Veranstaltungsbericht - Warum eine Wahlrechtsreform weiterhin dringend geboten ist

Das Thema Wahlrechtsreform ist Dauerbrenner im Deutschen Bundestag und hat Eingang in den Koalitionsvertrag der Regierungsparteien gefunden. Zu diesem Anlass veranstaltete das Institut für Rechtspolitik am Mittwoch, den 9. Februar 2022, ein digitales Rechtspolitisches Kolloquium. Als Dozent hielt Herr Prof. Dr. Joachim Behnke einen Vortrag mit dem Titel „Zu viele Abgeordnete im Deutschen Bundestag und zu viele falsche Wahlkreisgewinner: Warum eine Reform des Wahlsystems weiterhin dringlich geboten ist“.

Zu Beginn führte Frau Prof. Dr. von Ungern-Sternberg die Zuhörerinnen und Zuhörer in die Thematik ein. Sie wies insbesondere auf die Komplexität des Wahlrechts hin, was exemplarisch an der Norm des § 6 Bundeswahlgesetz verdeutlicht werde. Ein Gebiet, mit dem „man sich nicht gerade zum Mittelpunkt der Party macht“, meinte Prof. Dr. Behnke. Da das Wissen zum Wahlrecht auch bei Akademikern oft lückenhaft sei, begann er mit einer Wiederholung der Grundlagen.

Das von Prof. Dr. Behnke thematisierte Problem dreht sich um die zahlenmäßige Vergrößerung des Bundestages, die durch Überhangs- und Ausgleichsmandate entstehen kann. Am Beispiel der Bundestagswahl 2021 zeigte er auf, welche Auswirkungen vor allem die CSU auf die Parlamentsgröße haben könne. Da die CSU nur in Bayern zur Wahl antritt, wird sie durch viele Direktmandate aber nur wenige Zweitstimmen (Proporzmandate) überrepräsentiert. 2021 hatte die CSU als einzige Partei eine positive Differenz zwischen Direkt- und Proporzmandaten. Die daraus resultierenden Überhangsmandate müssen den anderen Parteien ausgeglichen werden.

Prof. Dr. Behnke nahm die CSU als Beispiel, welche Folgen kleinere Veränderungen der Wahlergebnisse auf die Bundestagsgröße haben können. Verringere sich die Zahl der Proporzmandate bei 46 Direktmandaten von 35 auf 28, folgt ein „Hebeleffekt“ durch Überhangs- und Ausgleichsmandate. Die Zahl der Abgeordneten schießt von 729 auf 911 Parlamentarier in die Höhe. Ein Wahlergebnis, das im Bereich des Möglichen liegt.

Für dieses Problem führte Prof. Dr. Behnke einige Lösungsansätze auf. Radikale Änderungen durch einen Systemwechsel ließ er dabei außen vor, da hierfür politisch kein Konsens gefunden werden könne. Stattdessen sammelte er drei zentrale Bedingungen, denen ein Reformvorschlag genügen müsse. Diesen stellte er die dazugehörigen Stellschrauben gegenüber, durch die Einfluss auf die Abgeordnetenzahl genommen werden könne:

  1. Erste Bedingung ist die Unantastbarkeit des Gewinnanspruchs der Wahlkreisgewinner. Hier könnten die überschüssigen, das heißt nicht durch Zweitstimmen gedeckten Direktmandate gekappt werden.
  2. Zweite Bedingung ist die Unantastbarkeit der Landeslisten. Überhangsmandate könnten hierbei mit Listenmandaten in anderen Bundesländern verrechnet werden.
  3. Die dritte Bedingung stellt der Interparteienproporz dar. Das bedeutet, dass die Sitzzahlen auf Bundesebene den erzielten Zweitstimmen entsprechen müssen. Einfluss könnte auf dieser Ebene genommen werden, indem Überhangsmandate unausgeglichen blieben.

