Personalisierung war die zentrale Wahlkampf-Strategie

Die AG „Sprache in der Politik“ untersuchte bei einer Tagung die Kommunikation im Bundestagswahlkampf 2021.

Gut zwei Wochen vor der Bundestagswahl am 26. September 2021 stellten sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Aufgabe, sprachliche Muster und rhetorische Strategien in der Wahlkampfkommunikation zu analysieren. Die parteiunabhängige Vereinigung „Arbeitsgemeinschaft Sprache in der Politik“ knüpfte als Veranstalter der mehrtägigen Konferenz an der Universität Trier an Analysen vergangener Bundestagswahlkämpfe an. Im Interview fassen die Trierer Germanisten und Tagungsorganisatoren Prof. Dr. Martin Wengeler, zugleich Vorstandsmitglied der AG Sprache in der Politik, und Dr. David Römer zentrale Erkenntnisse und Aspekte der analog und digital durchgeführten Konferenz zusammen. 

Herr Römer, Herr Wengeler, in den Wahlprogrammen der Parteien haben sprachpolitische Themen wie gendergerechte Sprache großen Raum eingenommen. Begrüßen Sie als Linguisten diese Entwicklung?

Römer/Wengeler: CDU und AfD haben geschlechtergerechte Sprache bzw. das Gendern zwar zum Wahlkampfthema gemacht, dennoch sehen wir es nicht so, dass sprachpolitische Themen in den Wahlprogrammen großen Raum eingenommen haben. Die CDU hat gegen Ende des Wahlkampfs bei dem Versuch, mit einer Angstkampagne gegen eine linke Regierung Boden gutzumachen, das Thema instrumentalisiert. Sie hat gehofft, sich mit einer Kampagne gegen das Gendern als Bewahrerin der Freiheit gegenüber den angeblich drohenden Vorschriften von Grünen und Linken auch bezüglich des Sprachgebrauchs zu inszenieren. Eine solche Instrumentalisierung von Sprach-Themen können wir als Linguisten nicht begrüßen. Regelrecht besessen vom Gender-Thema ist die AfD, so greift sie es programmatisch schon im Grundsatzprogramm 2016 und in den Wahlprogrammen 2017 und 2021 auf.  

Wie würden Sie die Sprache des diesjährigen Bundestagswahlkampfs in einem Schlagwort beschreiben?

Römer/Wengeler: Personalisierung? „Die“ Sprache des Wahlkampfs lässt sich kaum in einem Schlagwort beschreiben. Es gab die üblichen Zuspitzungen, Versprechungen, Warnungen. Die Kommunikation des Wahlkampfs aber würden wir parteiübergreifend – auch wenn es dies in anderen Wahlkämpfen vor allem bezüglich der Amtsinhaber*in schon gab – mit Personalisierung beschreiben: Bei Scholz und Lindner am augenfälligsten in allen Wahlkampftextsorten, aber auch Laschet und Baerbock standen stärker im Mittelpunkt als – was ja möglich gewesen wäre – das Mega-Thema der letzten eineinhalb Jahre Corona oder als das Klima-Thema.

Herr Römer, hat das hybride Format Ihrer Konferenz - in Präsenz im Hörsaal und digital per Livestream - eine Zukunft in der Nach-Corona-Zeit?

Römer: Das kommt drauf an, was man sich für die Zukunft wünscht. Technisch hat ja – dank der Unterstützung

der Medientechnik – alles reibungslos funktioniert. Es ist gut, dass wir in der Corona-Zeit ein solches Angebot machen konnten. Und natürlich hat es mich für die Kolleg*innen aus dem Ausland – wir hatten beispielsweise Gäste aus Stockholm und Italien – gefreut, dass sie teilnehmen konnten, und zwar nicht nur als stumme Zuschauer. Nicht zuletzt kann man so ja auch eine größere Öffentlichkeit herstellen. Auf der anderen Seite verändert das Format die Tagungskultur. Alles muss sich dem Medium anpassen. Das fängt schon damit an, dass wir nicht nur wegen der Abstandsregeln, sondern auch wegen der Raumausstattung mit etwa 30 Leuten in einem Hörsaal mit rund 500 Plätzen getagt haben. Da kommt natürlich kein richtiges Tagungs-Feeling auf. Letztlich ist es auch eine Kosten-Nutzen-Frage. Im Grunde muss man zwei Tagungen vorbereiten: eine in Präsenz und eine digital. Man darf also den Aufwand nicht unterschätzen. Ich persönlich hoffe jedenfalls nicht, dass sich die Erwartung einbürgert, dass in Zukunft jede Tagung immer hybrid stattzufinden hat.     

