Die Wiederentdeckung des Individuums in der Psychotherapieforschung

Herausgeber: Prof. Dr. Wolfgang Lutz

2003 / 84 Seiten / 14.80 Euro / ISBN 3-87159-040-1 /
dgtv-Verlag


Das Buch stellt neue Konzepte und Modelle zur Unterstützung von differentiellen und adaptiven Indikationsentscheidungen in der Psychotherapie im Rahmen einer patientenorientierten Versorgungsforschung und Qualitätssicherung dar. In der Psychotherapieforschung gewinnt die Entwicklung von Entscheidungsregeln anhand von kontinuierlichen klinischen Dokumentationen im Kontext von Wissen-schaftler-Praktiker-Netzwerken und im Rahmen einer patientenorientierten Versorgungsforschung und Qualitätssicherung an Bedeutung. Verschiedene Krankenkassen haben bereits begonnen entsprechende Projekte aufzubauen und die Erkenntnisse umzusetzen. Neben den traditionellen Evaluations- und Kosten-Nutzen Studien sind Entscheidungsregeln wichtig, die unmittelbar in der Praxis angewendet werden können, um den individuellen Behandlungsfortschritt zu dokumentieren sowie negative Entwicklungen frühzeitig in der Behandlung zu erkennen. Vor diesem Hintergrund ist es sinnvoll, Prognosen für individuelle psychotherapeutische Verläufe zu erstellen, um den aktuellen Verlauf mit einem Standard vergleichen zu können. Entsprechende Modelle liefern eine Grundlage für differenzierte klinische Indikationsentscheidungen und zwar sowohl zu Behandlungsbeginn wie auch im Verlauf einer spezifischen Therapie.

Inhalt

1. Einleitung

2. Theoretische Grundlagen
2.1 Experimentelle und Quasi-Experimentelle Forschung in der Klinischen Psychologie und Psychotherapie
2.2 Probleme der Übertragbarkeit von Gruppenstatistiken auf den einzelnen Patienten
2.3 Patientenorientierte Versorgungsforschung in der Psychotherapie
 
3. Entwicklung eines prototypischen Konzeptes zur Vorhersage individueller Therapieverläufe
3.1 Das Aufwand-Wirkungsmodell und das Phasenmodell der Verbesserung in der Psychotherapie
3.2 Vorhersage individueller psychotherapieverläufe auf der Basis von Patientenausgangscharakteristika
 
4. Die Spezifikation der Vorhersagen für affektive Störungen und Angststörungen sowie unterschiedliche Psychotherapieergebnis-dimensionen
4.1 Verlaufsvorhersagen für affektive Störungen und Angststörungen
4.2 Verlaufsvorhersagen für unterschiedliche Psychotherapie-ergebnisdimensionen
 
5. Zur Prognose des Behandlungsverlaufs für unterschiedliche therapeutische Behandlungsmodalitäten

6. Modellierung eines adaptiven Indikationsmodells

7. Therapeutenunterschiede und therapeutische Performanz

8. Abschließende Bemerkungen

9. Literatur

Anhang 1: Exkurs: Eingesetzte Methoden der Wachstumsanalyse – hierarchische lineare Modellierung (HLM)


Leseprobe
 
Einleitung

„Das ‚Allgemeingültige‘ … wird nicht so festgestellt, dass man von möglichst vielen tatsächlich vorkommenden Fällen … den Durchschnitt nimmt und dann diesen Durchschnitt als das am wahrscheinlichsten anzutreffende Geschehen anerkennt. … Soll das konkrete Geschehen begrifflich erfasst werden … muss es eine andere Möglichkeit geben, in die Natur eines Geschehens einzudringen, einen anderen Weg als den, individuelle Eigenheiten des Einzelfalles wegzulassen.“ (Lewin, 1931 (1981), S. 256ff.).

