Der lange Weg zur Straffreiheit

Im April empfahl die Expertenkommission der Bundesregierung die Straffreiheit von Schwangerschaftsabbrüchen im ersten Drittel der Schwangerschaft. Prof. Dr. Carina Dorneck forscht an der Universität Trier zu medizinrechtlichen Fragen, auch im Zusammenhang mit Schwangerschaftsabbrüchen und Fortpflanzungsmedizin. Wie sie die Empfehlung einschätzt.

Im Recht müssen häufig verschiedene gleichrangige Grundrechte in einen schonenden Ausgleich gebracht werden. Juristinnen und Juristen nennen das praktische Konkordanz. Das klingt theoretisch ganz einfach. Praktisch aber gehen damit hochemotionale, ethische, gesellschaftliche und rechtliche Fragen einher. Insbesondere bei Fragen von Schwangerschaftsabbrüchen ist dies der Fall: Auf der einen Seite steht das Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren und auf der anderen Seite das Lebensrecht – auch des ungeborenen Lebens.

Insgesamt 18 Expertinnen und Experten aus Medizin, Soziologie, Gesundheitswissenschaften, Ethik und Rechtswissenschaften legten im April 2024 einen Bericht zur neuen Regulierung von Schwangerschaftsabbrüchen vor. Die von der Bundesregierung eingesetzte interdisziplinäre Kommission plädierte dafür, das Selbstbestimmungsrecht der Frau stärker als bisher zu berücksichtigen, indem sie eine Regelung des Schwangerschaftsabbruchs außerhalb des Strafgesetzbuches empfahl. „Das Strafrecht muss – als das schärfste Schwert des Staates – stets Ultima Ratio sein. Schwangerschaftsabbrüche sind aber höchst individuelle Entscheidungen, die das eigene Leben und den eigenen Körper betreffen. Eine Regelung außerhalb des StGB würde diese sehr persönliche Entscheidung entkriminalisieren und so auch enttabuisieren. Daher begrüße ich, wie viele gesellschaftliche Gruppen und auch viele Rechtsexpertinnen und -experten, die Empfehlung der Kommission“, führt Prof. Dr. Carina Dorneck, die seit dem Sommersemester als Rechtswissenschaftlerin an der Universität Trier tätig ist, aus.

Aktuelle Regelung und der Weg dahin

Grundsätzlich rechtswidrig, aber unter bestimmten Voraussetzungen straffrei: So lautet das aktuelle Gesetz zum Schwangerschaftsabbruch in der Kurzfassung. Im Strafgesetzbuch ist das der einzige Ausnahmefall, in dem der Gesetzgeber eine Straflosigkeit bei Rechtswidrigkeit ausdrücklich regelt. Aber wie kam es zu dieser Konstruktion? Paragraf 218 im Strafgesetzbuch sorgte bereits mehrfach in der Historie der Bundesrepublik für Aufsehen. „Zwei entscheidende Urteile des Bundesverfassungsgerichts haben sowohl die gesellschaftliche als auch die rechtliche Debatte geprägt“, fasst Carina Dorneck zusammen.

Die aktuelle rechtliche Regelung basiert auf einer 1974 verabschiedeten Reform des Gesetzes von SPD und FDP, die den Schwangerschaftsabbruch bis zur zwölften Woche erlauben sollte. Nach Klagen von fünf konservativen Landesregierungen entschied das höchste deutsche Gericht, dass die sogenannte Fristenregelung verfassungswidrig sei, da sie dem Recht auf Leben (Art. 2 GG) nicht entspreche. „Daraufhin wurde 1976 die sogenannte Indikationsregelung eingeführt. Der Schwangerschaftsabbruch blieb verboten, es sei denn, es wurde eine medizinische, eugenische, soziale oder kriminologische Indikation gestellt“, so die Expertin.

