Warum Forschung zu chinesischem Kulturraum so wichtig wie herausfordernd ist

Ein Interview mit Prof. Dr. Kristin Shi-Kupfer und Prof. Dr. Christian Soffel, der Inhaberin und dem Inhaber der Professuren in der Sinologie.

Während Professor Christian Soffels Beschäftigung mit dem chinesischen Kulturraum auch in historischer Dimension von dem hohen Digitalisierungsgrad profitiert, schränken der politische Kurs der Volksrepublik und die damit verbundenen Restriktionen Professorin Kristin Shi-Kupfers Forschungsspielraum zur gegenwärtigen Politik und Gesellschaft Chinas ein. Im Interview schildern sie Veränderungen und aktuelle Rahmenbedingungen für Forschung und Studium.

Frau Shi-Kupfer, Herr Soffel, Sie beschäftigen sich beide schon lange mit der Volksrepublik China. Was hat Sie dazu animiert, die Auseinandersetzung mit diesem Land zu Ihrer Lebensaufgabe zu machen?
Soffel: Zunächst einmal muss ich klarstellen, dass meine Lebensaufgabe die Beschäftigung mit dem chinesischen Kulturraum in seinen gesamten historischen Dimensionen ist. Die heutige Volksrepublik China ist also nur ein eher kleinerer, aber dennoch nicht unwichtiger Teil meines Interessensspektrums. Animiert worden bin ich durch eine Reise in die Volksrepublik 1992 von Russland aus. Motiviert hat mich zusätzlich das sehr lebendige Umfeld innerhalb der sinologischen Community, vor allem während meines Studienbeginns in München.

Shi-Kupfer: Ich bin 1990 durch die US-amerikanische Fernsehserie „MacGyver“ – der erste MacGyver! – dazu bewegt worden, mich mit China bzw. der Gesellschaft des gegenwärtigen China auseinanderzusetzen. In der Folge dieser Serie ging es um die fiktive, aber auf historischen Fakten basierende Geschichte einer studentischen Aktivistin in der chinesischen Protestbewegung rund um den Platz des Himmlischen Friedens 1989. Was bewegt diese Menschen in China, die genauso wie damals in Deutschland, für Freiheit und Gerechtigkeit auf die Straße gegangen sind, war eine meiner großen Fragen. Das treibt mich bis heute an.

Wenn Sie zurückblicken auf die Anfänge Ihrer wissenschaftlichen Beschäftigung mit China: Was sind die gravierendsten Veränderungen zu heute?
Soffel: Die Digitalisierung hat sehr viel verändert. Heute stehen fast alle Primärquellen zum vormodernen China bequem digital zur Verfügung.

Shi-Kupfer: Die politischen Rahmenbedingungen haben sich komplett verändert. Von Mitte der 1990er- bis Mitte der 2010er-Jahre konnte ich relativ problemlos in der Volksrepublik reisen und dort Feldforschung betreiben, mit den Menschen leben und mit ihnen sprechen. Das ist heute aufgrund der zunehmenden ideologischen Verhärtung der chinesischen Parteiführung so nicht mehr möglich.

China hat 2021 Sanktionen und Restriktionen gegen europäische Wissenschaftler und Einrichtungen verhängt. Wie wirken sich diese Maßnahmen auf Ihre Arbeit aus?
Soffel: Die Sanktionen und andere aktuelle Entwicklungen in der Volksrepublik China führen derzeit zu intensiven Debatten in der Fachwelt. Wissenschaftliche Tätigkeiten im Bereich des vormodernen China werden davon aber nur am Rande beeinflusst, da keine einschlägigen Fachkollegen unmittelbar betroffen sind. Dennoch ist der Schatten einer Politisierung überall spürbar.

Shi-Kupfer: Für mich persönlich heißt das, dass ich – auch weil ich für das sanktionierte Mercator Institut für Chinastudien tätig war und auch bewusst noch mit diesem als Senior Associate Fellow verbunden bin – bei der chinesischen Botschaft in Deutschland wohl kein Visum für eine Einreise nach China bekomme.

