Burghard Rieger: Unscharfe Semantik

Vorwort

In allen Wissenschaften sind Theorien, Modelle und Beschreibungen in der Regel die in eigenen (intersubjektiv oder doch überindividuell entwickelten) Aussagesystemen nachvollziehbar dargestellten Resultate von Bemühungen um das Verständnis und/oder die Erklärung von (beobachteten, erschlossenen oder auch nur vermuteten) Zusammenhängen zwischen Entitäten, die – bei näherer Prüfung – ihrerseits Resultate von Bemühungen um das Verständnis und/oder die Erklärung von Zusammenhängen zwischen Entitäten darstellen, die ihrerseits Resultate von ... und so fort, bis zu beliebiger Tiefe (oder auch umgekehrt: beliebiger Höhe) des – einzig vom jeweiligen Stand der Forschung abhängigen – Reflexionsniveaus einer beliebigen Disziplin. Auch ohne Problematisierung einer Unterscheidung von Erklären und Verstehen als den vermeintlichen jeweiligen Aufgaben der Natur- und Geisteswissenschaften, läßt sich dabei doch differenzieren zwischen den Theorien, die allgemeine und umfassende Zusammenhänge formulieren, den daraus entwickelten Modellen, die kleinere und überschaubare Ausschnitte dieser Zusammenhänge abbilden, und der experimentellen Erprobung bzw. praktischen Anwendung dieser Modelle, welche als Erhebung und Vergleich von Daten, Überprüfung und Test von Hypothesen, Beschreibung und Analyse von Strukturen, Entwicklung und Simulation von Prozessen, etc. erst Rückschlüsse auf den explikativen Wert einer Theorie zu ziehen erlauben.

Das in solcher Differenzierung wissenschaftlichen Arbeitens angedeutete Prinzip, wonach (fortschreitender oder revidierender) Erkenntnisgewinn als Leistung und Resultat jener – im weitesten Sinne beschreibenden – Aktivitäten erscheint, durch die zunächst chaotische Regellosigkeiten versuchsweise in regelhafte Zusammenhänge und Strukturen überführt werden oder umgekehrt auch zunächst für fundamental gehaltene Einheiten sich möglicherweise als komplexere System- oder Funktionsgefüge darstellen können, erweist sich in seinem kognitiven Kern als rekursiv. Denn indem einerseits eine als vorhanden zunächst akzeptierte und als erfahrbar analysierte Wirklichkeit (oder Ausschnitte davon) in ihren Zusammenhängen erkannt und in zunehmend verfeinerten Repräsentationssystemen abgebildet wird, werden andererseits durch eben diese Abbildungen spezifizierte, neue Gegebenheiten allererst konstituiert. Sie können so als (zumindest in Ausschnitten) veränderte Realität zu erneuten Aktivitäten herausfordern, deren kognitive und – im besonderen Fall – wissenschaftliche Leistungen und Resultate derart zur Kontinuität und Dynamik semiotischer Prozesse beitragen, durch die Neues entsteht.

Dieser Zusammenhang charakterisiert freilich nicht nur die Dynamik, mit der konkurrierende wissenschaftliche Theorien einander ablösen oder ihre nach unterschiedlichen Paradigmen konzipierten (formalen, theoretischen, deskriptiven, strukturalen, prozessualen, prozeduralen, etc.) Modelle modifizieren lassen. Dasselbe Prinzip kann vielmehr allgemein als eine Art Grundmuster zur Kennzeichnung auch solcher kommunikativer Prozesse gelten, die in Situationen bestimmter verbaler (diskursiv-dialogischer) Interaktion durch regelgeleiteten Gebrauch von (natürlich-sprachlichen) Zeichen(-ketten) Bedeutungen entstehen lassen, welche von den daran beteiligten (Zeichen-)Verwendern auch verstanden werden (können).

Unter dem Begriff der Bedeutungskonstitution wird dieser übergreifend semiotisch-kognitive Zusammenhang als eine Strukturen-produzierende, prozessuale Analogie der Semantiken von Repräsentationssystemen gedeutet, denen sich die der natürlichen Sprache ebenso wie jene ihrer formalen Derivate verbinden lassen. Dieser Zusammenhang erlaubt es, Prozesse der wissenschaftlichen Modell- und Theorienbildung (d.h. den Verlauf ihrer Entwicklung, Erprobung, Veränderung, Verwendung oder Verwerfung und Aufgabe) als einen (durch operationale Kontrolle und deren intersubjektive Repräsentation systematisierten) Sonderfall derjenigen Prozesse zu begreifen, die im Rahmen auch allgemeinerer kommunikativer Interaktionen bei Sprachverwendern immer dann ablaufen, wenn sie Bedeutung (durch Intendieren, Äußern, Interpretieren, Verstehen oder Nicht-Verstehen) konstituieren. Anders als in früheren (fachlinguistischen, aber auch sprachphilosophisch und formallogisch motivierten) Semantiktheorien kann daher auf der Grundlage dieses Zusammenhangs das Phänomen Bedeutung eher als Resultat, denn als Voraussetzung von Verstehens- und Erklärungsprozessen gedeutet und für eine Rekonstruktion im Rahmen semiotisch-kognitiver Modell- und Theorienbildungen in der linguistischen Semantik fruchtbar gemacht werden.

