Vorwort

Der erste Teil des Buches behandelt Stollwercks Geschäfte mit lebenden Bildern in den Jahren 1892 bis 1897. Im Mittelpunkt steht nicht die Erfindung, sondern die Verbreitung des Films. Von der herkömmlichen Filmgeschichtsschreibung wird meist übersehen, daß erst die erfolgreiche kommerzielle Auswertung darüber entscheidet, ob aus den technischen Erfindungen zur Aufnahme und Wiedergabe bewegter photographischer Bilder überhaupt ein neues Medium wird.

Hier liegen die Verdienste des Kaufmanns Ludwig Stollwerck. Er unterhält Geschäftsbeziehungen mit den international bekannten Filmpionieren Georges Demen_, Thomas A. Edison, Birt Acres und den Brüdern Lumière. Während Filmhistoriker sonst ihr Augenmerk meist auf eine berühmte Person oder auf ein Land richten, rücken hier mehrere Filmpioniere aus verschiedenen Ländern zugleich ins Blickfeld - aus der Sicht des Filmunternehmers Ludwig Stollwerck, der den kommerziellen Ertrag ihrer Erfindungen ständig vergleichen und kalkulieren muß.

Deutlicher als anderswo tritt bei der Kölner "Geburt des Kinos" in Deutschland die Rolle der Automatenindustrie hervor, welche die Ausbreitung des Films durch die Mechanisierung der Unterhaltung begünstigt. Als Distributionsbranche ist die Automatenindustrie für die Entwicklung des neuen Mediums genauso wichtig wie die technischen Branchen der Photographie und Feinmechanik.

Die im Kölner Stollwerck-Archiv erhaltene Korrespondenz bietet einzigartige Schlüsseldokumente zum Beginn kommerzieller Filmprojektionen in Deutschland. Vor allem einige lange, von Ludwig Stollwerck diktierte Geschäftsbriefe vermitteln eine persönliche Innenansicht kaufmännischer Medienstrategien aus erster Hand. Die wichtigsten dieser Briefe werden im ersten Teil des Buches vollständig abgedruckt und im zeitgenössischen Kontext erschlossen.

Der zweite Teil des Buchs dokumentiert und erläutert ausführlich die 34 erhaltenen Lumière-Kurzfilme aus Deutschland. Um für Abwechslung im Filmprogramm zu sorgen, schickt die Firma Lumière französische Kameramänner nach Deutschland. Ihre "lebenden" Städtebilder und Aktualitäten sind die ersten Filme, die in Deutschland on location in Köln, Berlin, Frankfurt am Main, Dresden, Stuttgart, München und Hamburg für kommerzielle Projektionen gedreht worden sind. Sie sind jeweils 17 Meter lang, die Vorführung dauert knapp 50 Sekunden.

Diese kurzen Filme sind erstaunlich reichhaltige Bildquellen zur modernen Großstadterfahrung und zur Festkultur im deutschen Kaiserreich vor der Jahrhundertwende. Zugleich handelt es sich um erste Experimente im Umgang mit der kinematographischen Technik und ihren Möglichkeiten. Die Operateure aus Lyon studieren mit dem Cinématographe Lumière die photographische Wiedergabe der Bewegung von Körpern im Raum und begegnen dem Spontanverhalten ihrer Zeitgenossen vor der Kamera. Sie machen ähnliche Erfahrungen wie sie noch heutzutage jeder Filmamateur erlebt, der im Urlaub einen Videofilm drehen will: Als die Gläubigen nach dem Sonntagsgottesdienst aus dem Kölner Dom strömen, braucht der Kameramann mehrere Assistenten, die den Neugierigen mit Stöcken bedeuten, daß sie der Kamera nicht das Blickfeld versperren sollen!

Einen damals völlig neuartigen Effekt zeigt die Panorama-Aufnahme Kölns von einem Rheindampfer aus. Hier hat der Pharmaziestudent Constant Girel aus Lyon doch tatsächlich am 21. September 1896 die erste uns bekannte Kamerafahrt der Filmgeschichte gedreht!

"Die Kamera ist auf das nahegelegene Deutzer Ufer gerichtet. Im Vordergrund ziehen mehrere Reihen langgezogener Frachtkähne vorbei. Sie liegen regungslos vor Anker und bewegen sich nicht. Es ist der Cinématographe Lumière, der an ihnen vorbeigleitet - auf einem Ausflugsdampfer, der flott flußabwärts fährt. Als das Schiff nach links zur Mitte des Flusses abdreht, öffnet sich in einem Panoramaschwenk der Blick auf die Wasser des Rheins. (...)

Durch die mobile Kamera kommt auch da Bewegung auf die Leinwand, wo sich in Wirklichkeit nichts bewegt. Virtuell setzt die Fahraufnahme auch das Publikum des Cinématographe Lumière in Bewegung. Die Zuschauer sehen die vorbeiziehenden Ufer durch das Objektiv der Kamera und scheinen selbst auf dem Ausflugsdampfer über den Rhein zu gleiten." (S. 212)

Als Videocassette zum Buch sind diese 34 deutschen Lumière-Aufnahmen beim Stroemfeld Verlag erhältlich und damit auch der privaten Nutzung zugänglich.

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