Mediale Praktiken und Soziale Frage im Etablierungsprozess neuer Projektionsmedien um 1900

Lichtbilderaufführungen in der britischen Armenfürsorge

Britische Wohltätigkeitsorganisationen bedienten sich um 1900 der Projektionskunst und der Kinematographie, um Armen Bildung zu vermitteln, Glauben und Moral zu predigen und Spenden einzuwerben. Arbeiterorganisationen nutzten Lichtbilder und Filme, um sozialpolitisch zu agitieren. Diese „Laterna Magica“- und Filmaufführungen waren professionell inszenierte, beliebte Medienspektakel. Besonders aktive Veranstalter dieser Lichtspiele waren die Salvation Army, die Church Army, die Church of England Temperance Society, die Band of Hope, die Sunday School Union und das Co-operative Movement.

Multimedialer Gottesdienst in der Kirche des Church Army-Gründers St. Mary-at-Hill, London (Aus: Living London, hg. v. George R. Sims, Vol 3. London u. a. [ca. 1903], S. 198.)

Mit „Travelling Lantern Shows“ erreichten sie vor allem in den ländlichen Gebieten Großbritanniens Millionen von Zuschauern. Oft erzählten ihre Lichtbilderserien und kurze Filme beispielhafte Geschichten von armen Kindern und Familien, um Mitleid zu wecken. Darstellungen von Alkoholikerschicksalen riefen zur Mäßigung im Umgang mit Alkohol auf. Mit biblischen oder Heiligenlegenden versuchten sie den christlichen Glauben zu stärken. Auf Arbeiterversammlungen prangerten sie die schlechten Bedingungen in den Fabriken an, und bei Armenspeisungen wurden die unterhaltsamen Projektionen eingesetzt, um den Bedürftigen ihre Situation zu erleichtern.

 

 

„Travelling Lantern Show“ der Church Army, Church Army Gazette. A Church Army Gospel Paper for the Working Man, 5.5.1900.

Forschungsinteresse

Die intensive Nutzung von Lichtbildern und Filmen in der britischen Armenfürsorge lässt vermuten, dass sie erheblich zur Entwicklung der Projektionsmedien vor dem Ersten Weltkrieg beigetragen hat. Im Zentrum der Untersuchung steht die Frage, welche sozial- und mediengeschichtliche Relevanz der Einsatz von ‚Projektionskunst’ und ‚Kinematographie’ in der Armenfürsorge für ihre Etablierung als Massenmedien hatte.

Forschungsgegenstand

Grundlage der Untersuchung sind zahlreiche Meldungen in Wochenmagazinen der karitativen und sozialpolitisch aktiven Organisationen. Aus den Veranstaltungsberichten wird auf die Gestaltung und den Ablauf von „Lantern Shows“, die Verbreitung einzelner Lichtbilderserien sowie beabsichtigte Wirkungen auf das Publikum geschlossen. Hunderte dieser fiktionalen Serien sind bis heute erhalten und wurden digitalisiert. Auch Jahresberichte, zeitgenössische Fachmagazine und Herstellerkataloge werden zur Erforschung des Themas herangezogen. Selbstaussagen der Organisationen werden mittels Lokalzeitungen überprüft.

Bericht über eine Projektionsaufführung in einer Sonntagsschule, The Sunday School Chronicle, 14.3.1890, S. 132.

Fragestellung

Um die medien- und sozialgeschichtliche Relevanz der beliebten „Lantern Shows“ in der britischen Armenfürsorge zu ergründen, stellen sich drei Fragen: Auf welchen Wegen und in welchem Ausmaß erreichten die Lichtbilder und Filme ihr Publikum? Wie wurden soziale Probleme inszeniert bzw. auf die soziale Situation armer Publika eingegangen? Auf welche Weise stellten diese farbenprächtigen, um Rezitationen, Musik, Gesang und Geräuscheffekte bereicherten, Live-Präsentationen Zuschauerbindungen her? Schließlich lässt sich der Weg vom Lichtbildervortrag zum Massenmedium nachzeichnen.