ( RIEGER 1983).

An Überlegungen, die wachsende Zahl ausgebildeter, aber nicht in den Schuldienst übernommener (Jung-)Lehrer in dieses Potential beruflicher Alternativen der Wirtschaft zu integrieren, hat es seither nicht gefehlt ( HAVERS et al. 1983; HENNIGER/LINDER 1984; HüBLER 1984). Sie haben Initiativen der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung ebenso auf den Plan gerufen, wie sie den Wissenschaftsrat veranlaßten, Empfehlungen sowohl zur Hochschulsituation (WSR 1985) wie zur engeren Zusammenarbeit mit der Wirtschaft (WSR 1986a) und der Struktur des Studiums (WSR 1986b) vorzulegen. Das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft hat überdies eine breitangelegte Studie in Auftrag gegeben, die in Zusammenarbeit mit dem Institut der deutschen Wirtschaft inzwischen abgeschlossen vorliegt (BMBW 1985). Der hierzu durchgeführte und inzwischen abgeschlossene Modellversuch (BMBW 1985) hat dabei die Probleme, aber auch die Möglichkeiten deutlich werden lassen, die sich für (Berufs-)Anfänger im Lehrberuf beim Eintritt und Übergang in andere privatwirtschaftliche Tätigkeiten ergeben.

Gegen eine sowohl vom Angestellten wie vom Anstellungsträger als befriedigend eingeschätzte Tätigkeit sprechen dabei gewisse nachteilige Auswirkungen einer allzu isolierten akademisch-theoretischen Ausbildung. Deren Absolventen erscheinen durch frühe Spezialisierung und/oder Orientierung auf traditionelle Berufsbilder in Schule und Universität den Anforderungen in Industrie und Wirtschaft (Bereitschaft zu Akzeptanz ökonomischer/hierarchischer/terminlicher Normen; erhöhte Leistungsbereitschaft/Zielorientiertheit; Flexibilität/Initiative/Mobilität) gar nicht erst oder oft nicht mehr gewachsen zu sein (WSR 1986a). Die Vorstellung vom pädagogischen Beruf scheint jede andere Tätigkeit zum Job zu degradieren, die üblichen Anfangsgehälter und -positionen (Sachbearbeiter) erscheinen wenig attraktiv, der kontinuierlich erforderliche Aufwand an praktischer Weiterbildung (Training-on-the-Job/Lehrgänge/Kursteilnahme) schreckt ab, zumal hierzu mit anderen (jüngeren) Berufsanfängern vermeintlich besserer (z.T. akademischer) Ausbildung konkurriert werden muß ( FALK/WEISS 1986). Hinzu kommt, daß die vorteilhaften Qualifikationen, die man bei Hochschulabsolventen auch und gerade von Lehramtsstudiengängen in aller Regel meint voraussetzen zu können (Lerntraining; fachspezifische Kenntnisse; sprachliches Vermögen zu differenziertem mündlichen/schriftlichen Ausdruck; Fähigkeit zu pädagogisch-didaktischer Abstraktion/Reduktion), oft nicht in dem Maße vorhanden sind, wie es zur Bewältigung der wachsenden kommunikativen Aufgabenbereiche besonders in der Wirtschaft, aber auch in der Verwaltung und in Organisationen dringend benötigt wird.

In fast allen fremdsprachlich-philologischen Disziplinen entsprechen die jeweiligen Studienanteile, in denen sprachlich-linguistisches Wissen vermittelt wird, in etwa denjenigen, die zum Erwerb literaturwissenschaftlicher oder landeskundlicher Kenntnisse führen. Für die Germanistik ist jedoch - zumindest in Deutschland und den deutschsprachigen Ländern - ein ausgeprägtes Ungleichgewicht charakteristisch, wonach der Literaturwissenschaft deutlich höhere Studienanteile sowohl in der älteren wie in der neueren Abteilung des Faches zukommen als der sprachwissenschaftlichen und linguistischen Komponente der Ausbildung. Die während der 70er Jahre angestrebte Etablierung der Linguistik als selbständiges Unterrichtsfach der Sekundarstufe sowie die Anfang der 80er Jahre erfolgte negative Entscheidung der zuständigen Kultusbehörden haben dazu geführt, daß das lehramtsorientierte Germanistikstudium an den Universitäten und Hochschulen der Bundesrepublik - von regionalen Abweichungen abgesehen - eine eher literarische als sprachliche Ausbildung vermittelt.

