Einleitung

Das am 11. März 2015 auf YouTube eingestellte Poesievideo „Gedichte im O-Bus. Kiev“ zeigt paradigmatisch, dass Transition in der Gegenwartslyrik nicht nur eine im Vergleich zu früheren Zeiten ungekannte Verbreitung, sondern auch neue Qualitäten gewonnen hat. Lyrik ist mitten in der Gesellschaft angekommen, hier wörtlich im Transit, unterwegs in einem Linien-Bus in Kiev. Im Verlauf des Videos gibt es verschiedene Gesprächsbeiträge in Gedichtform (siehe unter: https://www.youtube.com/watch?v=W_MY7P5-fIg).

Transition betrifft in dem Video vier Grenzen: erstens die Grenzen der Gattung: Lyrik ist hier Gedicht, Performance, Drama und Film. Zweitens die Grenzen der Sprache: inmitten des Ukraine-Russland-Konflikts wird im Herzen Kievs auf Russisch gedichtet, während die Quellenangaben das Video als ukrainische Kunst ausweisen. Dies bedeutet drittens eine Transition der distinkt gesetzten Grenze zwischen russischer und ukrainischer Kultur. Und viertens sind Grenzen der Gesellschaft betroffen, indem die Akteure mit der Sprachwahl gegen die politische Norm verstoßen.

Transition in der Gegenwartslyrik betrifft also insbesondere die Grenzen von Gattung, Sprache, Kultur und Gesellschaft. Auch verdeutlicht das Beispiel, warum wir im Projekttitel nicht russische Lyrik, d.h. im ethnischen Sinn oder auf die Staatsgrenzen bezogen, sondern russischsprachige Lyrik angeben.

Russischsprachige Lyrik ist jenseits der Russischen Föderation auf drei Kontinenten besonders verbreitet: Europa, Asien und Amerika, und zwar einerseits, weil russische EmigrantInnen hier bestimmte Länder bevorzugen, und andererseits, da durch die Nachbarschaft Verflechtungen begünstigt werden. Für die russischsprachige Lyrik sind in Europa aufgrund der Emigration Deutschland, die Schweiz oder Frankreich, in Amerika Kanada und die USA besonders wichtig, und in Asien aufgrund der Nachbarschaft die VR China sowie Japan infolge auch seiner sprachlichen Vermittlerrolle.