65. Bitburger Gespräche 2022: Die Handlungsfähigkeit des demokratischen Verfassungsstaates in Krisenzeiten

Am 13. und 14. Januar 2022 fanden die 65. Bitburger Gespräche statt. Die Jubiläumsveranstaltung widmete sich dem Thema der „Handlungsfähigkeit des demokratischen Verfassungsstaates in Krisenzeiten“. Auf der von der Gesellschaft für Rechtspolitik (gfr) und dem Institut für Rechtspolitik Trier (IRP) ausgerichteten Tagung diskutierten hochrangige Juristinnen und Juristen aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Justiz und Verwaltung darüber, auf welche Weise der demokratische Rechts- und Verfassungsstaat auch in Krisenzeiten handlungsfähig bleiben kann, ohne im Zuge der Krisenbewältigung die ihn prägenden Prinzipien über Bord zu werfen.

Der wissenschaftliche Leiter der Tagung, Professor Dr. Tristan Barczak, LL.M. (Passau), führte in das Thema ein, indem er die Krisenphänomene der Moderne als einen Stresstest für den demokratischen Verfassungsstaat kennzeichnete. Nicht erst die COVID-19-Pandemie sei eine besondere rechtsstaatliche wie gesamtgesellschaftliche Herausforderung; diese reihe sich vielmehr ein in vergleichbare Krisenerscheinungen wie die Folgen des Klimawandels oder eines internationalen Terrorismus. Der demokratische Verfassungsstaat denke nicht vom Ausnahmezustand, sondern vom Normalzustand her. Dies lasse ihn nicht Wenigen in der Krisensituation als „überfordert“ oder gar „wehrlos“ erscheinen. Barczak warnte jedoch vor derartigen Verfallserzählungen auf Rechtsstaat, Föderalismus und Demokratie und kritisierte eine immer wieder aufscheinende autoritäre Sehnsucht nach einem starken Staat. Sowohl das Grundgesetz als auch die Verfassungsorgane, namentlich der Deutsche Bundestag und das Bundesverfassungsgericht, hätten sich in der aktuellen Krise – bei aller berechtigten Kritik am Krisenmanagement und dessen Kontrolle – als handlungsfähig und resilient erwiesen.

Die Tagung war in vier Themenblöcke untergliedert, im Rahmen derer sich die Referentinnen und Referenten den drängenden Fragen rechtsstaatlicher Krisenbewältigung widmeten. Mit Blick auf das Infektionsgeschehen fand die Veranstaltung in einem hybriden Format statt: Neben den Referentinnen und Referenten waren der wissenschaftliche Leiter und Vorstandsmitglieder der gfr in Präsenz vor Ort. Darüber hinaus konnten mit dem Richter des Bundesverfassungsgerichts a. D., Professor em. Dr. Dr. h.c. mult. Dieter Grimm, LL.M. (Berlin), Professor Dr. Friedhelm Hufen (Mainz) und Professor Dr. Oliver Lepsius, LL.M. (Münster) drei  Podiumsgäste gewonnen werden, die ihre Expertise in die Diskussion der Referate zum Abschluss des jeweiligen Panels einbringen konnten und damit den Austausch zwischen den Teilnehmenden sowie den Referentinnen und Referenten förderten.

Der erste Themenblock stand unter dem Titel „Verfassungsprinzipien unter Bewährungsdruck“. Im ersten Referat widmete sich der Richter des Bundesverfassungsgerichts a. D., Professor Dr. Dr. Udo Di Fabio (Bonn), der „Handlungsfähigkeit als Begriff des Verfassungsrechts“. Di Fabio zeigte auf, dass der Begriff der Handlungsfähigkeit im geltenden Verfassungsrecht kaum und in der Verfassungsrechtsprechung allenfalls fragmentarisch reflektiert werde, verfassungsrechtliche Wertungsspielräume aber gleichwohl anleiten könne. Im Anschluss daran beleuchtete Professor Dr. Horst Dreier (Würzburg) die Rolle von „Rechtsstaat, Föderalismus und Demokratie in Krisenzeiten“. Anknüpfend an das Eingangsreferat des wissenschaftlichen Leiters betonte Dreier, dass sich die aktuelle Krisensituation verfassungsrechtlich nicht in den Kategorien von „Ausnahmezustand“ oder „Staatsnotstand“ erfassen lasse. Gleichwohl sei es unbestreitbar, dass die zentralen Verfassungsprinzipien des Grundgesetzes unter Bewährungsdruck standen und nach wie vor stehen. Insbesondere der Deutsche Bundestag habe es im Jahr 2020 lange Zeit versäumt, die Krisenreaktion in den parlamentarischen Prozess einzubinden oder gar gesetzgeberisch abzusichern. Insofern habe in dieser ersten Phase der Pandemie tatsächlich die „Stunde der Exekutive“ geläutet.