Weiteres Reformpotential ergab sich durch die Wiedervereinigung. In der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) war es legal bis zur zwölften Woche eine „Unterbrechung der Schwangerschaft in eigener Verantwortung“ zu entscheiden. Das Gesetz wurde aber mit dem Einigungsvertrag 1990 aufgehoben. Das Schwangeren- und Familienhilfegesetz sollte 1992 erneut die Straffreiheit eines Abbruchs regeln, jetzt kombiniert mit einer Beratungspflicht. Bevor die Novelle jedoch in Kraft treten konnte, rief ein Antrag der bayrischen Staatsregierung das Bundesverfassungsgericht auf den Plan. Und auch dieses Mal urteilte das Gericht, dass das grundsätzliche Verbot eines Schwangerschaftsabbruchs bestehen bleiben müsse. „In der Urteilsbegründung bekräftigte das Bundesverfassungsgericht jedoch die Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs bis zur zwölften Woche und empfahl ein Schutzprinzip, das auf einer präventiven Beratung fußt. Der Gesetzgeber setzte diese Vorgaben in Paragraf 218a um und schuf damit die Norm, wie wir sie heute kennen“, erläutert Dorneck die Entscheidung.

Eine Neuregelung außerhalb des StGB?

Eine Neuregelung des rechtmäßigen Schwangerschaftsabbruchs sollte der Gesetzgeber nun außerhalb des StGB ausgestalten, so die Kommission. Dem Gesetzgeber steht hierbei ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Wie diese aussehen könnte, erklärt Carina Dorneck so: „Der Regelfall, also der selbstbestimmte Schwangerschaftsabbruch in den ersten zwölf Wochen durchgeführt von medizinischem Personal, würde dann in Paragraf 218 und 218a gestrichen. Eine neue Regelung sollte dann das Recht auf einen straflosen Schwangerschaftsabbruch in der Frühphase sicherstellen.“ Das Strafrecht könne aber weiterhin gewisse Formen von Schwangerschaftsabbrüchen als Straftatbestände regeln. Zum Beispiel, wenn der Abbruch gegen den Willen der Schwangeren vorgenommen, er in der Spätphase erfolgt oder durch nicht medizinisch Ausgebildete ausgeführt wird.

Besonders häufig als defizitär betrachtet wird zudem das Beratungsmodell. Die Beratung, die mindestens drei Tage vor dem Abbruch stattfinden muss und zu der die Schwangere verpflichtet ist, hat nur einen geringen Einfluss auf die Entscheidung für oder gegen den Abbruch. Das zeigten bereits eine empirische Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung aus dem Jahr 2016 sowie eine 2023 erschienene Studie gefördert durch das Gesundheitsministerium. Carina Dorneck und weite Teile der juristischen Expertinnen und Experten fordern eine neutrale, ergebnisoffene Beratung: „Es ist zunächst einmal wichtig, dass die Schwangere mit Wissen versorgt wird, welche Hilfen, Beratungsangebote, finanziellen Mittel und auch Betreuungsangebote es während der Schwangerschaft, bei der Entscheidung zum Abbruch oder nach der möglichen Geburt des Kindes gibt. Stigmatisierung oder Druck sind hier nicht mit dem Grundrecht auf Selbstbestimmung zu vereinbaren“, erklärt die Expertin. Grundsätzlich dürfe eine Pflicht auf Beratung aber bestehen bleiben, sofern die Beratung ergebnisoffen erfolgt. Die Bedenkzeit von drei Tagen sei jedoch umstritten, da es keine medizinische, psychologische oder andere empirische Grundlage dafür gebe.

„Die Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen ist zentral, um Stigmatisierungseffekte zu vermindern und sowie letztlich auch die gesellschaftlichen Tabus aufzubrechen. Da kann eine Regelung außerhalb des StGB helfen“, meint Dorneck. Zwei zentrale Probleme jedoch bleiben. Zum einen kann es nach der Empfehlung der Kommission noch dauern, bis sich ein neuer Gesetzesvorschlag politisch durchsetzt. Zum anderen hilft es allein nicht, Stigmatisierungseffekte zu vermindern, denn die defizitäre Versorgungslage ist nicht nur in der Region Trier problematisch. Insbesondere in vielen ländlichen Regionen bleiben die Wege zum nächsten behandelnden Krankhaus oder zu Arztpraxen, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen, lang.