Als Gast einer Abendveranstaltung haben Sie den YouTuber Wolfgang M. Schmitt eingeladen. Hat der Austausch auf dem Podium für Sie über unterhaltende Elemente hinaus wissenschaftlich verwertbare Erkenntnisse oder Beobachtungen gebracht?

Römer: Unterhaltung und wissenschaftliche Erkenntnisse schließen sich meines Erachtens nicht aus. Wir haben Wolfgang M. Schmitt ja nicht als „Pausenclown“ eingeladen, sondern weil er ernste Beiträge zu wichtigen Themen und Problemen der Gegenwart leistet. Übrigens hat Schmitt, der insbesondere durch seinen YouTube-Kanal „Die Filmanalyse“ bekannt geworden ist, in Trier unter anderem Germanistik studiert. Wir haben von Schmitt viel gelernt, beispielsweise dass und wie soziale Medien und Influencer politische Sprache und politische Inszenierung prägen. Natürlich gab es auch Bedenken und kritische Nachfragen bezüglich der Vermengung einer sprach- und ideologiekritischen Herangehensweise bei Herrn Schmitt. Aber das ist eine alte Kontroverse in der Linguistik.

Welche Rolle hat Populismus im Bundestagswahlkampf 2021 gespielt, auch im Vergleich zu früheren Wahlkämpfen?

Römer: Puh, das ist eine weitreichende Frage und ohne Analyse schwer zu beantworten. Jedenfalls wären Differenzierungen nötig, beispielsweise zwischen populistischer Rhetorik und Ideologie oder zwischen Links und Rechts. Wenn wir über Rechtspopulismus sprechen, würde ich sagen, hat sich im Vergleich zu vergangenen Bundestagswahlkämpfen zunächst einmal nicht viel verändert. Das zeigen beispielsweise die Wahlplakate der AfD mit den üblichen Themen und Feindbildern: Durch Migration und Linke bedrohte Sicherheit, Kritik an der EU und am Euro, an vermeintlichen Eliten, am öffentlich-rechtlichen Mediensystem, Leugnung des menschengemachten Klimawandels usw. Auf den ersten Blick kommt es mir so vor, als sei die sprachliche Gestaltung der für die Rechtspopulisten üblichen Themen zumindest in den Wahlkampftextsorten weniger radikal als in der Vergangenheit. Sprachlicher Populismus mag insgesamt weniger auffällig sein, das ändert allerdings nichts an der Radikalität der Inhalte.

Zu welchem Tenor hat die Tagung in der Frage des Vergleichs populistischen Sprachgebrauchs in der Wahlkampfkommunikation zwischen Ost- und Westdeutschland geführt?

Römer: Mittlerweise wissen wir ja, dass die AfD im Osten vielerorts stärkste Kraft blieb. Ob sich der Ost-West-Unterschied nicht nur politisch, sondern auch sprachlich zeigt, ist in der Tat eine interessante Frage, der die Kolleg*innen von den Universitäten Magdeburg und Duisburg-Essen nachgegangen sind. Wie gesagt: es gibt nicht den einen Populismus, und wir müssen differenzieren, so auch zwischen Ost und West. Zu diesem Ergebnis kommen jedenfalls die Kolleg*innen. Im Ost-West-Vergleich kann man eine deutliche Rezipientenorientierung sehen. Diese zeigt sich etwa in den Themen. Die AfD im Westen instrumentalisiert beispielsweise die Flutkatastrophe stärker, wohingegen die AfD im Osten zahlreiche Bezüge zur DDR herstellt. Letzteres zeigt sich sprachlich darin, dass beispielsweise gezielt Wörter aus dem Sprachgebrauch der DDR verwendet werden. Die auch sprachliche Ausrichtung aufs Ost-Publikum lässt sich insbesondere auf sozialen Medien beobachten, zum Beispiel wenn man den Twitter-Account der AFD Nordrhein-Westfalens mit dem der AfD Sachsen-Anhalts vergleicht.

