Tagungsbericht: Funktionsbedingungen unabhängiger Verfassungsgerichtsbarkeit

Gemeinsame Tagung des Landtags Rheinland-Pfalz und des Instituts für Rechtspolitik an der Universität Trier am 20. Oktober 2017 im Plenarsaal des Landtags.

Am 18. Mai 1947 wurde die Verfassung des Landes Rheinland-Pfalz in einer Volksabstimmung mehrheitlich angenommen. Es war die Geburtsstunde dieses nach Ende des Zweiten Weltkriegs neu gebildeten Bundeslandes. Aus Anlass des Verfassungsjubiläums und vor dem Hintergrund besorgniserregender Entwicklungen in einigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union widmete sich die rechtspolitische Tagung „Funktionsbedingungen unabhängiger Verfassungsgerichtsbarkeit“ der Frage, welche rechtlichen, politischen und institutionellen Rahmenbedingungen gegeben sein müssen, damit eine unabhängige funktionsfähige Verfassungsgerichtsbarkeit gewährleistet ist. Vor diesem Hintergrund referierten namenhafte Verfassungsrichter sowie Wissenschaftler aus drei EU-Mitgliedstaaten – namentlich Frankreich, Polen und Deutschland – insbesondere über die verfassungsrechtlichen und -politischen Grundlagen, institutionellen Strukturen sowie rechtspolitischen Erfahrungen, konkret bezogen auf die Ausgestaltung durch die jeweilige Verfassung.

Im ersten Vortrag mit dem Titel „L’indépendance du Conseil constitutionnel“ konstatierte Prof. Mathieu Disant (Universität Lyon-Saint-Etienne) mit Blick auf die Situation in Frankreich, dass die Unabhängigkeit der Verfassungsgerichtsbarkeit sehr komplex und von besonderer Bedeutung sei. Unabhängigkeit der Verfassungsgerichtsbarkeit stelle eine Grundlage des Rechtsstaates dar. Prof. Disant resümierte, dass sich die Analyse einer unabhängigen Verfassungsgerichtsbarkeit als komplexe Aufgabe erweise und sich nicht darin erschöpfe, deren Vorliegen oder Abwesenheit festzustellen. Die Verfassungsgerichtsbarkeit befinde sich europaweit in einer schwierigen Situation, in der sie kein Machtmittel der Regierung darstellen dürfe, aber gleichzeitig auch nicht zu einer alternativen Regierung durch Rechtsprechung führen dürfe. Deshalb müsse die Verfassungsgerichtsbarkeit gleichzeitig mutig, aber auch zurückhaltend. Es müsse daran erinnert werden, dass Unabhängigkeit nur ein Mittel zum Handeln darstelle, und daher ständig zu prüfen sei, ob das bestehende Niveau der Unabhängigkeit als Handlungsrahmen ausreiche, um die ordnungsgemäße Durchführung der verfassungsrechtlichen Kontrolle zu gewährleisten.

Die anschließenden Vorträge waren den Funktionsbedingungen unabhängiger Verfassungsgerichtsbarkeit vor dem Hintergrund der zu dieser Zeit gegenwärtigen Entwicklung in Polen gewidmet. Prof. Piotr Tuleja (Richter des polnischen Verfassungsgerichtshofs, Professor an der Jagiellonen-Universität Krakau) führte aus, dass die polnische Verfassung von 1935 als autoritär zu qualifizieren sei; sie habe nicht nur die verfassungsrechtliche Kontrolle von Gesetzen ausgeschlossen, sondern die Unabhängigkeit der Gerichte insgesamt in Frage stellte. Erst im Jahre 1982 sei das Verfassungsgerichtsgesetz verabschiedet worden, mit dem ein unabhängiger Verfassungsgerichtshof eingeführt worden sei. Dies habe zunächst dazu gedient, den Anschein eines demokratischen Regimes zu vermitteln. Die Besonderheit des polnischen Modells der Verfassungsgerichtsbarkeit sei damit, dass es während der kommunistischen Periode geprägt wurde. Gleichwohl habe sich auch in Polen eine unabhängige Verfassungsgerichtsbarkeit entwickelt, welche in ihren Entscheidungen keiner Kontrolle unterlegen habe. Die zum Zeitpunkt der Tagung vorliegende Verfassungskrise stelle jedoch die verfassungsrechtliche Position des Verfassungsgerichtshofs und das bestehende Modell der Verfassungsgerichtsbarkeit in Frage. Aus der Perspektive der letzten zwei Jahre könne festgestellt werden, dass der Streit um die Wahl der Richter des Verfassungsgerichtshofs nur ein Vorwand für das Entstehen dieser Krise sei. Das am 13. Dezember 2015 verabschiedete Gesetz über den Verfassungsgerichtshof und die Weigerung, ein Urteil des Hofs zu veröffentlichen, mit dem entschieden worden sei, dass das Gesetz nicht mit der Verfassung vereinbart werden könne, verstießen gegen die Grundlagen der Verfassungsgerichtsbarkeit in Polen. Nachfolgende Gesetzesvorlagen, die sich auf die ordentlichen Gerichte und den Obersten Gerichtshof bezögen, würden grundsätzliche konstitutionelle Zweifel aufwerfen. Angesichts einer solchen weitverbreiteten Verfassungskrise sei es derzeit schwer vorauszusagen, ob die Verfassungsgerichtsbarkeit in Polen überleben bzw. wie sie künftig aussehen werde.