Diese vornehmlich literarische Ausrichtung mag zu einem nicht geringen Teil erklären, weshalb die Eignung der Absolventen speziell eines Germanistikstudiums zur Übernahme von Aufgaben und Positionen in der privaten Wirtschaft zunächst bezweifelt wird, und zwar sowohl von den Beschäftigungssuchenden als auch den möglichen Arbeitgebern. Das Übergewicht, mit dem das Verständnis historischer vor der Analyse aktueller Beziehungen geistesgeschichtlicher, sozialer und/oder ökonomischer Bedingungen von traditioneller Lese- und Theater-Kultur während des Studiums gefördert wird, prägt das Spektrum der daraus resultierenden Kenntnisse und Fertigkeiten. Damit ist das eigentümliche Desinteresse (vom bloßen Übersehen bis zur uneingestandenen Hilflosigkeit) gemeint, mit dem die ausgebildeten Lehramtskandidaten wie meist auch ihre akademischen und pädagogischen Ausbilder solchen Phänomenen gegenüberstehen, die als aktuelle Ausprägungen und Indizien des rapiden Übergangs der alten Schrift- und Lese-Kultur in eine neue Medien- und Videowirklichkeit verstanden werden müssen.

2  Neue Orientierung

Die Veränderungen, welche übergreifend diesen Übergang vom ,,Zeitalter der Erörterung'' zum ,,Zeitalter der Unterhaltung'' ( POSTMAN) kennzeichnen, sind bisher ohne unmittelbare Konsequenz für den Aufbau und Inhalt von Ausbildungs- und Studiengängen geblieben, wenngleich die mittelbaren Folgen dieses Übergangs im Lern- und Studienverhalten der neuen Studentengeneration schon ablesbar sind. Jede umfassende Charakterisierung des sich derart abzeichnenden Wandels, der mit dem Einsatz der Mikroprozessor-Technologie in fast allen Bereichen unseres öffentlichen, sozialen und privaten Lebens verbunden ist und grundlegende Veränderungen im Umgang mit und der Bewertung von Information, Sprache und Kommunikation nach sich zieht, muß daher über die Feststellung und Darlegung von wie klar auch immer hervortretenden, bloß quantitativen Unterschieden hinaus ( HANSEN et al. 1979; WITTE 1980; FRIEDRICHS/SCHAFF 1982) zusätzlich einen auch qualitativen Sprung konstatieren ( MANDER 1979; WINN 1979; ONG 1982; POSTMAN 1985).

Danach scheint die Funktion dessen betroffen zu sein, was durch Sprache und in sprachlicher Kommunikation überhaupt vermittelt, d.h. an ,,Bedeutung'' intendiert und verstanden, diskutiert und modifiziert werden kann, so daß gewisse entweder als richtig akzeptierte oder auch als falsch verworfene ,,Informationen'' für den einzelnen, für das Zusammenleben von Menschen in einem Gemeinwesen und damit für die Gesellschaft insgesamt wirksam werden. Die Bedrohung der Erörterung durch die Unterhaltung besteht also nicht in der Tatsache, daß es sich bei den neuen Medien um eine Veränderung der gesellschaftlichen Wirklichkeit handelt, und auch nicht darin, daß diese Veränderung etwa von Menschen bewirkt werde, die zur effizienteren sprachlichen Kommunikation von diesen neuen Medien Gebrauch machen, sondern die hier angesprochene - im Vergleich zu allen bisher genannten Befürchtungen neuartige - Bedrohung besteht vielmehr darin, daß das Video-Medium das Vermögen der Menschen selbst gefährdet, durch Artikulation und Verständnis von (zusammenhängenden) sprachlichen Äußerungen auch ober komplexere Zusammenhänge der Realität, Fiktion und/oder Phantasie zu kommunizieren. Diese Fähigkeit nicht (oder nicht mehr ausreichend) ausbilden zu können, verstärkt dabei den Wunsch nach kommunikativ restringierter Video-Unterhaltung, die ihrerseits das Unvermögen wie auch die Aversion erhöht, sprachlich-diskursive Wirklichkeit anders als eine bloß unterhaltsame Ereignisfolge zu erfahren: Erlebnis dominiert Erkenntnis, Spannung verhindert Verständnis, Unterhaltung ersetzt Wirklichkeit.