Ist Forschung zu China noch möglich, wenn man die Volksrepublik nicht mehr oder nur unter massiven Einschränkungen bereisen kann?
Soffel: Forschung zum vormodernen China ist auch ohne Reisen in die Volksrepublik sehr gut möglich, da die meisten Primär- und Sekundärquellen auch außerhalb des Landes zur Verfügung stehen. Hinzu kommt, dass Taiwan ein sehr wichtiger chinesisch-sprachiger Wissenschaftsstandort ist und dorthin keine Reisebeschränkungen bestehen.

Shi-Kupfer: Unabhängige Feldforschung ist nach meiner Ansicht nicht mehr möglich, auch für Wissenschaftler:innen, die noch nach China reisen können. Ich habe meine Forschungsgebiete angepasst und fokussiere nun zum einen auf das digitale China, auf Akteure, Inhalte und Prozesse, die ich online beobachten kann. Zum anderen beschäftige ich mich auch mit Chines:innen in der Diaspora, mit ihnen kann ich leichter in Kontakt treten und Gespräche führen.

Zum Umgang mit China auf der Wissenschaftsebene gibt es zwei grundlegend unterschiedliche Haltungen, die von weitestgehender Kontaktreduzierung bis zu einer Intensivierung des Austauschs reichen. Wie ist Ihre Position?
Soffel: Diese Extrempositionen finden sich in der Wissenschaftscommunity äußerst selten. Selbstverständlich ist ein Kompromiss zu suchen. Es gibt keinen Grund, akademische Kontakte nicht weiterhin aufrechtzuerhalten. Wichtig ist es aber, den eigenen akademischen Nutzen im Auge zu behalten. Erforderlich ist ferner eine stärkere Sensibilisierung im Bereich von „dual use“ Technologien, wobei diesbezügliche Forschung aber in der Sinologie so gut wie gar nicht stattfindet.

Shi-Kupfer: Kontakte, gerade zu einzelnen chinesischen Kolleg:innen, aber auch zu – je nach Forschungsfeld – Vertretern anderer sozialer Gruppen sind natürlich sehr wichtig und sehr wertvoll. Wenn Kontakte, vor allem auch auf institutioneller Ebene, nur mit dem Preis von massiven, den Prinzipien einer liberalen, demokratischen Grundordnung zuwiderlaufenden Kompromissen bei Fragestellungen oder Ergebnissen oder gar Äußerungen aufrechterhalten werden können, sollten sie allerdings abgebrochen oder ausgesetzt werden.

Wie haben sich Ihre konkreten Kooperationen mit Partneruniversitäten in China verändert?
Soffel: Wegen Covid ruhen die meisten Austauschprogramme. Eine Konferenzteilnahme ist nur online möglich. Ansonsten steht einer Wiederaufnahme grundsätzlich nichts im Wege, gerade im Bereich der vormodernen Sinologie. Im Oktober diesen Jahres ist endlich wieder eine Gastdoktorandin aus Shanghai nach Trier gekommen.

Shi-Kupfer: Die Partnerschaften und der Austausch mit den akademischen Institutionen auf Taiwan laufen dagegen viel besser und leichter. Herr Soffel konnte ja im November 2022 auf die Insel reisen und sich mit unseren Partnern treffen und austauschen. Für die Forschung sind generell auch Chats und Videogespräche mit funktionierender Technologie eine Möglichkeit, in Kontakt zu bleiben.

Wie wirken sich die Restriktionen auf das Studium und die Studierenden hier in Trier aus, aber auch auf chinesische Studierende, die nach Deutschland kommen möchten?
Soffel: Wegen Covid ist ein Austauschstudium in der Volksrepublik China derzeit leider nicht möglich. Anders sieht es in Taiwan aus, dort hat sich wieder alles völlig normalisiert. Was politische Befindlichkeiten bei Aufenthalten in der Volksrepublik angeht, so sind Studierende in der Regel nicht betroffen; sie sind noch ein unbeschriebenes Blatt.