Im Anschluss war Prof. Fryderyk Zoll (Jagiellonen-Universität Krakau) bemüht, die von Prof. Tuleja bereits angesprochene verfassungsrechtliche Krise aus allen Blickwinkeln zu beleuchten und ihre Bedeutung für die Verfassungsgerichtsbarkeit darzulegen. Prof. Zoll stellte fest, dass die in Polen gegenwärtige Verfassungskrise noch lange Zeit andauern werde. Es gebe große Unstimmigkeiten über die Bedeutung des Verfassungsgerichtshofs. In weiten Teilen der Bevölkerung werde es nicht mehr als Schutzorgan verstanden. Insgesamt sei es zu einer erheblichen Politisierung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle gekommen, was die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichtshofs massiv beeinträchtige. Eine unabhängige Verfassungsgerichtsbarkeit kollidiere in den Augen der regierenden Parteien mit dem Grundsatz der Volkssouveränität, weswegen die Regierung versuche, die Kontrolle über diese zu gewinnen.

Nach anschließender Diskussionsrunde und Mittagspause schlossen sich im Tagungsprogramm Ausführungen hinsichtlich den Funktionsbedingungen unabhängiger Verfassungsgerichtsbarkeit vor dem Hintergrund der deutschen Verfassungs- und Gerichtspraxis an.Zunächst führte Herr Peter Müller (Richter des Bundesverfassungsgerichts) in seinem Vortrag mit dem Titel „Das System der Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland“ aus, dass die Ausgestaltung der Verfassungsgerichtsbarkeit einen Versuch darstelle, aus der Geschichte zu lernen. Ziel sei es gewesen, nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus strukturelle verfassungsrechtliche Sicherungen zu schaffen, dass sich Derartiges nicht wiederhole. Müller konstatierte, dass die Befürworter einer Verfassungsgerichtsbarkeit akzeptieren müssten, dass dieses fähig sein müsse, unabhängig zu handeln, und mit hinreichenden Kompetenzen ausgestaltet sein müsse, um den anderen Staatsgewalten ebenbürtig gegenüber treten zu können. Jede Unterminierung seiner Arbeit, sei es durch eng geschnürte Verfahrenskonzepte, durch Vorgaben, in welcher Reihenfolge die Fälle zu erledigen seien, durch kontrollfreie Verfassungsräume und durch die Auswahl der Richter nach der jeweiligen politischen Mehrheit, sei es durch die Aufblähung der Spruchkörper zur Durchsetzung personalpolitischer Ziele, durch überzogene Mehrheitsregelungen, um Entscheidungsfindungen zu verhindern, oder durch Infragestellung der Verbindlichkeit der Entscheidungen, die durch die Verfassungsgerichte getroffen würden, sei unzulässig. Einige europäische Staaten befänden sich in einer Entwicklung, die geprägt sei von einer schrittweisen Erosion des Rechtsstaates. Unabhängige Verfassungsgerichtsbarkeit könne diesen Prozess aufhalten, weswegen es sich lohne, für unabhängige Verfassungsgerichtsbarkeit einzutreten.

Daran anknüpfend stimmte Prof. Kyrill-A. Schwarz (Universität Würzburg) zu, dass es sich bei dem deutschen Verfassungsgericht um eine bemerkenswerte Institution handele, die sich auch bei der Bevölkerung großer Beliebtheit erfreue. Bei Politikern hingegen stieße das Verfassungsgericht oft auf Argwohn und Misstrauen, weil es oft auch politischen Einfluss ausübe. Schwarz führte aus, wesentliche Funktionsbedingung der unabhängigen Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland sei die Universalität des Verfassungsrechts und letztlich damit das Grundgesetz selbst. Ohne die überragende Bedeutung, die das Grundgesetz im Nachkriegsdeutschland errungen habe, sei auch die Erfolgsgeschichte des Bundesverfassungsgerichts nicht denkbar Wenn das Grundgesetz als „leading model of democratic constitutionalism“ bezeichnet werde, sei es nicht verfehlt, das Bundesverfassungsgericht als „leading court“ zu titulieren.

Den Abschluss der Tagung stellte eine Podiumsdiskussion aller Referenten unter der Leitung von Prof. Alexander Proelß (Universität Trier, Institut für Rechtspolitik) dar. Gegenstand der Diskussionsrunde war es, das Referierte noch einmal Revue passieren zu lassen und einen Blick in die Zukunft zu wagen. Die Diskutanten stimmten überein, dass es aufgrund der jeweiligen nationalen Besonderheiten schwierig bis unmöglich sei, ein funktionierendes Modell von Verfassungsgerichtsbarkeit undifferenziert auf andere Länder zu übertragen. Möglicherweise lohne es sich jedoch, über ein europäisches Konzept von Verfassungsgerichtsbarkeit nachzudenken. Des Weiteren kamen die Diskutanten überein, dass politische Maßnahmen nicht die Unabhängigkeit der Verfassungsgerichtsbarkeit gefährden dürften. Als besonders geeignete Voraussetzung für das Erhalten einer unabhängigen Verfassungsgerichtsbarkeit kristallisierte sich im Laufe der Diskussion insbesondere Regelungsautonomie hinsichtlich der Verfahrensordnung sowie die Möglichkeit, individuelle Rechtsbeschwerde gegen Entscheidungen der einfachen Gerichte durchzuführen, heraus.