Die Auswirkungen solcher diskursiven Defizite, durch welche in absehbarer Zeit nicht mehr nur eine Minderheit außerstande ist, ihre Bedürfnisse nach zwischen-menschlichem Kontakt durch sprachliche Kommunikation befriedigen zu können, um eines Tages möglicherweise selbst dieses Bedürfnis nicht einmal mehr zu verspüren, sind in ihren vielfältigen gesellschaftlichen, sozialen und ökonomischen Konsequenzen bisher noch kaum abschätzbar. Sie erscheinen aber umso gravierender, als den kommunikations-praktischen Defiziten bei den Gliedern fast aller Teile, Gruppierungen und Schichten unserer Gesellschaft naturgemäß eine wachsende Nachfrage nach Leistungen eben dieses defizitären Vermögens entspricht. Die wachsende Nachfrage danach als Folge fehlender praktisch-kommunikativer Fertigkeiten wird darüber hinaus aber noch weiter verstärkt, indem sie auf einen merklich erhöhten Erklärungsbedarf trifft. Dieser entsteht und ist untrennbar verbunden mit der Komplexität fortgeschrittener Technologien, die das Leben in allen hochindustriellen Gesellschaften zunehmend prägen. Sie müssen daher einen - im Vergleich zu weniger entwickelten Gesellschaften - beträchtlichen Erklärungsaufwand treiben, der sich als einer ihrer charakteristischen Kennzeichen erweist. Erklären aber gehört - im Unterschied zu Spiel und Unterhaltung - dem Bereich sprachlich-diskursiver Zeichenverwendung der Erörterung zu. Dieses Vermögen in den verschiedenen Erscheinungsweisen praktisch-kommunikativen Handelns zu erhalten, neu zu vermitteln und zu üben wird damit für das Funktionieren hochentwickelter Industriegesellschaften, die dieser Fertigkeiten gerade bei zunehmender Automation in erhöhtem Maße bedürfen ( AFHELDT 1984) zu einer (über-)lebenswichtigen Bedingung. Ihre Erfüllung setzt aber voraus, daß etwaige (sich andeutende) Defizite auf diesem Gebiet möglichst frühzeitig erkannt, ihre Strukturen analysiert und durch geeignete Ausbildung möglichst vieler potentieller Funktionsträger (und weniger etablierter Funktionäre) behoben werden. Das derzeitige Ausbildungssystem trägt diesen Erfordernissen aber erst sehr bedingt Rechnung.

3  Notwendige Anpassung

Unter dem Aspekt eines weiterhin sich verstärkenden Einsatzes der Mikroprozessor-Technologie in den Bereichen der industriellen Produktion und Fertigung ebenso wie auf dem Dienstleistungssektor, zumal der Kommunikations- und Informationstechnik, werden daher in Zukunft gerade jene Tätigkeitsbereiche an gesellschaftlicher Bedeutung gewinnen, die im Bereich des unmittelbaren Übergangs von bisher dem Menschen vorbehaltenen Tätigkeiten und nunmehr von (zunehmend intelligenteren) Automaten übernommenen Funktionen liegen. Für sie ist das Schlüsselwort Computer zu einer Verheißung neuartiger Möglichkeiten der sprachlichen Übermittlung des Verständnisses von Zusammenhängen und der Analyse von Wissen ebenso geworden, wie es gleichzeitig den unaufhaltsamen Verlust von für den Menschen bisher sinnvollen Tätigkeiten, seiner damit verbundenen Ausdrucks- und Artikulationsvermögen und letztlich gar seines Bedürfnisses hierzu zu signalisieren scheint.

