Editorial

 

„Die > siebte Kunst< hat ein Menschenalter erreicht. Da darf man sich wohl daran erinnern: Film beginnt mit Méliès." Dies schrieb Antonio Hernandez 1963 anläßlich einer Méliès-Ausstellung im Gewerbemuseum Basel. Daß Georges Méliès die Filmgeschichte nachhaltig geprägt hat, steht außer Frage. Was aber bedeutet: „Film beginnt mit Méliès"?

Zu einer Zeit, in der die Brüder Lumière  im Kinematographen kaum mehr sehen als ein wenig zukunftsträchtiges, da wissenschaftliches Instrument, glaubt Méliès an das Potential des Films als Massenunterhaltungsmittel. Zwar haben schon vor ihm William K.L. Dickson (für die Firma Thomas Alva Edison), die Brüder Skladanowsky, die Brüder Lumière und andere Filmpioniere der ersten Jahre inszenierte Aufnahmen gedreht, doch handelt es sich dabei zum größten Teil um vor der Kamera wiederholte Varieté- oder  Show-Nummern. Die in jedem Sinn des Wortes besondere Rolle, die Méliès im frühen Film spielt, gründet darin, daß er ein homme de spectacle ganz anderer Art ist. In seinen Filmen verknüpft er Elemente von Bühne und Zaubertheater, verarbeitet er Motive aus Literatur, Oper, Malerei und Geschichte, aber auch aktuelle Ereignisse, ersinnt er verblüffende, technisch oft äußerst komplexe Tricks und schafft daraus eine neue Darstellungsform: das Filmschauspiel. Auch hier steht, wie er selbst betont, das Spektakuläre im Vordergrund, doch sind die (Zauber-)Nummern nicht mehr einfach „abgefilmte Bühne", sondern speziell für die Kamera neu gestaltet, inszeniert und gespielt. Die Tricks und Effekte sind nun Teil komplexer und für ihre Zeit außergewöhnlich langer Spielhandlungen, die Méliès` ureigene Handschrift tragen. Häufig kopiert, bleibt sein Stil unverwechselbar. Die Originalität, innovative Kraft und handwerklich-künstlerische Perfektion seiner Filme machen ihn schnell populär, erobern ihm einen Markt und legen damit in gewisser Hinsicht den Grundstein zu dem, war für uns heute das Kino ausmacht: dem langen Spielfilm. Retrospektiv betrachtet, mögen andere Pioniere (wie die frühen englischen Regisseure oder der Amerikaner Edwin S. Porter) dem „klassischen" Erzählkino mit ihren Filmen näher stehen; die Bedeutung von Méliès liegt vor allem darin, daß er andere Möglichkeiten der Kinematographie ausgelotet hat.

Im deutschen Sprachraum hat man sich zuletzt vor dreißig Jahren ausführlicher mit Méliès auseinandergesetzt, mit Hommagen und Retrospektiven zu seinem hundertsten Geburtstag. Eine 1963 vom Filmstudio Frankfurt unter Leitung von Herbert Birett erarbeitete, hektographierte Broschüre ist hier besonders hervorzuheben. Seither ist unseres Wissen keine filmgeschichtliche Arbeit über Georges Méliès auf deutsch erschienen.

Dagegen haben in anderen europäischen Ländern und auf dem amerikanischen Kontinent eine Reihe vom Filmhistorikern zu ganz unterschiedlichen Aspekten von Werk und Wirkung von Georges Méliès geforscht: Paolo Cherchi Usai, Antonio Costa, John Frazer, André Gaudreault, Paul Hammond, um nur einige zu nennen (und ganz zu schweigen von den zahlreichen Arbeiten aus Frankreich).

Wir wollen mit dem Schwerpunkt dieser Ausgabe zu Georges Méliès - Magier der Filmkunst keine monographische Einführung in Leben und Werk des vielseitigen Meisters geben. Unser Ziel ist bescheidener: Wir möchten Anregungen liefern, damit eine filmhistorische Auseinandersetzung mit Georges Méliès, die über sporadische Filmabende in kommunalen Kinos hinausgeht, im deutschen Sprachraum wieder in Gang kommt. Sprachbarrieren mögen bei der unzureichenden Rezeption der ausländischen Méliès-Forschung eine Rolle gespielt haben. Deshalb präsentieren wir einige wichtige Untersuchungen in deutscher Übersetzung. Darüber hinaus haben wir noch einige Filmhistoriker gebeten, Originalbeiträge für diese Ausgabe zu schreiben, die zwar eher in den Randgebieten der Méliès-Forschung angesiedelt sind, dadurch aber auch verdeutlichen, wie facettenreich die internationale Diskussion um Méliès inzwischen ist. Auch die von Frank Kessler zusammengestellte Forschungsbibliographie mag zu einer weiteren Beschäftigung mit Méliès anregen.