Shi-Kupfer: Die Zahl der chinesischen Studierenden ist leider zurückgegangen, nicht nur wegen Covid. Im Zuge der ideologischen Verhärtung und Abgrenzung von „dem Westen“, so habe ich es von einigen chinesischen Kollegen und Studierenden gehört, ist es für manche weniger attraktiv, aber auch vor allem administrativ schwieriger geworden. Auch Kurzaufenthalte werden schwieriger: Chinesische Wissenschaftler:innen müssen ja z.B. laut Bestimmungen ihre Pässe bei ihren Vorgesetzten abgeben, private Pässe vergeben die Behörden nur sehr restriktiv.

Das CIUT erweckt den Eindruck, ein „politischeres“ Institut zu sein als es das ZOPS war. Rührt der Eindruck daher, dass China-Forschende aktuell aufgrund der politischen Entwicklung stärker wahrgenommen werden oder verstehen Sie Kommunikation und Stellung beziehen als einen originären Auftrag?
Soffel: Wenn dieser Eindruck entsteht, so ist er strukturell nicht gewollt. Das CIUT ist konzeptuell laut Satzung nicht „politischer“ als es das ZOPS war.

Shi-Kupfer: Auch das CIUT ist aufgrund der politischen Rahmenbedingungen automatisch politischer. Allerdings ist es mir auch ein Anliegen mit Veranstaltungen zu aktuellen politischen Themen nicht nur differenziert und umfassend zu informieren, sondern – in einem zweiten Schritt - dem Publikum meine Position zu erläutern. Als Wissenschaftlerin, aber auch als Bürgerin, die in einem freiheitlich-liberalen System arbeiten und leben darf, sehe ich dies persönlich auch als eine Unterstützung für all die chinesischen Kolleg:innen, die ihre Meinung nicht frei äußern dürfen.

Das CIUT nennt „Vermittlung von China-Kompetenz an Personen aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft“ als eine Aufgabe. Wird die Expertise von diesen Gruppen schon nachgefragt?
Shi-Kupfer: Ja, sehr stark. Einige von uns CIUT-Mitgliedern sind sehr in der öffentlichen Wissensvermittlung engagiert, sei es in Form von Vorträgen oder Medienarbeit, und auch der Beratung für ganz verschiedene Zielgruppen.

Wohin müssten sich China und Europa bzw. der Westen jeweils bewegen, um das gespannte Verhältnis wieder zu entspannen?
Shi-Kupfer: Zunächst müsste eine Entspannung innerhalb Chinas stattfinden, sprich zumindest eine Rückkehr zu mehr Pluralismus und Rechtsstaatlichkeit. Unter dem amtierenden Partei- und Staatschef Xi Jinping ist dies für mich nahezu unvorstellbar. Aber es wird auch eine Post-Xi Jinping-Phase in China geben.

Herr Soffel, vor einem Jahrzehnt beschrieb die Sinologie ihr Selbstverständnis folgendermaßen: „Das Fach wirkt an der Verständigung zwischen den Kulturen mit.“ Gilt diese Aufgabe heute noch?
Soffel: Selbstverständlich ist die Verständigung zwischen den Kulturen nach wie vor eine wichtige Aufgabe. Noch wichtiger sind - und waren schon immer - für uns als Institut an einer Universität eine verantwortungsvolle Arbeit im Bereich Forschung und Lehre. Wir sind ein akademisches sinologisches Institut und keine kulturelle Institution. Wegen Covid ist derzeit ein Kulturaustausch auf persönlicher Ebene faktisch fast nur mit Taiwan möglich. Es ist zu hoffen, dass sich die Situation auch in der Volksrepublik China wieder entspannt.

Sie haben in einem Interview gesagt: „Alle 20 Jahre wendet sich das Blatt in China“, zuletzt 2008. Erwarten Sie für 2028 eine neuerliche Wende?
Soffel: Da hat ein Journalist eine meiner Aussagen zugespitzt. Ich meinte, dass in der Vergangenheit in der Volksrepublik China ungefähr alle 20 Jahre große Veränderungen geschehen sind (1949, 1966-1969, 1989, 2008-2012), und deswegen am Ende des jetzigen Jahrzehnts wieder eine Wechselstimmung aufkommen dürfte. Daraus folgt nicht zwangsläufig, dass sich die Situation in einer Weise verändert, die zu Entspannung mit Europa führt.