Ein Ausbildungskonzept, das diesen Veränderungen entspricht, wird ihnen in zweifacher Weise Rechnung zu tragen suchen: indem es neben der Vermittlung von Wissen in Form von sachlichen und inhaltlichen Grundlagen auch das Training von Fertigkeiten umfaßt, die unmittelbar auf diesem Wissen aufbauen und mittelbar von ihm Gebrauch machen bei der Einordnung von Beobachtungen, dem Erkennen von bestimmten Problemen und dem Finden von Lösungsmöglichkeiten. Einem solchen Konzept liegt die Vorstellung von der Gebundenheit aller informatorischen Vorgänge an wie auch immer geartetes Wissen zugrunde, womit insbesondere Prozesse der Sprach- und Informationsverarbeitung sich auf fundamentalere Vermögen und Fertigkeiten des Erkennens von Gegebenbeiten, der Identifikation von Mustern und der Interpretation von Zusammenhängen zurückführen lassen. Obwohl einerseits dem naturwissenschaftlich-erklärenden Denken und der Methodik seiner Erkenntnisgewinnung näherstehend, stellt dieses kognitive Paradigma der sprach- und informationsverarbeitenden Prozesse selber eine Art Gelenkstück dar, dem sich andererseits auch die Weisen hermeneutisch-interpretierender Zuordnung von schon Gewußtem zu dadurch sich verändernden Gegebenheiten unschwer verbinden lassen.

Diesen eher auf der Seite eines neuwertigen Ausbildungsprofils liegenden, noch wenig spezifizierten Überlegungen entsprechen aber auch Erwägungen und Wünsche auf der Seite eines bisher nicht minder unscharfen Anforderungsprofils, das sich aus den Hinweisen der privaten Wirtschaft abzuzeichnen beginnt. Danach hat sich in den letzten Jahren ein Wandel in der Rekrutierung zukünftiger Führungskräfte bei zahlreichen Wirtschafts- und Industrieunternehmen nicht nur in der Informationsverarbeitung vollzogen. Was bisher für Unternehmen in den USA untersucht wurde ( HALADGIAN 1985), wird bald anhand der Struktur von Industriebetrieben gewisser Größe in den vergleichbaren Ländern Europas belegbar sein, und damit auch für die Bundesrepublik gelten: im mittleren, besonders aber höheren Management werden nicht nur zunehmend Finanz-, Rechts- und Marketing-Fachleute engagiert, sondern mit wachsender Zahl erwerbsloser Studienabsolventen auch Geisteswissenschaftler. Deren Sprachgewandtheit und fundierte Allgemeinbildung, welche sie vor anderen Bewerbern auszeichnen, haben beispielsweise bei General Motors schon dazu geführt, daß 20 Prozent aller Neueingestellten mit akademischer Ausbildung aus geisteswissenschaftlicher Fachrichtungen kommen. Der GM-Vorstandsvorsitzende Roger B. Smith erklärt diese Entwicklung in seinem Unternehmen mit eben jenem erhöhten Bedarf an Kommunikationsfähigkeit, die auch der Geschäftsführungs-Vorsitzende der IBM-Deutschland Lothar F. W. Sparberg neben einer die ganze Persönlichkeit erfassenden Allgemeinbildung für zunehmend wichtiger hält ( SPARBERG 1984):

Wichtig ist eine umfassende Persönlichkeitsbildung: kommunikatives und gemeinschaftsbezogenes Verhalten, aus eigenem Antrieb Fragen stellen. Ideen finden, Probleme analysieren, bei der Suche nach Lösungen neue Wege gehen, flexibel reagieren, sich in Teams integrieren und sich in diesen Teams konsensfähig verhalten. Das stellt hohe Ansprüche an die Kommunikationsfähigkeit (...) Abkehr von der verfrühten Spezialisierung und die stärkere Rückbesinnung auf humanistische sowie eine Aufwertung geisteswissenschaftlich-musischer Bildungsinhalte - ergänzt durch die Vermittlung technologischer Grundkenntnisse - scheint den künftigen Anforderungen besser gerecht zu werden. (S. 30)

