Neurodiversität und Studium

Neurodiversität beschreibt, dass Menschen ihre Umwelt und die Interaktion mit anderen Menschen auf viele verschiedene Arten erleben. Diese verschiedenen Arten zu denken und zu lernen sollen dabei aber nicht als Defizit betrachtet werden. Im Folgenden wird Neurodiversität aber als Begriff verwendet, um eine Reihe von Beeinträchtigungen zusammenzufassen, die sich vorher nicht gut gruppieren ließen, nämlich Legasthenie, Dyskalkulie, Dyspraxie, Wahrnehmungsstörungen, Kontaktschwierigkeiten und emotionalen Störungen, wie sie z.B. bei der Aufmerksamkeits-Defizit-(Hyperaktivitäts)-Störung (AD(H)S) und der Autismus-Spektrum-Störung (ASS) vorkommen.

Diese neurodiversen Studierenden haben oft einen schwierigeren Start an der Universität als andere und stehen auch später im Studium immer wieder vor Herausforderungen. Oft steht die Diagnose auch erst noch aus. Dabei mangelt es diesen Studierenden keinesfalls an Intelligenz. Sie sind, mit etwas Unterstützung bei der Bewältigung des Studienalltags, durchaus in der Lage, sehr gute Studien- und Prüfungsleistungen zu erbringen.

Im Folgenden möchten wir Lehrende über einige dieser Beeinträchtigungen informieren, Kenntnisse vermitteln und Ideen zur Unterstützung vorstellen.

Studium mit Legasthenie und/oder Dyskalkulie

Eine Lese-, Rechtschreib- oder Rechenstörung wird häufig im Kindesalter diagnostiziert und bestenfalls auch therapiert, wobei die Beeinträchtigung auch nicht durch Training vollständig behoben werden kann. Es handelt sich um lebenslange Beeinträchtigungen. Viele Studierende mit diesen Beeinträchtigungen wurden aber bis zum Studienbeginn nie diagnostiziert. Viele Betroffene haben in der Schule keine ausreichende Förderung erhalten und mussten beweisen, dass sie, trotz ihrer Probleme mit dem Lesen, Schreiben und Rechnen, fachlich kompetent sind.

Menschen mit Legasthenie oder Dyskalkulie sind oft überdurchschnittlich intelligent und entscheiden sich deswegen auch oft für ein Studium. Allerdings ist schon der Alltag mit dieser Beeinträchtigung anstrengend, wie eine Betroffene berichtet:

„Wenn Anzeigetafeln an Bahnhöfen oder Flughäfen durchrattern, bin ich verloren. E-Mail-Adressen und Codes fürs Einloggen für Banküberweisungen oder bei Anmeldungen in PORTA werden für mich zur Falle. Originell gestaltete Speisekarten sind für mich der Horror. Dafür schreibe ich Wörter so kreativ, dass ich sie manchmal selbst für mich nicht mehr erkennbar sind, verlese mich sehr schnell und habe große Schwierigkeiten mit Fachwörtern und deren Aussprache, wenn sie nur schriftlich vorliegen. Ich bin ständig darauf angewiesen, dass jemand bereit ist, meine Texte auf Rechtschreibung, Grammatik und Zeichensetzung sorgfältig gegenzulesen.“

Im Studium treten vor allem dann Schwierigkeiten auf, wenn schriftliche oder rechnerische Leistungen zeitnah bewertet werden müssen. Studierende mit Legasthenie benötigen bis zu 50% mehr Zeit zur vollständigen inhaltlichen Erfassung eines Textes. Oft sind Prüfungsdokumente nicht gut lesbar, z.B. wegen einer Serifenschrift, oder es handelt sich um Multiple-Choice-Prüfungen, bei denen es auf jedes Wort ankommt. Lesen und Rechnen bedürfen mit dieser Beeinträchtigung mehr Zeit und mehr Konzentration und damit Ruhe. Beides ist in Klausuren nicht gegeben, z.B. wenn andere Studierende aufstehen, ihre Sachen einräumen und den Raum verlassen.

Auch an der Universität sind Studierende mit Legasthenie oder Dyskalkulie Vorurteilen ausgesetzt und werden als weniger intelligent oder faul stigmatisiert. Oder wie eine Betroffene dazu sagt: „Wer mit Legasthenie studieren will, braucht ein dickes Fell.“ Sie als Lehrende können helfen, dass diese Studierenden ihre Fähigkeiten und Kompetenzen zeigen können, in dem Sie sie ermutigen, Maßnahmen im Rahmen des Nachteilsausgleichs beantragen, etwa Rechtschreibfehler in schriftlichen Studien- und Prüfungsleistungen nicht werten zu lassen, mehr Zeit und einen eigenen Raum zur Bearbeitung zu bekommen oder die Möglichkeit, eine schriftliche in eine mündliche Prüfung umzuwandeln.