Im Lichte einer aus semiotischer Sicht formulierten Kritik an der strukturalistischen Statik sprach-logischer Theorien und Beschreibungsmodelle erschließen sich daher zusätzliche Begründungszusammenhänge für eine eher dynamische Modellbildung in der linguistischen Semantik. Indem sie Prozesse der Sprachverwendung nicht mehr nur einbezieht, sondern zum Kernbereich ihres Gegenstandsgebietes erklärt, kann sie natürlich-sprachliche Bedeutung erstmals auch als (vages und variables) Resultat von solchen Verwendungsweisen, und nicht bloß als deren (zu präzisierende und fix bestimmbare) Voraussetzung begreifen. Das bringt eine deswegen unscharfe Semantik in unmittelbare Nachbarschaft zu sowohl kognitions-theoretischen als auch informations-verarbeitenden Forschungsansätzen, deren Zusammenhang sie – im hoffentlich objektiven wie subjektiven Sinne diese Genetivs – hier begründen kann. Dies gilt insbesondere auch angesichts der jüngsten, in die vorliegende Darstellung noch nicht einbezogenen Ergebnisse auf dem Gebiet des neural networking: anknüpfend an Ideen zur Entwicklung lernender Automaten aus den 60-er Jahren können diese sogenannten "neuen" konnektionistischen Ansätze inzwischen grundlegende kognitive Leistungen informationsverarbeitender Systeme unter anderem dadurch modellieren, daß sie die zu verarbeitende Information nicht symbolisch als adressierbare Lokalität, sondern verteilt – wie in dem hier vorgelegten bedeutungskonstituierenden Verfahren zur Analyse und Repräsentation vager Bedeutungen – als Konfigurationen unterschiedlicher Zustandswerte der Elemente eines Systems darstellen.

Die vorliegende Untersuchung wurde vor Jahren angeregt und ausgelöst durch einen Vortrag, den Verfasser die Ehre hatte, auf Einladung der Deutschen Akademie der Naturforscher LEOPOLDINA auf deren Kolloquium Naturwissenschaftliche Linguistik 1976 in Halle/Saale zu halten. Das damals gewählte Thema einer unscharfen Semantik natürlicher Sprache hat bis heute nicht aufgehört zu faszinieren, scheint seither an Attraktivität eher gewonnen als verloren zu haben, und läßt – trotz zahlreicher Neu- und Weiterentwicklungen interessanter Forschungsansätze – inzwischen mehr Probleme besser verstehen als deren (vor-)schnelle Lösungen akzeptieren [1]. Daher wird auch diese Arbeit – durchaus im Sinne kontinuierlicher Bedeutungskonstitution – nur einen derzeitigen Stand der Reflexion und der Bearbeitung des Problemzusammenhanges darstellen können, nicht seine abschließende Behandlung.

Bei der schrittweisen Klärung vieler Zusammenhänge, der Erörterung und Entwicklung neuer Fragestellungen, der Erprobung und Anwendung der vorgelegten Entwürfe und Ansätze zu (vielleicht) möglichen Teillösungen auf diesem weiten Feld der unscharfen Semantik waren mir ungezählte Gespräche und Diskussionen überaus hilfreich, die ich im Laufe der Jahre mit sehr vielen Kollegen führen konnte. Für die zum Teil wichtigen Anregungen und fruchtbaren Kritiken danke ich besonders Gabriel Altmann, Thomas T. Ballmer (†), Manfred Bierwisch, Peter Bosch, Baron Brainerd, Hans-Jürgen Eikmeyer, Brian R. Gaines, David Israel, James Joyce, Walther Kindt, Wolfgang Klein, Wolf Moskovich, Maria Nowakowska, Janos S. Petöfi, Victor Raskin, Hannes Rieser, Helmut Schnelle, Roger van de Velde, Wolfgang Wahlster, Donald E. Walker, Wolfgang Wildgen und Lotfi A. Zadeh. Ihm vor allem verdanke ich durch sein kontinuierliches Interesse an meinem Forschungen und seine unkonventionelle Sichtweise mancher semantischer Probleme vielfältige Anregungen während meiner Arbeit. Neben diesen leider meist nur am Rande von Tagungen und Konferenzen möglichen Begegnungen boten dankbar genutzten Sachverstand die Aachener Kollegen Wolf-Dietrich Bald, Hans Glinz, Horst Hamacher, Walter Huber, Ludwig Jäger, Christian Stetter, Norbert Steitz, Christian Thiel, und Hans-Jürgen Zimmermann, und in besonderem Maße natürlich die (derzeitigen und ehemaligen) Mitarbeiter und Kollegen in unserer Arbeitsgruppe für mathematisch-empirische Systemforschung (MESY): Hans-Ulrich Block, Heinz-Martin Dannhauer, Wilhelm Fucks, Karl Ludwig Herné, Constantin Thiopoulos und Dieter Wickmann.

Schließlich habe ich den Institutionen zu danken, die durch die finanzielle Förderung der verschiedenen Forschungsprojekte, an denen ich seit 1975 arbeitete, diese Untersuchungen allererst ermöglicht haben: der Deutschen Forschungsgemeinschaft (Ri/290/1/2), der Fritz Thyssen Stiftung (5.50-81/2.12-82) und dem Ministerium für Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen (IIB6-FA6953; IIB6-FA7519; IVA2-FA8600).

Der an dieser Stelle gemeinhin entbotene Dank and die Schreibkraft, die mit viel Mühe und Umsicht das Manuskript erstellt und mit TeX und LaTeX in die vorliegende Form gebracht hat, erübrigt sich, da sämtliche verbliebenen (Setz-)Fehler vom Verfasser selbst gemacht wurden.

Aachen/Trier, im Mai 1987

B.R.

Fußnote

[1] Eine Reihe von Aufsätzen, die seither erschienen sind und meist aufgrund von Vorträgen entstanden, welche Verfasser auf verschiedenen Tagungen halten konnte, behandelten bereits bestimmte Teilprobleme und Einzelaspekte des Themas. Sie bilden die Grundlage, teilweise nurmehr den Hintergrund der betreffenden Kapitel auch des vorliegenden Buches.