Urbane Dörfer: Strukturwandel ländlicher Lebensräume

Die Auseinandersetzung mit dem Dörflichen und Ländlichen hat in der jüngeren Vergangenheit eine Renaissance, aber die dabei produzierten Dorfbilder und die Dorfwirklichkeit liegen  mitunter weit auseinander. Was zunächst einmal auffällt, ist eine Idealisierung  des Landlebens. Ob in Wohnzeitschriften, Backbüchern, Telenovelas oder auf Lebensmittelverpackungen – allseits trifft man auf Bilder der Dorf- und Heimatromantik, das Lob der Schönheit und der Vorzüge des Landlebens. Mehr oder weniger direkt macht dieser Agrarromatizismus Anleihen bei einer pauschalisierenden und polarisierenden Stadtkritik, wonach die städtische Lebenswirklichkeit ungesund, Anomie fördernd oder sogar dissozial sei, die Verhältnisse auf dem Land dagegen als gesund, harmonisch und geordnet angesehen werden. Solche »spatial stories« gehören zwar eher in den Bereich der lebensreformerischen Ideologiebildung, aber sie machen auch deutlich, dass Dorf-Bilder gleich welcher Couleur immer auch auf standortgebundene Wahrnehmungsweisen und Funktionalisierungen verweisen. Dies gilt in gleicher Weise für Gegenentwürfe, in denen unter dem Einfluss von gesamtgesellschaftlichen Individualisierungs- und Enttraditionalisierungsprozessen – auch auf dem Land – ursprünglich sozial vorgeprägte Rollen und Lebenspläne als individuell verfügbar gelten1 Sie finden in einer auf Aufmerksamkeitsökonomie ausgerichteten Öffentlichkeit zwar breiten Anklang, im Blick auf die vorhandene land- und gemeindesoziologische Forschungsliteratur erschienen sie allerdings stark überzeichnet. Unübersehbar ist jedoch, dass sich die dörflichen Lebenswelten und Sozialformen in einem Wandlungsprozess befinden.2 Der erste Veränderungsschub setzt spätestens mit dem Übergang in die Moderne ein. Das Dorf als Urform einer lokalen und autarken Gemeinschaft, die sich über Jahrhunderte durch eine homogene und stabile Sozialstruktur auszeichnete, gerät durch die miteinander verschränkten Prozesse der Industrialisierung und Urbanisierung in einen regelrechten Sog der Veränderung. Das dörfliche Ordnungsgefüge bricht auf, zudem bringt die Dynamik der Veränderungen für die Dorfgemeinschaften eine Vielzahl von Belastungen (z. B. Verfall des Handwerks, Abwanderung und Leerstände, Brachflächen, staatliche Reglementierungen), aber auch neue Entwicklungschancen (Marktöffnung, Bildungszuwachs, Erschließung individueller Lohnressourcen) mit sich. Aber trotz starker Umbrüche der sozialen Strukturen und eines historisch einmaligen Entagrarisierungsprozesses bleiben die charakteristischen Sozialformen des Dorfes bestehen. Berücksichtigt man neben den medialen und verkehrsinfrastrukturellen Veränderungen noch die residenzielle Mobilität, also die Zu- und Wegzüge in den Dörfern, dann sind dies deutliche Hinweise auf Wandlungsvorgänge, die das Dorf urbaner machen, die ursprünglich städtische Lebensbedingungen und Lebensformen in heutigen Dörfern beheimaten. So plausibel solche Überlegungen sind, ihre empirische Evidenz weist immer noch deutliche Forschungsdesiderate auf.  Wir haben deshalb in einer Gemeinde in der Nähe von Trier diese Fragen mit einem Multimethodenansatz untersucht. Das Projekt steht in einer langen Tradition gemeindesoziologischer Studien, die die Arbeitsgruppe angewandte Sozialforschung an der Universität Trier durchgeführt hat. Im Fokus dieser Studien standen stets Fragen räumlicher Disparitäten und daraus resultierende Formen von Deprivation, ob es nun um Fragen der Infrastruktur und der Ressourcenallokation ging, etwa bei wohnortnaher medizinischer und pflegerischer Versorgung, dem öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV), der Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs oder um die Situation bestimmter sozialer Gruppen, etwa der Jugendlichen im Dorf oder von Zugezogenen oder ganz generell um Fragen der dörflichen Lebensqualität. Wir haben diese Untersuchungen in Kooperation mit regionalen Gebietskörperschaften (Kreis, Verbandsgemeinde oder Ortsgemeinde) durchgeführt, die im Rahmen ihrer Aufgaben zur regionalen Daseinsvorsorge großes Interesse an dieser Form der sozialwissenschaftlich fundierten Problemdiagnostik hatten. In einer aktuellen Studie wurden viele dieser Fragestellungen gebündelt, um exemplarisch für eine Gemeinde dörfliches Leben in seinen vielfältigen Facetten und Problemlagen zu erfassen.

Kernstück war eine schriftliche Befragung  aller Einwohner des Dorfes. Die Altersgrenze wurde dabei auf 14 Jahre festgelegt, da gerade die Perspektiven, die Wünsche, Bewertungen und Erwartungen der jüngeren Generation für das Leben im Dorf und dörfliche Entwicklungsperspektiven von zentraler Bedeutung sind. Die Befragung war so angelegt, dass Haushalte als Analyseeinheiten identifizierbar waren, zudem aber auch Individualdatenanalysen möglich waren. Aufgrund des breiten thematischen Spektrums wurde die schriftliche Befragung in vier Wellen in einem jeweils einmonatigen Abstand durchgeführt. Dabei wurden Fragen gestellt zu Kontakt- und Gemeinschaftsformen (Familie, Freunde, Nachbarschaft, Vereine, Netzwerke), Wohnqualität, Wohnorten der Familienangehörigen und Mobilität (inkl. Wohnformen im Alter, Zu- und Wegzugsmotiven, beschäftigungs- und bedarfsorientierten Mobilitätsformen), Freizeit und Erholung (inkl. Gesundheit, Krankheit und Pflege) und schließlich auch zu Sinngebung und Religiosität.   Begleitet wurde diese Erhebung durch eine Fülle von nicht-standardisierten Befragungen und Beobachtungen. Das Projekt wurde zwischen 2013 und 2015 durchgeführt. Bislang wurden hierzu zwei Zeitschriftenbeiträge veröffentlicht (vgl. Vogelgesang et al. 2015; 2016). Im Herbst 2017 erschien unter dem Titel "Stadt - Land - Fluss" im Springer VS Verlag eine Monographie über diese Studie.