Weitere Informationen zum Thema Legasthenie bietet der Bundesverband Legasthenie & Dyskalkulie e.V.: https://www.bvl-legasthenie.de/

Nathalie Beßler, M.A.
Beauftragte für Belange von Studierenden mit Behinderung

Aufmerksamkeits-Defizit-(Hyperaktivitäts)-Störung und Studium

AD(H)S ist mit Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität assoziiert, diese Störung ist dabei aber nicht nur eine Störung im Kindesalter. Laut der AD(H)S-Leitlinie weisen 50% bis 80% der im Kindesalter Diagnostizierten auch als Erwachsene noch AD(H)S-Symptome auf. Ab dem Jugendalter zeigt sich die Hyperaktivität oftmals nicht mehr in gesteigerter körperlicher Aktivität, sondern vielmehr in Form von innerer Unruhe oder Fahrigkeit.

Insgesamt sind 2.5 % aller Erwachsenen in Deutschland von AD(H)S betroffen. Dabei ist wichtig zu wissen: AD(H)S ist eine Störung und keine Willensentscheidung. Einige Betroffene können die Folgen gut kompensieren, allerdings verwächst sich AD(H)S nicht, lediglich die Folgen können behandelt werden.

Im Studium kann sich AD(H)S unterschiedlich auswirken. Beim Thema Selbstorganisation, d.h. Anmeldungen zu Klausuren, Einhaltung von Fristen und Zeitmanagement, also eine Tätigkeit von Beginn bis Ende planen/umsetzen können, bestehen Schwierigkeiten. Ruhig sitzen und die aufmerksame Informationsaufnahme in Seminaren und Vorlesungen sind ebenfalls nicht einfach. AD(H)S-Betroffene lassen sich außerdem leicht beim Lernen ablenken. Eine Betroffene berichtet:

Kennzeichnend für meine Behinderung ist eine fehlende Ausdauer bei mental fordernden Aufgaben. Oft geht damit auch einher, dass man zwischen verschiedenen Aufgaben hin und her springt und keine davon wirklich beendet, bevor man mit der Nächsten anfängt. Ich fühle mich ständig von zahlreichen, mich umgebenden Reizen angezogen und abgelenkt - ganz so, als würde ein Filter für das aktuell Relevante fehlen. Für mich selbst und auch für Außenstehende kommt so leicht eine Unruhe auf und ich fühle mich zusätzlich oft von dem vielen Input überflutet und gestresst. Das Ganze endet in einem Teufelskreis, da Konzentration dann erst recht nicht mehr möglich ist. Für mein Studium bedeutete und bedeutet dies, dass es mir schwerfällt, mich auf das Wesentliche bei Lerninhalten zu konzentrieren. Ich brauche oft länger, um einen Artikel zu lesen, Aufgaben zu bearbeiten, Dinge auswendig zu lernen oder wissenschaftliche Arbeiten zu schreiben.“

AD(H)S kann bei den Betroffenen auch ein kontinuierliches Zappeln mit Händen und Füßen Händen verursachen, oder sie winden sich beim Sitzen. AD(H)S-Betroffene sind oft impulsiv, sie platzen mit Antworten heraus, bevor die Frage beendet ist, sie unterbrechen andere oder reden exzessiv. Hinzu kommt eine niedrige Frustrationstoleranz, weswegen Studierende mit AD(H)S schneller resignieren und häufiger daran denken, das Studium abzubrechen.

Bei den oben genannten Symptomen können aber auch andere Beeinträchtigungen der Auslöser sein: Angststörungen, bei denen Unaufmerksamkeit und Unruhe in Zusammenhang mit Angst auftreten, Depressive Störungen, bei denen Konzentrationsprobleme auftreten können, Bipolare Störungen, bei denen episodisch Überaktivität, Impulsivität und Konzentrationsprobleme auftreten und Substanzkonsum, der Symptome einer AD(H)S auslöst. AD(H)S kann und sollte daher auch noch im Erwachsenenalter fachärztlich abgeklärt und diagnostiziert werden, damit eine Behandlung erfolgen kann.

