Bedeutungsanalyse und Dispositionsstrukturen.
Zum Problem einer empirischen Komponente der Situationssemantik1

Burghard Rieger

Aufgrund einer vergleichsweise radikalen Revision einiger Basisannahmen modelltheoretischer Semantiken haben Barwise und Perry (1983) mit Situations and Attitudes den Neuansatz einer Semantiktheorie vorgelegt, für die das Konzept der Situation grundlegend ist. Innerhalb des relationalen Semantikmodells erscheint Bedeutung als ein Derivat der Informationsverarbeitung durch intelligente (natürliche/künstliche) Systeme, die Ähnlichkeiten und Invarianten zwischen Situationen zu erkennen vermögen, welche die System-umgebende Realität (oder Fragmente davon) strukturieren. Indem sich den an sie angepaßten (attuned) kognitiven Systemen diese Invarianten als Gleichförmigkeiten (uniformities) über Situationen hinweg darstellen, ergibt sich ihre (eingeschränkte) Sicht der Realität als jene Folge von Situationen, welche untereinander durch Gleichförmigkeiten (wie z.B. Individuen, Eigenschaften, Relationen, Ort-Zeit-Stellen, etc.) verbunden sind, die das betreffende System erkennt. Bedeutungskonstitution wird dabei allgemein als ein kognitiver Prozeß gedeutet, der dynamisch zwischen Informations-verarbeitenden Systemen und der sie umgebenden (äußeren) Realität vermittelt, von der diese Systeme - aufgrund ihrer (inneren) Strukturiertheit - nur jeweils (unterschiedliche) Ausschnitte wahrnehmen und erkennen.

Neben diesem Zeichen-systematischen Aspekt der externen Wirklichkeit (und ihrer Verarbeitung) tritt der Symbol-systematische Aspekt der natürlichen Sprache (und deren Verstehen). Danach bilden die Wort-Gleichförmigkeiten in geäußerten Phrasen, Sätzen, Texten strukturell bedingte lexiko-semantische Einschränkungen (constraints) von Situationen, die Bedeutungen sowohl repräsentieren als selbst auch etablieren. Durch sie können Hörer/Sprecher nicht nur Unterschiedliches mit gleichen Wörtern in unterschiedlichen Situationen verstehen und zu verstehen geben (efficiency), sondern darüber hinaus liefern die in gleichförmigen Texten verwendeten Vokabulare und deren Gebrauch auch eine empirisch zugängliche Basis für die Analyse der strukturellen (im Unterschied zu referentiellen) Aspekte von Ereignis-Typen (event-types). Denn in natürlichen Sprachen stellen Wörter (als Worttypen) jene Invarianten dar, die in - sprachlichen Äußerungen in sehr verschiedenen Situationen (als Worttoken) verwendet - einmal Zusammenhänge von Situationen ihrer Äußerung (Wirklichkeit), zum anderen Zusammenhänge von beschriebenen Situationen (Texte) konstituieren. Die Analyse dieser Invarianten kann dabei - trotz einer systematischen Unterbestimmtheit - die semantischen Beziehungsstrukturen dessen liefern, was durch eine Äußerung an Information in einer Situation und über diese sprachlich vermittelt wird: semantische Dispositionsstrukturen als Resultat einer dynamischen Restriktion von Äußerungssituation und Situationsbeschreibung aufgrund lexikosemantischer Constraints. Dies kann über eine textlinguistisch motivierte, empirisch-strukturelle Erweiterung (Rieger 1988) des situationssemantischen Ansatzes geschehen, der bisher auf die Einheit Satz beschränkt erscheint, ausschließlich erst extern-semantisch ausgearbeitet ist, und in dem auch alle Hinweise auf eine mögliche  e m p i r i s c h e  Rekonstruktion der Basiseinheit Situation fehlen.