Diese 1931 von Kurt Lewin gemachte Aussage umschreibt das in der Psychologie grundlegende Problem des Rückschlusses von empirisch gewonnenen Mittelwerten aus Gruppenstudien auf den Einzelfall als auch die Debatte um eine nomothetische oder idiographische Forschungsstrategie. Diese Problemstellungen haben, wie im Folgenden gezeigt werden soll, für die Klinische Psychologie und Psychotherapie eine besondere Relevanz.
Zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts kann die Psychotherapie in den westlichen Industrienationen als eine etablierte Größe im Bereich der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung angesehen werden. Einen wesentlichen Beitrag zu dieser Etablierung hat die empirische Psychotherapieforschung geleistet, welche in vielen Einzelstudien und Metaanalysen die durchschnittliche Effektivität von Psychotherapie für unterschiedliche Therapieprogramme und diagnostische Gruppen überzeugend nachweisen konnte.
Dennoch klafft eine immer wieder beklagte Lücke zwischen den Ergebnissen der Psychotherapieforschung und den in der Praxis durchgeführten Therapien. Ergebnisse, die im Rahmen der Psychotherapieforschung generiert werden, haben zum Teil geringe Auswirkungen auf die Praxis. Dafür können eine Reihe von Gründen ausgemacht werden. Zum einen durchlaufen die Studien einen langen wissenschaftlichen Prozess, sodass es nicht selten ist, dass zwischen dem Beginn und Ende einer Studie und der Veröffentlichung der Ergebnisse mehrere Jahre vergehen. Zum anderen erfolgt die Veröffentlichung der Ergebnisse in wissenschaftlichen Fachzeitschriften, die den praktisch arbeitenden klinischen Psychologinnen und Psychologen nur schwer oder gar nicht zugänglich sind und deren methodisch-wissenschaftliche Sprache gegebenenfalls für sie schwer verständlich ist. Ein grundlegendes Problem, und hier taucht die von Kurt Lewin angesprochene Thematik auf, besteht auch darin, dass die therapeutisch arbeitenden Psycholog(inn)en Fragestellungen haben, die eher einem individuumszentrierten idiographischen Blickwinkel entsprechen. Zum Beispiel sind für die Praktiker Fragen der Art relevant: Ist die Behandlung, die ich bei dieser Patientin, diesem Patienten durchführe, erfolgreich? Sollte ich diese(n) Patientinn(en) besser mit einem anderen Vorgehen, einer anderen therapeutischen Intervention oder einer anderen Behandlungsmodalität (z. B. Gruppentherapie oder Einzeltherapie) behandeln?
Während die Wissenschaftler in der Regel in einer nomothetischen Forschungstradition stehen und nach der unterschiedlichen Effektivität verschiedener Therapieverfahren im Durchschnitt fragen, sind für die Praktiker eher individuumsspezifische, eine konkrete Behandlung betreffende Fragen relevant, deren Beantwortung gegebenenfalls nicht unmittelbar aus einer Vergleichsstudie von Patientengruppen ableitbar ist.