Das Studium mit ADHS kann gelingen, wenn Studierende die eigenen Einschränkungen anerkennen, eigene Ansprüche revidieren und Strategien im Studienalltag entwickeln. Und vor allem, um Hilfe bitten, wenn diese gebraucht wird. Hierzu können Lehrende ermuntern und schon mit Kleinigkeiten helfen:

„Insbesondere Struktur von außen [war] ein großer Hilfsfaktor. Es gab glücklicherweise einige verständnisvolle DozentInnen, die auf meine spezielle Situation eingegangen sind und daher öfter auch mal eine Erinnerung geschickt oder eine Besprechung mehr für mich eingeräumt haben.“

Es kann auch helfen, Betroffenen bei Seminaren und Vorlesungen einen Platz in den vorderen Reihen und so ein ablenkungsfreies Zuhören zu ermöglichen. In Prüfungssituationen helfen, neben mehr Zeit zur Bearbeitung auch Ohrstöpsel oder ein eigener Raum. Dies kann als Maßnahme im Rahmen des Nachteilsausgleichs beantragt werden.

Weitere Informationen zum Thema AD(H)S bietet https://adhs-deutschland.de/

Dipl. Psych Christiane Jung
Psychologische Psychotherapeutin

Autismus-Spektrum-Störung (ASS) und Studium

Studierende mit einer Autismus-Spektrum-Störung gehören zu einer kleinen Gruppe im Rahmen des Autismus-Spektrums: sie sprechen, sie sind leistungsfähig und haben hohe kognitive Fähigkeiten. Die Bezeichnung als „Asperger-Autisten“ ist für diese Gruppe mittlerweile nicht mehr gebräuchlich.

Studierende mit ASS haben oft gelernt, die Folgen der Beeinträchtigung (z.B. durch autismusspezifische therapeutische Förderung in einer Facheinrichtung oder psychotherapeutische Maßnahmen im Kinder- und Jugendalter) zu kompensieren. Aber dennoch können bestimmte Einschränkungen, etwa in der sozialen Interaktion sowie eingeschränkte Flexibilität bei gleichzeitig niedriger Stressresistenz den Einstieg in das Studium sowie das Studium selbst erschweren.

Vertraute Routinen zu verlassen und z.B. eine neue Wohnsituation oder der morgendliche Weg zur Universität können schwierig sein und Stress verursachen. Studierende mit ASS haben auch oft eine hohe Reizempfindlichkeit, Schwierigkeiten bei der Handlungsplanung und beim Verständnis sozialer Zusammenhänge. Wenn es also darum geht, Fristen zur Abgabe einer Studienleistung einzuhalten oder für eine Gruppenarbeit neue Kontakte im Seminar zu knüpfen, geraten sie oft in eine Überforderung und können mit Rückzug reagieren.

Lehrende sollten wissen, dass Studierende mit ASS in der Kommunikation nicht selten einen besonderen Blickkontakt pflegen, dass sie starren oder ganz wegschauen. Es kann auch zu Missverständnissen kommen, da oft Smalltalk nicht funktioniert und Ironie meist nicht gleich verstanden wird.

Menschen mit ASS kommunizieren oft sehr direkt und schonungslos ehrlich, was nicht selten als verletzend vom Gegenüber empfunden wird. Ein verletzendes Verhalten ist dabei zumeist gar nicht intendiert, oft soll damit sogar ein besonderes Interesse am Gegenüber ausgedrückt werden. Studierende mit ASS haben aber auch Stärken, die sie in die Lage versetzen, sehr gute Studien- und Prüfungsleistungen zu erbringen und wissenschaftlich zu arbeiten: sie können sich für Themen begeistern und sich sehr genau in Sachverhalte einarbeiten oder auf Personen einstellen. Sie haben oft ausgeprägte analytische Fähigkeiten und können außerhalb von sozialen Konventionen denken.

Machen Sie daher zu Beginn Ihrer Lehrveranstaltung möglichst deutlich, was von den Studierenden gefordert wird. Das nutzt nicht nur Studierenden mit ASS. Nehmen Sie Krisen in der Kommunikation mit Studierenden mit ASS nicht persönlich. Wenn Ihnen nicht klar ist, was Ihr Gegenüber von Ihnen möchte, fragen Sie: „Was brauchen Sie?“ Ermöglichen Sie Studierenden mit ASS Routinen, z.B. einen festen Sitzplatz im Seminar, denn Routinen schaffen Sicherheit, können Überforderungssituationen verhindern und ermöglichen dadurch eine bessere Konzentration auf die Seminarinhalte. In Prüfungssituationen kann mehr Zeit für die Bearbeitung und die präzise Formulierung von Fragen helfen, beides Maßnahmen, die im Rahmen des Nachteilsausgleichs beantragt werden können.

Flyer und andere Materialien zum Thema Autismus und Studium finden sich unter https://www.autismus.de/was-ist-autismus/flyer-und-broschueren.html

Kerstin Bießmann
Leitung Beratungsstelle und Selbsthilfe Autismus Trier e.V.