Welche Rolle spielt der Konfuzianismus, der zu Ihren Forschungsschwerpunkten gehört, im China des Jahres 2022?
Soffel: Das hängt davon ab, was Sie unter dem Begriff „China“ verstehen. In der Volksrepublik China ist der Konfuzianismus seit etwa 20 Jahren wieder sehr im Kommen, wird allerdings häufig reduziert auf die Vorstellung von „Harmonie“, ein Begriff, der im traditionellen Konfuzianismus aus meiner Sicht eher eine nachrangige Bedeutung hat. Ich sehe den Konfuzianismus in der Volksrepublik China heute als „Vasallenideologie“, die klar der Agenda der Kommunistischen Partei Chinas untergeordnet ist und sich als diametraler Gegenpol zu „westlichen Ideen“ begreift. Sollte Taiwan gemeint sein, dann muss ich zunächst anmerken, dass ich eine Zuordnung von Taiwan zu „China“ aus zahlreichen Gründen für sehr problematisch halte. In Taiwan existiert eine lebendige konfuzianische Community, die philosophisch sehr produktiv ist und aktiv einen Austausch und Synthese mit „westlicher“ Philosophie sucht.

Frau Shi-Kupfer, in Ihrem Buch „China – was stimmt? Die wichtigsten Antworten“, das Sie 2007 herausgebracht haben, schrieben Sie über China: „Ein Riese erwacht, eine neue Weltmacht betritt die politische Bühne.“ Haben Sie damit gerechnet, dass China in so kurzer Zeit einen solch herausgehobenen Platz auf der Weltbühne einnehmen würde?
Shi-Kupfer: Ich habe nicht damit gerechnet, dass die chinesische Führung von Xi Jinping so totalitär, so wenig selbst reflektierend und teils sehr aggressiv die Weltbühne nach den eigenen Vorstellungen gestalten will. Wie Teile meiner chinesischen Kolleg:innen und Freunde auch, hatte ich die Hoffnung, dass die Volksrepublik ihr wachsendes globales Gewicht mit mehr Offenheit gestalten würde.

Bleiben wir bei dem Buchtitel „China – was stimmt?“ Wie würden Sie die Frage beantworten, was heute an dem von den Medien geprägten Bild der westlichen Welt von China „stimmt“?
Shi-Kupfer: Auch als ehemalige Journalistin muss ich sagen, dass doch nicht wenige „westliche“ Medien durchaus ein differenziertes Bild bzw. viele verschiedene Bilder von China transportieren. Es gibt also nicht nur das eine, „stimmige“ Bild. Natürlich ist weder eine Dämonisierung noch eine Verklärung Chinas bzw. der chinesischen Regierung hilfreich. Aber die Einteilung in „positive“ und „negative“ Berichterstattung ist auch nicht hilfreich. Das ist nicht das Verständnis und die Aufgabe von Medien in liberalen Demokratien.

Sie haben einige Jahre lang in China auch journalistisch gearbeitet. Warum haben Sie schließlich doch der Wissenschaft den Vorzug gegenüber dem Journalismus gegeben?
Shi-Kupfer: Was ich an der Wissenschaft schätze – gerade nach dem Exkurs in den Journalismus – ist die Möglichkeit, nicht permanent unter extremem Zeitdruck Texte produzieren zu müssen. Somit kann man tiefergehenden Fragen nachgehen. Allerdings vermisse ich durchaus manchmal auch die Dynamik des journalistischen Arbeitens und vor allem als ehemalige Korrespondentin vor Ort das große Geschenk, in das Leben vieler Menschen etwas eintauchen und ihnen mit Neugierde und offenem Herzen begegnen zu dürfen.

Kontakt

Prof. Dr. Kristin Shi-Kupfer
Sinologie
E-Mail: shikupfer@uni-trier.de
Tel. +49 651 201-3200

Prof. Dr. Christian Soffel
Sinologie
E-Mail: soffel@uni-trier.de
Tel. +49 651 201-3202

Prof. Dr. Kristin Shi-Kupfer und Prof. Dr. Christian Soffel.