Editorial

Vor genau einem Vierteljahrhundert, also 1978, fand in Brighton ein Kongreß der internationalen Vereinigung der Filmarchive (FIAF) statt, der dem Film der Jahre zwischen 1900 und 1906 gewidmet war. Mit dieser Tagung begann die Wiederentdeckung des frühen Kinos als Forschungsgegenstand, der sich auch die Gründung von KINtop verdankt. Das FIAF-Treffen ermöglichte nicht nur die Sichtung von Filmen, die oft jahrzehntelang nahezu unbeachtet in den Archiven gelegen hatten, es erlaubte auch einer jungen Generation von akademisch ausgebildeten Filmwissenschaftlern, die bis dahin mehr oder weniger unhinterfragt geltenden Auffassungen hinsichtlich der Frühzeit des Kinos einer kritischen Neubewertung zu unterziehen. Der Kongreß in Brighton gab der Erforschung des frühen Films gleich mehrere wichtige Impulse: Filmarchivare und Filmhistoriker betrachteten die Filme gemeinsam und profitierten wechselseitig von ihren jeweiligen Spezialkenntnissen. Durch das derart geweckte
Interesse öffnete sich ein neuer Forschungsbereich, der eine Vielzahl junger Filmwissenschaftler dazu einlud, einen frischen Blick auf die Filmgeschichte zu werfen. Und schließlich kam es auf diesem Terrain zu einer fruchtbaren Begegnung von filmhistorischen und filmtheoretischen Forschungen.

André Gaudreault und Tom Gunning, zwei Autoren, die seit der Tagung in Brighton die Diskussionen um den frühen Film mit ihren Arbeiten nachhaltig
geprägt haben, ziehen in ihren Beiträgen zu dem vorliegenden KINtop- Band Bilanz und erörtern den aktuellen Stand der historisch-theoretischen Debatten. Gaudreault stellt dabei die fundamentale Frage nach der adäquaten Umschreibung des Gegenstands und beleuchtet kritisch die Implikationen von Bezeichnungen wie »frühes Kino«. Gunning betrachtet die Verschiebungen und Ausdifferenzierungen in der Forschung der letzten fünfundzwanzig Jahre und zeigt, daß der Film der Frühzeit nach wie vor eine Herausforderung an die filmhistorische Forschung darstellt.

´Die seit den späten 1970er Jahren veröffentlichten Arbeiten des aus den Vereinigten Staaten stammenden, in Frankreich lebenden Filmwissenschaftlers und Regisseurs Noël Burch, dem innerhalb des Schwerpunkts eine kleine Hommage gewidmet ist, haben die Auseinandersetzungen mit dem frühen Kino nachhaltig geprägt. Thomas Elsaessers Würdigung von Burchs Beitrag zur Neubetrachtung der Frühzeit bietet gleichzeitig auch eine Einführung in dessen filmhistorische und -theoretische Reflexionen, insbesondere auch in seinen hier erstmals auf deutsch erscheinenden Aufsatz zu Passionsfilmen und Verfolgungsjagden. Zwei weitere Autoren behandeln die Bedeutung von Noël Burchs Werk in Frankreich und den USA: Michel Marie berichtet von dessen Wirkung innerhalb der französischen Filmwissenschaft, während Charles Musser in einer persönlichen Reminiszenz erzählt, welche Rolle Burch für die jungen amerikanischen Filmwissenschaftler spielte, die in Brighton mit ihren Thesen an die Öffentlichkeit traten.

Jan-Christopher Horak knüpft in seinem Text an Überlegungen zum Verhältnis von frühem Film und Avantgarde- bzw. Experimentalkino an, die neben Burch auch Tom Gunning Anfang der 1980er Jahren anstellte. Waren es damals eher heuristische Annahmen, die halfen, die stilistischen Eigentümlichkeiten der Frühzeit mit Blick auf eine andere alternative filmische Praxis zu verstehen, so betrachtet Horak dieses Verhältnis nun vor dem Hintergrund jüngerer Diskussionen, die den Zusammenhang zwischen Medien und Wahrnehmungsveränderungen in der modernen Großstadt thematisieren.

Auch das historische Dokument, das wir für diesen KINtop-Band ausgewählt haben, wirft einen theoretischen Blick auf das frühe Kino. Der hier erstmals auf deutsch veröffentlichte Artikel aus der Tageszeitung Le Journal, in
dem sich der Philosoph Henri Bergson zum Kinematographen äußert, ist ein wenig beachtetes Dokument, das zeigt, wie einer der prominentesten Intellektuellen Frankreichs um 1914 den Film wahrgenommen hat.

Die Beiträge außerhalb des Schwerpunkts befassen sich aus verschiedenen Perspektiven mit der Aktualität des frühen Kinos: Anna-Ruth Löwenbrück präsentiert den Bereich im Museum zur Geschichte von Christen und Juden, Schloß Großlaupheim, der dem deutsch-amerikanischen Kinounternehmer´ Carl Laemmle gewidmet ist. Gerhild Krebs beschreibt die Identifizierung einer im Saarland entdeckten Nitratkopie, die sich als Produktion des englischen Pioniers Cecil Hepworth herausstellte. Thomas Ballhausen und Günter Krenn stellen ein Forschungsprojekt des Filmarchiv Austria zur Medien- und Wirkungsgeschichte der k. u. k. Kriegswochenschauen und der europäischen Kriegsberichterstattung während des Ersten Weltkriegs vor. Der niederländische Filmhistoriker Ivo Blom gibt einen persönlich gehaltenen Bericht seiner Vortragstournee mit historischen Kurzfilmen aus der Desmet-Sammlung des Nederlands Filmmuseum. Die Tournee wurde in Zusammenarbeitmit KINtop organisiert und führte Blom nach Deutschland, Österreich,England, Luxemburg, Holland und Belgien. Bloms Überlegungen zur Komposition und Präsentation von Nummernprogrammen früher Filme für Zuschauer heute ergänzen die Reflexionen von Karola Gramann und Heide Schlüpmann zu diesem Thema in KINtop 11. Zum Abschluß bespricht der italienische Filmhistoriker Leonardo Quaresima die Forschungsperspektiven von Thomas Elsaessers neuem Buch Filmgeschichte und frühes Kino.
   

zurück