Wenn man - wie Verfasser - die Verbindung von Germanistik und Computer für zukunftsweisend hält, muß zumindest in Umrissen deutlich werden, in welchem Rahmen die behaupteten Chancen einer solchen Verbindung sich bewegen. Hierzu kann auf Überlegungen zurückgegriffen werden, die als Resultat von und im Zusammenhang mit Lehrveranstaltungen entstanden welche Verfasser seit Sommersemester 1979 am Germanistischen Institut der RWTH Aachen speziell zur Problematik des germanistischen Berufsfeldes abhielt. Vorstellungen und Erfahrungen aus diesen Seminaren und Übungen bildeten die Grundlage eines mit Kollegen am Germanistischen Institut durchgeführten Modellversuchs Sprachpraxis der für und mit Studenten vornehmlich der natur- und ingenieurwissenschaftlichen Fachbereiche der RWTH ein kommunikations- und sprachpraktisches Trainingsprogramm erprobte, in dem die Erweiterung des (mündlich/schriftlichen) Sprach- und Ausdrucksvermögens besonderen Raum einnahm. Im Unterschied dazu wird ein für Studenten vornehmlich der geisteswissenschaftlich philologischen Studienfächer konzipierter Kurs nicht auf die schon im ersten Entwurf ( RIEGER 1983) zusammengestellten Studieneinheiten verzichten können. Wie die folgende, auf Vorlesungen, Seminare und Übungen im Verhältnis 1:2:3 verteilte Übersicht erkennen läßt, wird eine gewisse Komplementierung des historisch-hermeneutischen Denkens sowie seiner Verbalisierung dadurch angestrebt, daß weniger Probleme aufgezeigt als Problemlösungen vorgestellt und ihre Anwendungen praktisch vermittelt werden.

SPRACHPRAXIS I  

  1. Kognitionstheorie

    1. Prozedurale Verstehensmodelle
      (in Psychologie/Soziologie/Linguistik/KI)
    2. Empirisch-experimentelle Methodik
      (Hypothesenbildung/Datenerhebung/Testen/Schätzen)
    3. Wissensrepräsentation und Gedächtnis
      (Modelle/Strukturen/Systeme)
    4. Simulation von Verstehensprozessen
      (in der Kognitions- und KI-Forschung)
  2. Computerlinguistik

    1. Formale Sprachen und Grammatiken
      (algebraische Linguistik/Parsingalgorithmen)
    2. Empirische Sprach- und Textanalyse
      (quantitative Linguistik/statistische Verfahren)
    3. Linguistische Datenverarbeitung
      (Programmiersprachen/Datenstrukturen)
    4. Mensch-Maschine-Kommunikation
      (Problem/Algorithmus/Programm)
  3. Information und Dokumentation

    1. Informationstechnologien
      (Bedingungen/Hard-Software-Umgebungen)
    2. Fakten, Daten, Dokumente
      (Erschließung/Speicherung/Retrieval)
    3. Datenbanken und Netzwerke
      (Benutzerführung/Frage-Antwort-/Experten-Systeme)
    4. Gesellschaftliche Zusammenhänge
      (ökonomische/administrative/ökologische Bezüge)

SPRACHPRAXIS II  

  1. Sprache als Instrument: Verstehen, Verständigung, Verständlichkeit, Verständnis

    1. Verstehen als kognitive Leistung
      (Gliedern von Phänomenbereichen aufgrund vorgegebener Strukturzusammenhänge)
    2. Verständigung als kommunikativer Prozeß
      (Induzieren neuartiger Relationen innerhalb vorgegebener Strukturzusammanhänge)
    3. Verständlichkeit als informatorische Eigenschaft
      (Aktivierung relevanter Relationen innerhalb vorgegebener Strukturzusammenhänge)
    4. Verständnis als experimentelles Resultat

      (Modifikation vorgegebener Strukturzusammenhänge durch neue rekurrente Relationen)

  2. Theorie und Praxis der Versprachlichung

    1. Sprachliche Darstellung nicht-sprachlicher Vorgänge

      (Sachverhalt ® Analyse ® Textmitteilung)

    2. Ausarbeiten oder Zusammenfassen

      (Textentwurf ® Korrekturen ® Endfassung)

    3. Was ist wann wichtig für wen?

      (Rezeptive Unterscheidung ® konzeptuelle Gliederung ® kommunikativer Text)

    4. Referat, Vortrag, Rede

      (Thema ® Aufbau ® Präsentation)

  3. Übungen zur sprachlichen Informationsübermittlung

    1. Entwicklung und Methodik von Kommunikationsexperimenten
      (Situationsbedingtheit ® Wiederholbarkeit ® Kontrolle)
    2. Rezipieren und Reproduzieren gesprochener Texte
      (Hören ® Interpretation ® Äußerung)
    3. Verbalisierung non-verbaler Ereignisfolgen
      (Wahrnehmung ® Konzeptualisierung ® Formulierung)
    4. Transformation von (Bild-)Information in sprachliche Handlungsanweisung zur non-verbalen (Bild-)Reproduktion
      (Bilderkennen ® Konzeptanalyse ® Übermittlungsparameter ® Wiedergabesteuerung)