Der zweite Themenblock widmete sich der Frage „Demokratische Institutionen in der Krise?“. Der Richter des Bundesverfassungsgerichts, Professor Dr. Andreas L. Paulus (Göttingen), ging dabei zunächst der Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit in Krisenzeiten nach. Aus der Binnenperspektive des Bundesverfassungsgerichts schilderte Paulus die Herausforderungen, denen sich der Erste Senat insbesondere im Zusammenhang mit den Beschlüssen vom 19. November 2021 zur sogenannten Bundesnotbremse gegenübersah. Er betonte dabei zugleich, dass das Narrativ übermäßiger verfassungsgerichtlicher Zurückhaltung gegenüber grundrechtsintensiven Maßnahmen der Pandemiebekämpfung durch eine reichhaltige Kammerrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts widerlegt werde. Nach einer kontroversen Diskussion widmete sich die Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, Dr. Katarina Barley (Brüssel), der Funktion der „Parlamente in der Pandemie“. In ihrer Videobotschaft – Frau Barley konnte aufgrund des plötzlichen Todes des Präsidenten des EU-Parlaments nicht vor Ort sein – legte sie besonderen Wert auf den ständigen Dialog zwischen dem Europäischen Parlament und den Volksvertretungen der Mitgliedstaaten. Insbesondere gegenüber denjenigen Mitgliedstaaten, deren Parlamente oder Regierungen aus Anlass der Pandemie tatsächlich ein Notstandsregime in Kraft gesetzt und Freiheitsrechte suspendiert hätten, sah Barley das Europäische Parlament in einer Mittlerrolle.

Im dritten Themenblock wurden die „Rechtsstaatliche Bewältigung von Krisen und der Einfluss der (digitalen) Medien“ verhandelt. Professor Dr. Uwe Volkmann (Frankfurt a. M.) erörterte zunächst die staatlichen Handlungsformen in der Krise von der Rechtsverordnung bis zum Maßnahmegesetz. Volkmann kritisierte, dass im Zuge der Pandemiebekämpfung die „Logik der Tat“ die „Logik der Form“ zunehmend verdrängt habe. In Gesetzesform gekleidete gesundheitspolizeiliche Verfügungen unterliefen rechtsstaatliche Sicherungen in Gestalt der Handlungsformvorbehalte und der Garantie effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes. Im Anschluss daran analysierte Dr. Thomas Darnstädt (Hamburg) die Öffentlichkeitsarbeit der Regierung sowie die Verantwortung der Medien in Krisenzeiten. In der Krise sei prinzipiell auch die „Kommunikation in der Krise“. Darnstädt skizzierte zum einen die dogmatischen Untiefen staatlichen Informationshandelns und wertete die Glykol-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2002 als einen „dogmatischen Dammbruch“. Zugleich legte Darnstädt besonderen Wert auf die Feststellung, dass Regierung und Medien auch in Krisenzeiten nicht zu miteinander kommunizierenden Röhren verbunden werden dürften. „Krisenkommunikation“ dürfe nicht Inhalt medialer Berichterstattung werden, sondern müsse stets ihr Gegenstand bleiben.

Das „Krisenrecht im Rechtsvergleich“ war schließlich Gegenstand des vierten Themenblocks. In diesem Kontext eröffnete Professorin Dr. Aurore Gaillet (Toulouse) zunächst französische Perspektiven auf Notstand und Ausnahmezustand. Wie bereits andere Referentinnen und Referenten zuvor legte sie dar, dass die Pandemie als eine Art „Vergrößerungsglas“ fungiere, welches Schwächen und Defizite des französischen Verfassungssystems augenfällig werden lasse. Gaillet ging dabei dezidiert auf die Rolle der Gerichte ein und konstatierte eine für Frankreich typische Vermengung von politischer und strafrechtlicher Verantwortlichkeit der Entscheidungsträgerinnen und -träger. Die Sorge vor strafrechtlicher Verfolgung bis hin zu einem „Strafrechtspopulismus“ sei mit Blick auf eine effektive Krisenbewältigung hinderlich und trage die Gefahr zur Paralyse in sich. Im Anschluss widmete sich der Deutsche Botschafter a. D., Dr. Eckhard Lübkemeier (Berlin), dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit als Bedingung für europäische Handlungsfähigkeit in Normal- und Krisenzeiten. Lübkemeier betonte den Stellenwert der Europäischen Union als „Demokratie- und Werteunion“, die sich indes seit langem in einem „an- und abschwellenden Krisenmodus“ befinde. Um auch in diesem Zusammenhang den Weg zurück in die Normalität zu finden, müsse die Bundesrepublik innerhalb der EU mehr politische Verantwortung übernehmen und mehr investieren.

Interessierte finden hier weiterführende Literatur.