Neben dieser Wissenschaftler-Praktiker Kluft stellt sich in der immer wieder entfachenden Debatte um Kosteneinsparungen im Gesundheitswesen und einer möglichst optimalen Versorgung bei limitierten Ressourcen ebenfalls die Frage nach einem ergänzenden und stärker individuumsorientierten Forschungsansatz. Angesichts wachsender Kosten im Gesundheitswesen sind Modelle und Verfahren aktuell, die zu einer verbesserten Verwendung von Ressourcen beitragen. In diesem Kontext sind die Fragen einer gezielten differentiellen Indikation (z. B. ist die Therapiestrategie, der der Patient zugewiesen wurde, erfolgreich und kostengünstig?) und adaptiven Indikation von besonderer Wichtigkeit (z. B. haben Therapeuten in der laufenden Behandlung Fehlentwicklungen rechtzeitig erkannt und in begründeten Fällen sinnvolle Um- bzw. Neuentscheidungen in der Therapie vorgenommen?).
Entsprechend wird im Rahmen der empirischen Psychotherapieforschung verstärkt eine ergänzende und am Einzelfall orientierte Versorgungsforschung gefordert, welche sich diesen Problemen, zumindest annäherungsweise, stellt. Eine patientenorientierte Versorgungs- bzw. Psychotherapieforschung versucht klinisch „unmittelbar“ nutzbare Forschung im Rahmen von Wissenschaftler-Praktiker Netzwerken zu etablieren, die durch das Monitoring des therapeutischen Verlaufs und der Nutzung entsprechender Informationen einen Beitrag zu einer optimalen therapeutischen Behandlung im Einzelfall liefern soll.
Im Zentrum meiner Forschungsbemühungen und Projekte im Bereich der klinischen Interventionsforschung und patientenorientierten Versorgungsforschung steht das Interesse an individuellen Therapieverläufen sowie die Zielsetzung, die Umsetzung empirisch-psychologischer Forschung in Alltagssituationen zu erforschen und zu verbessern. Vor diesem Hintergrund befasse ich mich mit der Modellierung individueller psychotherapeutischer Verläufe auf der Basis von Patientenausgangs- sowie Prozessinformationen. Die individuellen Vorhersagen werden jeweils für unterschiedliche Behandlungsmodalitäten (z. B. Einzeltherapie, Paartherapie oder Gruppentherapie) und diagnostische Gruppen spezifiziert. Diese Arbeiten versuchen einen Beitrag für die gezielte wissenschaftliche Unterstützung von differentiellen Behandlungsentscheidungen sowie auf einer prozessualen Ebene adaptive Indikationsentscheidungen zu liefern.
Im Folgenden möchte ich zunächst auf das Konzept der patientenorientierten Versorgungsforschung eingehen und eine Einbettung des Themas in den Bereich der Klinischen Psychologie und Psychotherapieforschung vornehmen. Anschließend werde ich meine Arbeiten zu diesem Thema, die ich an der Universität Bern und an der Northwestern University (USA) durchgeführt habe, vorstellen. Dabei werde ich insbesondere auf meine Arbeiten zur klinischen Indikationsforschung eingehen, die sich mit der Vorhersage von individuellen Therapieverläufen sowie der Adaptation dieser Vorhersagen über den Therapieprozess hinweg und die Erweiterung auf unterschiedliche therapeutische Behandlungsmodalitäten und diagnostische Gruppen befassen . Diese Arbeiten können als zusammenhängende wissenschaftliche Arbeiten betrachtet werden und charakterisieren meinen wissenschaftlichen Werdegang. Sie dienten auch als Basis der Begutachtung für die mir von der International Society for Psychotherapy Research (SPR) im Jahre 2000 verliehene Auszeichnung, dem Early Career Contribution Award. In der abschließenden Diskussion werden kritisch Grenzen und Möglichkeiten sowie weitere zukünftig zu bearbeitende Forschungsfragen erörtert.