Herr Wengeler, Professor Uwe Jun hat bei der Konferenz den Wahlkampf aus politikwissenschaftlicher Perspektive analysiert. Haben sich seine Beobachtungen und Bewertungen in der sprachwissenschaftlichen Analyse des Wahlkampfs wiedergefunden?

Wengeler: Besonders augenfällig waren für mich bei Juns Vortrag einige treffende Bemerkungen zur SPD-Wahlkampfkommunikation, die so nah an dem waren, was ich in meinem Vortrag anhand einiger wichtiger Textsorten herausgearbeitet hatte, dass ich als Moderator nach seinem Vortrag angekündigt habe, dass mein SPD-Vortrag nun ausfallen würde. Das war natürlich nicht der Fall, denn der wesentliche Unterschied zwischen Politik- und Sprachwissenschaft scheint mir zu sein, dass die Politikwissenschaft und hier eben auch Herr Jun vor allem auch mit Bezug auf Umfrageentwicklungen darstellen und bewerten, wie die Wahlkampfkommunikation aller beteiligten Parteien sich entwickelt hat. Dazu gehört, welche Trends sich aus welchen vermuteten Gründen durchgesetzt haben, welche Fehler gemacht wurden, welche Strategien als potentiell erfolgreich - Scholz als Neuauflage von Merkel - angesehen werden können.

Wie geht die Sprachwissenschaft an diese Fragestellung heran?

Wengeler: Sprachwissenschaftliche Analysen fokussieren sich demgegenüber auf jeweils eine Partei und können daher auch mit ihren textanalytischen Methoden genauer auf nur eine Textsorte wie etwa die Plakate, den Werbespot oder das Wahlprogramm eingehen. Entsprechend wurden bei der Tagung von Sprachwissenschaftler*innen eben auch Einzelvorträge zu den im Bundestag vertretenen Parteien gehalten mit Schwerpunkten zum Beispiel beim Metapherngebrauch der FDP, dem konsistenten Zusammenspiel der Textsorten bei der SPD oder der Argumentation von Sarah Wagenknecht, mit der sie laut dem Vortrag des Kollegen zum Misserfolg ihrer Partei einen erheblichen Beitrag geleistet hat.

Professor Martin Wengeler hat sich intensiv mit der Wahlkampfkommunikation der SPD befasst und seine Erkenntnisse bei der Tagung im Vortrag vorgestellt – hier ein Plakat für Spitzenkandidat Olaf Scholz am Willy-Brandt-Haus. Foto: JoachimKohler-HB, CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0>, via Wikimedia Commons, unverändertes Foto
Professor Martin Wengeler hat sich intensiv mit der Wahlkampfkommunikation der SPD befasst und seine Erkenntnisse bei der Tagung im Vortrag vorgestellt – hier ein Plakat für Spitzenkandidat Olaf Scholz am Willy-Brandt-Haus. Foto: JoachimKohler-HB, CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0>, via Wikimedia Commons, unverändertes Foto

Das Ergebnis der Bundestagswahl 2021 ist hinlänglich bekannt. Hat die SPD auch „linguistisch“ den besten Wahlkampf gemacht?

