Recht und Rechtswissenschaft im Schutzgebiet Kiautschou

Von 1897 bis 1914 stand das Gebiet von Jiaozhou in der Provinz Shandong als »Schutzgebiet Kiautschou« unter deutscher Herrschaft. Die deutschen Kolonialbehörden errichteten während dieser Zeit eine Rechtsordnung mit unterschiedlichen Elementen. Teilweise wurden die in Deutschland geltenden Gesetze in Kraft gesetzt, teilweise ließ man auch das chinesische Recht in Geltung. So war im Bereich des Zivilrechts auf Streitigkeiten zwischen Chinesen grundsätzlich das örtliche (chinesische) Gewohnheitsrecht anzuwenden. In Prozessen unter Europäern oder zwischen einer chinesischen und einer europäischen Partei wurde hingegen deutsches Recht angewendet. Die an das kaiserliche Gericht und das kaiserliche Obergericht in Kiautschou entsandten deutschen Juristen hatten demnach chinesisches Gewohnheitsrecht zu ermitteln und anzuwenden. Außerdem standen sie vor der Aufgabe, das deutsche Recht in einem fremden Umfeld und — bei Beteiligung von Chinesen — auf Personen anzuwenden, denen es fremd sein musste.

Der Kontakt deutscher Juristen mit dem chinesischen Recht und Rechtsverständnis beschränkte sich jedoch nicht auf die Rechtspraxis: Im Jahr 1909 wurde in Qingdao, der Hauptstadt des Schutzgebiets, eine deutsche Hochschule gegründet. An der Hochschule unterrichteten deutsche Dozenten chinesische Studenten. Die Hochschule wurde von der chinesischen Seite amtlich anerkannt, so dass erfolgreichen Absolventen die Möglichkeit gegeben war, in den chinesischen Staatsdienst einzutreten. Zu den dort unterrichteten »Spezialwissenschaften« gehörte insbesondere die Rechts- und Staatswissenschaft. Die Dozenten der Hochschule äußerten sich auch in Aufsätzen zu Problemen des Rechts und der Rechtsreform in China.

Das Forschungsprojekt zielt darauf ab, Verlauf und Ergebnisse des Aufeinandertreffens deutscher und chinesischer Rechtskultur zu ermitteln und zu analysieren. Das Projekt konzentriert sich auf den Bereich des Zivilrechts. Vorerst soll die Perspektive der deutschen Juristen, die im Schutzgebiet tätig waren und sich mit dem chinesischen Recht auseinandersetzen mussten, im Mittelpunkt stehen.

Mit Blick auf die praktischen Rechtsanwendung müssen etwa die folgenden Fragen gestellt werden: Wie wurde das deutsche Recht im Schutzgebiet Kiautschou — insbesondere auf Fälle mit chinesischer Beteiligung — angewendet? Ergeben sich signifikante Abweichungen zur deutschen Rechtspraxis? Wie ermittelten die deutschen Behörden das anwendbare chinesische Recht? Inwieweit ist die Spruchpraxis der deutschen Gerichte zum chinesischen Recht von Vorurteilen und Missverständnissen geprägt?

Hinsichtlich der Lehr- und Forschungstätigkeit an der deutschen Hochschule in Qingdao ist zu untersuchen, wie das deutsche Zivilrecht in Qingdao vermittelt wurde. Welche Aspekte des deutschen Zivilrechts wurden betont, welche weggelassen? Zogen die deutschen Dozenten das chinesische Recht zum Vergleich heran? Versuchten sie, die deutschen Rechtsregeln an die chinesische Lebenswirklichkeit und den kulturellen Verständnishorizont der chinesischen Studenten anzupassen? Welches Verständnis des chinesischen Rechts lässt sich aus den Abhandlungen der Dozenten gewinnen?