Prof. Dr. Behnke stellte fest, dass es bei einer hohen Zahl an Überhangsmandaten unmöglich sei, alle drei Bedingungen einzuhalten, ohne dass es zu einer deutlichen Vergrößerung des Parlaments komme. Wenn an der Sollgröße des Bundestages von 598 Abgeordneten festgehalten werden solle, müsse die Einhaltung mindestens einer der Bedingungen aufgegeben werden.

Nachfolgend diskutierte Prof. Dr. Behnke die drei Stellschrauben und bewertete sie in Hinblick auf ihre allgemeine Eignung und die Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz. Um den Konflikt zwischen der Sollgröße und der Einhaltung der normativen Bedingungen zu umgehen, will er „das Problem an der Wurzel packen“ und die Entstehung von Überhangmandaten schon im Ansatz verhindern. Als geeignete Möglichkeiten warf er die Reduktion der Wahlkreise, wie sie der Entwurf der Ampelparteien vorsieht, und die Einführung von Mehrpersonenwahlkreisen auf. Auch zieht er in Betracht, das Konzept der Direktmandate in ihrer herkömmlichen Form gänzlich aufzugeben.

Nach Prof. Dr. Behnkes ausführlichem und informativen Vortrag schloss sich eine Diskussionsrunde unter der Leitung von Prof. Dr. von Ungern-Sternberg an. Als Erstes äußerte sich Herr Konstantin Kuhle, der als stellvertretender Fraktionsvorsitzender der FDP selbst im Bundestag sitzt. Er warnte vor einem Gewöhnungseffekt, der durch das immer weiterwachsende Parlament eintrete. Die Dringlichkeit des Themas bestehe weiterhin, weswegen durch die Festsetzung im Koalitionsvertrag eine langfristige Lösung angestrebt sei. Zuletzt wies er daraufhin, dass es 2021 auch bei einer Vergrößerung der Wahlkreise zu einem größeren Bundestag gekommen wäre.

Mit Frau Verena Hubertz war auch die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD vertreten. Sie hatte zusammen mit Herrn Kuhle in den Koalitionsverhandlungen die Pläne zur Wahlrechtsreform ausgearbeitet. Die SPD wolle insbesondere die unterschiedlichen Parteiinteressen überwinden und das ambitionierte Ziel erreichen, eine beständige und für den Bürger verständliche Lösung zu finden. Für eine gleichmäßigere Verteilung der Geschlechter befürwortet Sie ein Wahlsystem mit Doppelwahlkreisen.

Herr Prof. Dr. Bernd Grzeszick, LL.M. (Cambridge) hinterfragte zudem kritisch, ob ein größerer Bundestag tatsächlich ein so großes Problem darstelle. Im europäischen Vergleich sei das deutsche Parlament nicht übermäßig groß und die finanzielle Zusatzbelastung sei, umgelegt auf alle Bundesbürger, eher gering. Prof. Dr. Grzeszick wirkt als Sachverständiger im Kommissionsausschuss zur Reform des Bundeswahlrechts und zur Modernisierung der Parlamentsarbeit des Bundestages mit.

Zum Abschluss der Diskussion führte Prof. Dr. Behnke die Zuhörer und Zuhörerinnen in das Konzept der Mehrpersonenwahlkreise ein. Er glaubt an Einigungspotential zwischen den Parteien, denn viele Konflikte würden lediglich auf Missverständnissen beruhen. Insbesondere die Reduktion von Wahlkreisen würde alle Parteien, relativ gesehen, gleich treffen. Somit ist er für die weitere Legislaturperiode zuversichtlich gestimmt.

 

Zur Person: Prof. Dr. Joachim Behnke hat bis 1990 Theaterwissenschaft, Philosophie, Kommunikationswissenschaften, Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaft an der Ludwig-Maximilian-Universität München studiert. 1998 promovierte er sich an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg und schloss 2006 seine Habilitation an. Seit 2008 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Politikwissenschaft an der Zeppelin Universität Friedrichshafen. Als Sachverständiger hat er unter anderem die Landtage von Bayern und Schleswig-Holstein, sowie das Bundesverfassungsgericht beraten.

Interessierte finden nachstehend eine Liste mit weiterführender Literatur.