Wir eröffnen diese Ausgabe mit einem historischen Dokument. In seinem 1907 veröffentlichten Aufsatz „Les Vues cinématographiques" erläutert Georges Méliès die vielfältigen Arbeitsschritte, die nötig sind, damit Meisterwerke wie DIE REISE ZUM MOND (VOYAGE DANS LA LUNE, 1902) entstehen können. Dieses zeitgenössische Zeugnis wird hier (nach seiner ersten deutschen Publikation in der erwähnten Broschüre des Filmstudios Frankfurt) erneut zugänglich gemacht.

Gerade weil Méliès für seine Firma Star Film fast ausschließlich Studioproduktionen gedreht hat, werden seine Arbeiten häufig als „abgefilmtes Theater" gesehen. Daß diese Auffassung zu simpel ist, macht schon Méliès´ eigener Text deutlich. André Gaudreaults Beitrag über „Theatralität" und Narrativität bei Méliès zeigt darüber hinaus, daß diese traditionelle Sichtweise die spezifischen Qualitäten dieser Filme übersieht. Wichtige Quellenforschung zu diesem Themenkomplex leistet auch die Rekonstruktion des Filmateliers in Montreuil, die ein Urenkel von Méliès, Jaques Malthête, vorgenommen hat.

Guy Gauthier geht den Einflüssen zeitgenössischer Illustratoren auf Méliès nach und stellt die so oft behauptete Nähe zum Werk Jules Vernes in Frage. Thierry Lefebvre untersucht, wie Méliès die Welt der Quacksalber persifliert. Stephen Bottomore ordnet Méliès´ Film über die Dreyfus-Affäre in den historischen Kontext dieses frühen „Medienereignisses" ein.

Den Bemühungen, der Spur verschollener Star-Film-Produktionen nachzugehen, ist ein eigner Abschnitt gewidmet. Paolo Cherchi Usai analysiert, warum für Filmarchive ein wiedergefundener „Méliès" ähnlich aufsehenerregend ist wie ein neuentdeckter „Rembrandt" für die Kunstszene. Madeleine Malthête-Méliès erzählt in einem sehr persönlichen Interview von ihrer jahrzehntelangen Suche nach den Filmen ihres Großvaters und von ihrem Leben, das nicht immer von dieser Arbeit bestimmt gewesen ist.

Ein englischsprachiger Beitrag ist dem Kino Indiens gewidmet. Suresh Chabria entdeckt in den ersten indischen Filmen Elemente von Méliès´ Trickästhetik, die noch Jahre nach dem Untergang der Star Film Verwendung finden, um mythologische Verwandlungsszenen zu realisieren.

Als vernachlässigtes Genre des frühen deutschen Films haben wir  in KINtop 1 die Komödie in den Mittelpunkt gestellt. Besonders beliebte Genres des populären Kinos der zehner Jahre sind auch Western und Detektivfilme. Selbst im Ersten Weltkrieg lehnt sich die deutsche Filmproduktion hier an angelsächsische Vorbilder an. Deniz Göktürk präsentiert die Neckar-Western der Heidelberger Chateau-Film und diskutiert die Bedeutung des frühen Western für die Phantasien von Ferne und Ausbruch. Sebastian Hesse untersucht die Figur Stuart Webbs – als erfolgreichster deutscher Serienheld die passende Antwort auf die Vorwürfe der Kinoreformer. Als eher lokale Randnote stellt Uwe Schriefer den „amerikanischen" Filmdetektiv Fred Repps aus Wiesbaden-Biebrich vor.

Zum Thema Film and the First World War berichtet Michael Punt über den gleichnamigen Amsterdamer Kongreß der International Association for Media and History (IAMHIST). Eine Liste mit Filmen der Frühzeit, die das Bundesarchiv-Filmarchiv jüngst auf Sicherheitsfilm restauriert hat, beschließt diesen Band.   

Frank Kessler, Sabine Lenk, Martin Loiperdinger

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