Wengeler: Nicht „linguistisch“, aber kommunikativ bzw. kommunikationsstrategisch hat die SPD einen sehr guten Wahlkampf gemacht, ja, vielleicht auch den besten Wahlkampf der größeren Parteien. Denn schließlich ist es ihr gelungen, das Image des staubtrockenen Technokraten Scholz durch eines als Kümmerer, als am Schicksal der „kleinen Leute“ interessierter empathischer Mensch zu ersetzen. Und es ist gelungen, seine Probleme als Agenda-Politiker, Cum-Ex- und Wirecard-Skandal-Mitverantwortlicher gänzlich aus dem Wahlkampf herauszuhalten. Stattdessen hat sie es geschafft, soziale Themen in allen Wahlkampftextsorten konsequent und konsistent und auf ganz konkrete Maßnahmen hin - Mindestlohn, Rente, sicherer Arbeitsplatz, bessere Pflege -  mit ihm und der SPD zu verbinden. Das war eine gelungene Ansprache der Stammwählerschaft. Gleichzeitig konnte damit auch das „grüne“ Mega-Thema Klima, bei dem sich die SPD bisher ja auch nicht mit viel Ruhm bekleckert hat, in den Hintergrund gedrängt werden: Es kam vor, aber nur als Subthema der „sicheren Arbeitsplätze“.

Gab es in diesem Jahr sprachwissenschaftliche Phänomene, die Sie erstmals in einem Wahlkampf beobachtet haben?

Wengeler: Eine Neuerung bei den in der massenmedialen Öffentlichkeit wahrgenommenen Wahlkampfformaten ist natürlich, dass es einer kleineren Partei auf der Grundlage von Umfrageergebnissen gelungen ist, ihre Spitzenkandidatin als ernsthafte dritte Kandidatin für das Kanzleramt zu „verkaufen“ und damit „Trielle“ statt „Duelle“ im Fernsehen zu inszenieren. Das kurz vor der Wahl von Jan Böhmermann in seiner Sendung „ZDF Magazin Royale“ thematisierte und kritisierte micro targeting, also das gezielte Zusenden von Wahlkampfbotschaften an ausgesuchte Personen, deren Daten dafür ausgewertet werden, ist nicht ganz neu, aber noch selten thematisiert – und auch bei unserer Tagung nicht analysiert worden. Auch die Nutzung besonders von jüngeren Menschen frequentierter Online-Formate wie YouTube durch nicht parteilich gebundene Akteure wie Rezo zum negative campaigning gegen vor allem eine Partei dürfte ein nicht im engeren Sinne neues sprachliches, aber doch ein neues kommunikatives Phänomen sein. Im engeren Sinne sprachlich ist der Coup der SPD-Wahlkampftexter, das Partei-Akronym SPD in den zentralen Slogans „Scholz packt das an“ und „Soziale Politik für dich“ unterzubringen. An entsprechende Vorbilder kann ich mich nicht erinnern.

Hat sich die Corona-Pandemie auf die Sprache des Wahlkampfs ausgewirkt?

Wengeler: Nein. Das Thema Corona wurde fast nicht angesprochen, auch wenn die Überschrift in der Wochenzeitung „Der Freitag“ vom 29.9. vielleicht etwas zu sehr zuspitzt: „Keine Silbe Corona. Bitte, bitte nicht über die Pandemie sprechen. Die stille Verabredung der Parteien ging auf.“ Ein wenig kam das Thema bei der Thematisierung der zu verbessernden Lage von Pflegekräften und anderen in der Pandemie als „systemrelevant“ entdeckten Berufen dann doch zur Sprache. Und vielleicht wäre der SPD-Slogan „Respekt für dich“ und die damit einhergehende verbale Anerkennung für alle arbeitenden Menschen ohne Pandemie doch nicht so zustande gekommen. Insofern: „Respekt“ als politisches Hochwertwort ist vielleicht doch eine pandemiebedingte Neuerung in der Wahlkampfsprache.

Weitere Informationen

Literatur

Die Beiträge der Tagung „Sprachliche Muster und rhetorische Strategien der Wahlkampfkommunikation im Bundestagswahlkampf 2021“ werden in der linguistischen Zeitschrift „Aptum“ publiziert.

Kontakt

Dr. David Römer
Germanistik
Mail: roemerd@uni-trier.de
Tel. +49 651 201-2332

Prof. Dr. Martin Wengeler
Germanistik
Mail: wengeler@uni-trier.de
Tel. +49 651 201-2334

Die Germanisten und Tagungsorganisatoren Prof. Dr. Martin Wengeler (rechts) und Dr. David Römer führten bei ihrer Tagung Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zusammen, um Kommunikation im Bundestagswahlkampf 2021 zu analysieren.