Literatur

  • AFHELDT, H. (1984): Prognosen bis zum Jahr 2000. In: IBM, 35-42
  • BMBW (1985): Bundesminister f. Bildung u. Wissensch. (Hrsg): Lehrer in der Wirtschaft. Modellversuch zur Qualifizierung und Integration. (Studien zu Bildung und Wissenschaft 18; Bad Honnef (BMBW)
  • FALK, R./WEISS, R. (1986): Starthilfe: Lehrer in die Wirtschaft. Köln (Deutscher Instituts-Verl.)
  • FRIEDRICHS, G./SCHAFF, A. (1982)(Hrsg): Auf Gedeih und Verderb. Mikroelektronik und Gesellschaft. Wien (Europa)
  • GANZHORN, K. (1984): Informatik im Übergang. In: IBM, 85-93
  • HAEFNER, K. (1982): Die neue Bildungskrise. Herausforderung der Informationstechnik an Bildung und Ausbildung. Basel/Stuttgart (Birkhäuser)
  • HALADGIAN, S. (1985): Manager in USA. Deutsche Presse Agentur 25. 5.
  • HANSEN, H.R./SCHROEDER, K.T./WEIHE, H.J. (1979) (Hrsg): Mensch und Computer. Zur Kontroverse über die ökonomischen und gesellschaftlichen Auswirkungen der EDV. München/Wien (Oldenbourg)
  • HAVERS, N./PARMENTIER, K./STOOSS,F. (1983): Alternative Einsatzfelder für Lehrer? (Beiträge z. Arbeitsmarkt- u. Berufsforschung 73) Nürnberg (IAB)
  • HENNIGER, W./LINDER, H. (1984): Das Umsteigerbuch - für arbeitslose Hochschulabgänger. Königstein/Ts. (Athenäum)
  • BLER, U. (1984) (Hrsg): Als Pädagoge arbeitslos - was tun? München (Kösel)
  • IBM (1984): Technik und Gesellschaft: Strukturwandel - Herausforderung und Chance. Stuttgart (IBM)
  • MANDER, J. (1979): Four Arguments for the Elimination of Television. New York (W. Morrow); dtsch: Schafft das Fernsehen ab. Streitschrift gegen das Leben aus zweiter Hand. Reinbek (Rowohlt)
  • ONG, W. (1982): Orality and Literacy. New York (Viking Pr)
  • POSTMAN, N. (1985): Amusing Ourselves to Death. Public Discourse in the Age of Show Business. New York (Viking Pr); dtsch: Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie. Frankfurt (S. Fischer)
  • RIEGER, B. (1983): Von den Ansichten einer künftigen Germanistik zu den Germanisten ohne Zukunft? Über alternative Tätigkeitsfelder für Philologen in einer veränderten kommunikativen Infrastruktur unserer Gesellschaft. Der Deutschunterricht 3(1983), 59-75
  • SPARBERG, L.F.W. (1984): Neue Technologien - Wandel in der Bildung. In: IBM, 28-34
  • STEINBRUCH, K. (1978): Maßlos informiert. Die Enteignung unseres Denkens. Reinbek (Rowohlt)
  • WINN, M. (1979): The-Plug-in-Drug. New York (Viking Pr); dtsch: Die Droge im Wohnzimmer. Reinbek (Rowohlt)
  • WITTE, E. (1980)(Hrsg.): Telekommunikation für den Menschen/Human Aspects of Telecommunication. Berlin/Heidelberg/New York (Springer)
  • WSR (1985): Empfehlungen zum Wettbewerb im deutschen Hochschulsystem. Köln (Wissenschaftsrat)
  • WSR (1986a): Empfehlungen zur Struktur des Studiums. Köln (Wissenschaftsrat)
  • WSR (1986b): Stellungnahme zur Zusammenarbeit zwischen Hochschule und Wirtschaft. Köln (Wissenschaftsrat)

  • Footnotes:

    1 Erschienen in: Huber, C./Gurtler, W. (Hrsg): Germanistik - Wie weiter? Angewandte Germanistik und Berufsfelderweiterung, Innsbruck (Studia) 1987, S. 28-37