Über eine auf dem Gebrauch von Wörtern in Texten basierenden Modellierung assoziativ strukturierten Wissens, das sich aus den Verwendungsregularitäten von Wörtern aufbaut und über einen statistischen Ansatz analysiert werden kann, lassen sich dabei die stereotypischen Repräsentationen lexikalischer Einheiten mit empirisch-quantitativen Verfahren der Textanalyse verbinden (Rieger 1985b). Formal als (metrische) Raumstruktur darstellbar, lassen sich im semantischen Raum Bedeutungselemente derart abbilden, daß deren Positionen semantische Ähnlichkeiten repräsentieren (Rieger 1981). Auf ihnen kann sodann ein Algorithmus operieren, der die Bedeutung eines sprachlichen Terms prozedural als eine Abhängigkeitsstruktur von relevanten Bedeutungselementen (Rieger 1984) generiert. Diese liefert die - je nach variierenden Wissensbasen, Kontexten und Aspekten - unterschiedlichen, dabei veränderlichen semantischen Zusammenhänge (SDS: - semantische Dispositionsstrukturen), die als Voraussetzung nicht nur dafür gelten können, daß natürlich-sprachlichen Termen - je nach Gegenstandsbereich, Kommunikationszusammenhang und Redeintention - unterschiedliche Bedeutungen und/oder Interpretationen zugewiesen werden (Rieger 1985a), sondern damit als Rekonstruktionen auch jener Invarianten gedeutet werden dürfen, deren Zusammenhänge Situationen im situationssemantischen Sinne konstituieren. Als solche vermögen sie - vergleichbar den Mengen- und Begriffs-hierarchischen Beziehungen, die logisch-deduktiven Schlußprozessen zugrundeliegen - als Grundlage zu dienen für eine durch Inhalte gesteuerte algorithmische Simulation analog-assoziativer Folgerungen, die zumindest für durch begrenzte Gegenstandsbereiche definierbare Situationen realisierbar erscheint.

Abbildung 1

Abb. 1

Ein Beispiel (Abb. 1) aus einem Corpus deutscher Zeitungstexte (DIE WELT, Jg. 1964, S. 1-2 aller Nr.) veranschaulicht die hierzu entwickelten Verfahren und Prozeduren des implementierten Systems zur dynamischen Repräsentation von Wortbedeutungen anhand der SDS von ARBEIT. Jedes der im Baum enthaltenen Bedeutungselemente ist dabei durch zwei numerische Werte spezifiziert: semantische Distanz (zum dominierenden Knoten) und Kriterialität (zur Wurzel), welche die ermittelten Abhängigkeiten charakterisieren.

Literatur

  • Barwise, J./Perry, J.: Situations and Attitudes. Cambridge, MA (MIT) 1983.
  • Rieger, B.: "Feasible Fuzzy Semantics". In: Eikmeyer/Rieser (Eds.): Words, Worlds, and Contexts. New Approaches to Word Semantics, Berlin/New York: deGruyter 1981, pp. 193-209.
  • Rieger, B.: "Semantic Relevance and Aspect Dependency in a given Subject Domain. Context-driven algorithmic processing of fuzzy word-meanings". In: Walker, D.E. (Ed.): COLING 84 Proceedings. Stanford: ACL 1984, pp. 298-301.
  • Rieger, B.: "Lexical Relevance and Semantic Disposition". In: Hoppenbrouwers/Seuren/Weijters (Eds.): Meaning and the Lexicon. Dordrecht: Foris Publications 1985, pp. 387-400.
  • Rieger, B.: "Semantische Dispositionen. Prozedurale Wissensstrukturen mit stereotypisch repräsentierten Wortbedeutungen". In: Rieger, B. (Ed.): Dynamik in der Bedeutungskonstitution. Hamburg: Buske 1985, pp. 163-228.
  • Rieger, B.: Situations and Dispositions. Some Formal and Empirical Tools for Semantic Analysis. Proceeding of XIII. Intern. Congr. Linguist. Berlin: Akademie Verlag 1988 (im Druck).
  • Zadeh, L.A.: Quantitative fuzzy semantics. Information Science 3 (1971), 159-176.

  • Footnotes:

    1Erschienen in: Spillner, B. (Hrsg.): Angewandte Linguistik und Computer. Kongreßbeiträge zur 18. Jahrestagung der Gesellschaft für Angewandte Linguistik (GAL) [forum Angewandte Linguistik, Band 16], Tübingen (Narr) 1988, S. 44-47.