Rezensionen
 
Was nützt die Psychotherapie-Forschung der Praktikerin oder dem Praktiker bei der Behandlung seiner Patientinnen und Patienten? Auf diese Frage versucht der Autor mit seinem Buch, das zugleich als Teil der Habilitationsleistung von der Universität Bern anerkannt wurde, Antworten zu geben.
Um es vorweg zu nehmen: Lutz ist sich der Vorläufigkeit seiner Antworten voll bewusst und weist immer wieder auf den Übergangszustand seines sehr interessanten Forschungsansatzes hin.
Eingangs werden experimentelle und quasi-experimentelle bzw. naturalistische Psychotherapieforschung einander gegenüber gestellt im Hinblick auf Voraussetzungen, Durchführung und Erkenntnisgewinn. Anhand der als klassisch zu bezeichnenden Studie von Chassan (1967) werden die Fragwürdigkeiten von Gruppenstudien herausgearbeitet. Lutz zeigt, dass die Ergebnisse beider Forschungsparadigmen auf den Einzelfall nur schwerlich übertragbar sind. Seine Alternative heißt „Patientenorientierte Versorgungsforschung“.
Der Ansatz geht auf Howard (1986) zurück. Die zahlreichen Weiterentwicklungen durch den Autoren sind der Gegenstand des kurzen, aber inhaltlich gewichtigen Textes.
Die Basis der methodischen Strategie sind große Datensätze von Diagnoseträgern und deren Psychotherapien. Diese werden entsprechend den jeweiligen Forschungsfragestellungen disaggregiert. Man bestimmt dazu aus einer Teilmenge eine Referenzkurve, die den Behandlungsverlauf beschreibt und vergleicht sie mit einem anderen Datensatz. Dieser kann eine andere Teilmenge, aber auch ein individueller Behandlungsverlauf sein. Das dabei zu verwendende Handwerkszeug sind Wachstumsanalysen, hier: linear-hierarchische Modellierungen. Konkret geht es um Regressionsstatistik. Der Behandlungsverlauf wird stets beschrieben anhand zweier Terme, dem Abschnitt der log-linearen Funktion auf der Ordinate und dem Anstieg dieser Funktion. Das heißt: erst im Nachhinein kann geklärt werden, inwieweit der zu beurteilende Behandlungsverlauf dem einer homogenen Referenzgruppe entspricht. An sechs verschiedenen anwendungsbezogen relevanten Fragestellungen wird die Forschungsstrategie dargestellt:
1. Individuelle Psychotherapieverläufe werden auf der Basis von Patienten Ausgangscharakteristika vorhergesagt. Sieben Variablen erweisen sich als relevante Prädiktoren, nämlich Wohlbefinden, Symptomatik, Funktionsniveau, bisherige Psychotherapien, Behandlungserwartungen, Niveau der sozialen Anpassung des Patienten und Chronizität der Probleme.
2. Der Behandlungsverlauf von Patienten mit Angst- und affektiven Störungen wird mit dem Ergebnis vorhergesagt, dass verschiedene Diagnosen einen unterschiedlichen Therapieverlauf haben.
3. Der Behandlungsverlauf unterscheidet sich in Abhängigkeit vom Behandlungsergebnis. Am wahrscheinlichsten ändert sich das Wohlbefinden der Patienten, am wenigsten wahrscheinlich ihre Art der Lebensbewältigung. Aufwand-Wirkungs-Analysen zeigen, dass dies bei Angstpatienten anders ist als bei depressiven Patienten.
4. Die Therapie hat einen jeweils anderen Verlauf als Einzel-, Paar- oder Gruppentherapie. Der Verlauf kann statistisch bestimmt werden, wenn Untersuchungsbefunde (SCL-90, IIP, EMI) der Eingangsuntersuchung in die Berechnung eingehen.
5. Wenn Informationen während der Behandlung zusätzlich zu den Ausgangsinformationen in die Modellierung des Therapieverlaufes berücksichtigt werden (adaptive Indikation), dann können die Varianzkomponenten einer Psychotherapie weitaus besser beschriebenwerden als wenn man darauf verzichtet. Das ist auf Seiten des Therapeuten vor allem seine Sicherheit und seine Ressourcenaktivierung.
6. Mit der linear-hierarchischen Modellierung lassen sich Unterschiede zwischen Therapeuten und auch ihre therapeutische Performanz bestimmen.
Diese Informationen können während der Therapieausbildung nützlich sein.
In der differenzierten, fairen und lauteren Würdigung der Leistungsfähigkeit und Grenzen des Forschungsansatzes weist Lutz auf zahlreiche Desiderata und auf Möglichkeiten der Weiterentwicklung hin. Zu ergänzen ist, dass die Sicherheit der Prognose wesentlich von der Anzahl verfügbarer Messwerte abhängt, die in die Berechnungen eingehen. Wenn nur 3 Messzeitpunkte in die Analyse berücksichtigt werden können, dann muss das Ergebnis unsicherer sein als wenn 10 verfügbar sind, d.h. längere Therapien können das Verhältnis von Aufwand und Wirkung präziser beschreiben als kurze Therapien.
Ein weitere Frage bezieht sich darauf; wer von diesem Forschungsansatz in Wahrheit profitiert:
Sind es die Patienten, die Therapeuten oder die Kostenträger? Hätten die Kostenträger beispielsweise Referenztabellen – und dazu liefert Lutz die störungsbezogene und methodische Basis – dann würde vom Schreibtisch entschieden werden können, ob für einen Patienten 8 oder 25 Sitzungen ausreichen. Auf solche Konsequenzen – man spricht von Qualitätssicherung, evidenzbasierte Vorgehen u.ä. - hinzuweisen, ist insofern notwendig als der Leser sich in multivariater Statistik und mathematischer Modellbildung einigermaßen auskennen muss, wenn er den Ansatz der patientenorientierten Versorgungsforschung in seinen anwendungsbezogenen Schlussfolgerungen verstehen und beurteilen will. Um solchen Voreiligkeiten Einhalt zu gebieten, hat der Autor darauf verzichtet, spezifische Rechenanleitungen und Hinweise zu den Auswertungsroutinen (über die Beschreibung der Methode in Anhang 1 hinaus) mitzuteilen. Insgesamt wird der Psychotherapieforscher dieses Kompendium eines innovativen Ansatzes neugierig zur Hand nehmen und auch die zum Eindringen in das Metier erforderliche Ergänzungsliteratur studieren. Der Text ist nicht zuletzt eine willkommene Lektüre für die akademische Lehre in klinisch-psychologischen Forschungs- und Kontrollmethoden.

0. Berndt Scholz (Bonn)

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