"Das Buch ist mir immer wichtiger geworden"

Mit dem Buch „Das Ende von Kohle und Stahl“ ist dem Historiker und Leibniz-Preisträger Prof. Dr. Lutz Raphael etwas gelungen, was sich nur sehr selten vereinen lässt: Sowohl die Wissenschaftscommunity wie auch das „Laien“-Publikum loben das Buch gleichermaßen in höchsten Tönen. Diese Wirkung hat selbst den Autor überrascht.

Herr Raphael, was hat Sie angetrieben, dieses Buch zu schreiben?
Das Buch entstand in dem Forschungsverbund „Nach dem Boom. Perspektiven der Zeitgeschichte seit 1970“. Zusammen mit meinem Tübinger Kollegen Anselm Doering-Manteuffel und einem Team von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern haben wir die Umbrüche erforscht, die seit den 1970er Jahren Westeuropa tiefgreifend verändert haben. Das Thema „Abschied vom Malocher“ war dabei zentral, aber für die Jüngeren eher unattraktiv. So konnte ich in die Lücke springen und ein Thema bearbeiten, das ich sehr spannend und ganz wichtig fand. Die Veränderungen der industriellen Arbeitswelt und die politischen und sozialen Konflikte zwischen Kapital und Arbeit hatten mich gerade am Beginn meines Berufslebens fasziniert und so bin ich auch in die eigene Vergangenheit zurückgereist, als ich mit den Recherchen zumeinem Buch begann.

Haben Sie erwartet, dass Ihr Werk eine solch breite Resonanz finden würde?
Überhaupt nicht, ich war und bin ganz überrascht darüber, dass über den Kreis von Historikern und Arbeitssoziologen hinaus mein Buch Leser findet. Aber meine Lektorin, Eva Gilmer vom Suhrkamp Verlag, hat es immer für sehr wichtig gehalten und auf Lesbarkeit und Klarheit geachtet. Die Breitenwirkung ist sicherlich auch das Verdienst des Verlags. Dass es nun als Sachbuch in den Buchhandlungen liegt, obwohl Rezensenten mit Recht darauf hinweisen, dass es sehr komplexe Sachinformationen enthält und keine einfachen Erklärungen bietet, freut mich sehr. Es zeigt, dass wir als Wissenschaftler gerade heute aufmerksame Leser finden können, die mehr als kurze Nachrichten und schrille Thesen interessiert.      

In Gesellschaft und Politik hat „Jenseits von Kohle und Stahl“ großen Widerhall gefunden. Gab es auch Reaktionen aus der Wissenschaft?
Ja, die ersten Rezensionen in den Fachjournalen waren ebenfalls sehr positiv und die meisten Kolleginnen und Kollegen, denen ich das Buch zugeschickt habe, haben es sehr gelobt. Für ein Gesamtbild ist es noch zu früh – vor allem auf die Besprechungen in englischen und französischen Zeitschriften bin ich sehr gespannt.  

Sie haben markante politische Kernaussagen etwa zu Rechtspopulismus und zur Sozialdemokratie getroffen. Haben Sie die vage Hoffnung, dass Ihre Erkenntnisse das politische Handeln beeinflussen können?
Ja, denn das Buch hat bislang vor allem politisch engagierte Leserinnen und Leser gefunden, die meine Hinweise auf die langfristige Vernachlässigung der Belange der „kleinen Leute“ sehr wichtig fanden und dort Handlungsbedarf und Umdenken entdecken.

Die Liste Ihrer Monografien und sonstigen Publikationen ist sehr lang. Wie ordnen Sie selbst das aktuelle Buch in Ihr wissenschaftliches Gesamtwerk ein?
Es war nach meiner Habilitationsschrift das Buch, an dem ich am längsten gearbeitet habe und das mir mit den Jahren immer wichtiger geworden ist. Ich bin zu zwei Themen zurückgekehrt, die ich während der letzten 30 Jahre nie aus den Augen verloren habe, aber nicht mehr direkt behandelt habe: die Geschichte industrieller Arbeit aus der Perspektive der Arbeiterinnen und Arbeiter und die Frage, wie man eine moderne Sozialgeschichte oder Gesellschaftsgeschichte eigentlich konzipieren und schreiben sollte. 

Rezensionen

„Jenseits von Kohle und Stahl ist eine im guten Sinne materialistische Analyse unserer gegenwärtigen Kultur; sie zeigt, wie fundamental der gesellschaftliche Wandel der letzten Jahrzehnte gewesen ist und wie wenig wir das in all seiner Konsequenz bisher begriffen haben.“
Deutschlandfunk

„Sein Buch ist eine Gesellschaftsgeschichte der Industriearbeit – packend, kenntnisreich, klug.“
Die Zeit

„Methodisch und theoretisch hellwach und überaus transparent führt der Historiker durch drei Jahrzehnte westeuropäischer Gesellschaftsgeschichte.“
Südwestrundfunk

Prof. Dr. Lutz Raphael
Jenseits von Kohle und Stahl:
Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom

Suhrkamp, 485 Seiten