Romanmaschinen

und andere Methoden der automatischen Herstellung von Lyrik oder Prosa existieren nicht erst, seit Hans Magnus Enzensberger vor einigen Jahren der staunenden Öffentlichkeit seinen „Poesie-Automaten“ vorstellte. Denn was dort eine Angelegenheit der Software war und davor eine der Mechanik, der Kombinatorik, des Sprachspiels oder der surrealistischen Schreibgymnastik, geht schließlich auf nichts anderes zurück als auf die alterprobten Mittel der Wahrheitsfindung: Orakelwesen, Tischrücken und schamanistisches „spirit-writing“, kurz, auf all jene Verfahren, die der Enthüllung von Texten höherer Ordnung dienen.

Einen der ersten Texterzeugungscomputer der Welt konnte Gulliver im Lande Balnibarbi besichtigen. Dessen avancierte Wortkombi- nationstechnologie ermöglichte es jedermann, „zu einem vernünftigen Preis und mit geringem körperlichen Einsatz Bücher in Philosophie, Poesie, Politik, Recht, Mathematik und Theologie“ zu verfassen, „ohne die geringste Hilfe durch Begabung oder Lernen.“ (Gulliver’s Travels, III, 5)   Swift, Jonathan: Voyages de Gulliver dans des contrées lointaines Traduction nouvelle précédée d'une notice par Walter Scott. Ill. par J.-J. Granville. Paris: Garnier, 1884. 508 S.: zahlr. Ill. Signatur: 99 = af 1369


Qualitätspoesie aus der Kombinations- maschine: Der „Fünffache Denckring der Teutschen Sprache“ aus rotierenden Stellscheiben, den der Dichter und Sprachreiniger Georg Philipp Harsdörffer 1636 entwarf, half dem Anwender nicht nur, korrekte deutsche Komposita und Wortendungen zu bilden, sondern erleichterte durch die Generierung von Reimen auch das mühsame Geschäft des Dichtens.   Harsdörffer, Georg Philipp: Delitiae mathematicae et physicae: der mathematischen und philosophischen Erquickstunden Zweyter Teil
Neudruck der Ausg. Nürnberg 1651. Hrsg. u. eingel. von Jörg Jochen Berns. Frankfurt a. M.: Keil, 1990. 620 S.: Ill., graph. Darst. (Texte der frühen Neuzeit)
Signatur: 24 = N.HAR.1/nc 37905-2


Wozu die Poesie elektrifizieren?
Eine einfache Lamellenkonstruktion erlaubt es dem Benutzer dieses Buches, aus 10 x 14 präfabrizierten Sonettzeilen „hunderttausend Milliarden Gedichte“ zu generieren – hochpoetisch und garantiert gereimt!   Queneau, Raymond: Cent mille milliards de poèmes
[Paris]: Gallimard, 1982. [16] Bl.
Signatur: mt 33720


Risiken und Nebenwirkungen des „automatischen Schreibens“
: Veritable Blitzgewitter im Zentralnervensystem, suggeriert André Breton, markieren die Bilderproduktion, die diese Königsdisziplin des Surrealismus in Bewegung setzt („La beauté sera convulsive“, 1933).   Minotaure: revue artistique et littéraire
Reprint. Bd. 2: 5.1933 – 8.1936
New York: Arno Pr. (Arno series of contemporary art; 1)
Signatur: 33 = z 7389-2


Am Anfang aller Textgeneratoren
stand das Orakel. Hier eines in tragbarer Form: Ein an der Außenseite des Buchdeckels zu betätigender Drehzeiger (nicht erhalten) vermochte wohl mittels einer Art Wählscheibe (unten) und anschließend zu konsultierender Tabelle jeder der 36 vorgesehenen Anfragen nach dem Zufalls- oder vielmehr Schicksalsprinzip eine aus je 36 möglichen Reimantworten zuzuordnen (14. Jh.).

Losbuch in deutschen Reimpaaren
Vollständige Faksimile-Ausgabe im Originalformat des Codex Vindobonensis series nova 2652 der Österreichischen Nationalbibliothek. Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt, 1973. [24 Bl.] (Codices selecti ; 38)
Signatur: 99 = ag 392

Chinesische Götter und Geister bedienen sich für ihre schriftlichen Verlautbarungen (und zwar in Gestalt des „spirit-writing”, einer der altehrwürdigeren Formen der „écriture automatique“) gern dieses speziellen Schreibgeräts. Einer Gruppe von Sachverständigen obliegt es, zu interpretieren, was das Medium, den Griffel in beiden Händen und von der Gottheit besessen, tranceschnell in den Sand schreibt.

Groot, Jan J. M. de: The religious system of China: its ancient forms, evolution, history and present aspect; manners, customs and social institutions connected therewith
Bd. 6. Book 2, On the soul and ancestral worship, pt. 4 + 5. Leyden: Brill, 1892. VI S., S. 930-1341: Ill.
Signatur: od 24836-6


Cagliostros Erben:
Automatische Texte sonder Zahl wurden einst in bald jedem Wohnzimmer und sicher an jedem zweiten Fürstenhof von klopfenden Tischen, durch den Alphabetkreis wandernden Tellern und anderen Sprachrohren der Geisterwelt hervorgebracht – Autorschaft ungewiß.   Encyclopédie méthodique. Recueil de planches de l’encyclopédie
Bd. 8. Paris: Pancoucke, 1790.
Signatur: 99 = a 2554 RA-8


In Georges Perecs „lipogrammatischem“ Buch des Verschwindens
(La disparition, 1969) wird die Romanmaschine durch eine genial einfache Initialschaltung angeworfen: den Ausschluß aller Wörter, die den Buchstaben „e“ enthalten – extensive Vokabellisten aus der Vorbereitungsphase zeugen von der Suche nach nicht-inkriminiertem Sprachmaterial.
Neefs, Jacques, Hartje, Hans: Georges Perec, images

Paris: Éd. du Seuil, 1993. 191 S.: zahlr. Ill.
Signatur: 23 = H.PE 50.2/mt 43200



„Tallien drückte auf seine alte Königsuhr, und sie läutete eine neue republikanische Neun.“ Der Brennstoff, der den Romanmotor von Anthony Burgess’ „Napoleonsymphonie“ (1974) antreibt, ist die Musik von Beethovens Eroica, verfeuert bei einem Verbrauch von zwei Takten Partitur auf acht Seiten Literatur   Burgess, Anthony: Napoleon symphony
New York: Bantam Books, 1975. 367 S.

 
Calvino, Italo: Il castello dei destini incrociati
Torino: Einaudi, 1973. 128 S.: Ill.
Signatur: mt 8825 Die Geburt des Romans aus dem Geist des Kartenlegens: Im „Schloß, in dem sich Schicksale kreuzen“ bilden sich Erzählhandlungen aus den Kombinationen der Tarockbilder, die die Reisenden, geheimnisvoll ihrer Sprache beraubt, stellvertretend für ausgefallene Kaminunterhaltungen aneinanderfügen.