Editorial

Im Editorial zur ersten Ausgabe von KINtop 1992 hieß es im Hinblick auf den Stand der Erforschung des frühen Films in Deutschland: »Es gibt nirgends so viele gut dokumentierte Arbeiten, so viele interessante Textsammlungen zu zeitgenössischen Äußerungen über und intellektuelle Debatten rund um das Kino der Kaiserzeit.« Grund hierfür ist zweifellos die Tatsache, daß hierzulande bis dahin die Aussagen der literarischen Intelligenz zum Film weit häufiger als die Filme selbst von der ? vor allem germanistischen ? Forschung zum Gegenstand gewählt worden waren. Wenn die vorliegende Ausgabe von KINtop diesen Themenkomplex unter dem Titel »Wort und Bild« erneut aufgreift, so vor allem deshalb, weil auf dem (scheinbar) vertrauten Feld des Verhältnisses von Literatur und frühem Kino im Licht der Arbeiten der letzten zwölf Jahre neue Fragestellungen sichtbar geworden sind, die über das traditionelle Interesse an den Reflexionen prominenter Autoren hinausweisen.
Helmut H. Diederichs ist einer der Pioniere, die dieses Feld seit den 1980er Jahren systematisch erforscht haben. Sein Beitrag, der diese Ausgabe von KINtop eröffnet, skizziert noch einmal die Bandbreite der Argumente, die von den Schriftstellern, Journalisten oder Kritikern der verschiedenen Kunstformen für oder gegen das neue Medium und insbesondere seinen künstlerischen Wert ins Feld geführt wurden, wobei es hier vor allem um die Grenzen und Möglichkeiten des bewegten Bilds im Vergleich zum geschriebenen oder gesprochenen Wort geht.
Das historische Dokument, das in dieser Ausgabe von KINtop präsentiert wird, markiert den Bereich, an dem Wort und Bild in der Filmproduktion direkt aufeinandertreffen: das Filmmanuskript oder Drehbuch. Das Skript der Autorin Luise del Zopp aus dem Jahr 1911 dokumentiert den Stellenwert der Vorlage für die Herstellung von Filmen zu einer Zeit, da die Anziehungskraft der erzählten Geschichte eine auch ökonomisch stets wichtigere Rolle spielt. Jürgen Kastens Aufsatz zur Theorie und Frühgeschichte des Drehbuchs in Deutschland stellt nicht nur dieses Dokument in einen breiteren Rahmen, sondern erörtert auch die Bedeutung des Filmmanuskripts für die Rationalisierung des Produktionsprozesses und damit der Institutionalisierung des Kinos als Unterhaltungsmedium.
Das Thema der Vorlage wird in dem Artikel von Sabine Lenk erneut aufgegriffen, diesmal vor allem unter juristischen Gesichtspunkten. Die Frage des geistigen Eigentums stellt sich nicht nur hinsichtlich nichtautorisierter Adaptationen literarischer Werke durch die Filmindustrie (eine in der Frühzeit durchaus gängige Praxis), sondern auch für die schöpferische Tätigkeit des Regisseurs, die zwar urheberrechtlich schon sehr früh thematisiert, institutionell jedoch erst in den 1920er Jahren als eigenständige Funktion mit Copyright-Anspruch anerkannt wird.
Ein weiteres Element dieser Institutionalisierung ist die Herausbildung des Starsystems. Die illustrierte Presse spielt dabei, wie Karin Barkhausen in ihrer Untersuchung zeigt, eine wichtige Rolle. Die Berichterstattung über das Privatleben von Filmschauspielern, unterstützt durch Photos ihrer häuslichen Umgebung oder ihrer Urlaubsaktivitäten, befriedigt das Interesse einer Leserschaft, die »den Menschen« hinter den Leinwandfiguren kennenlernen will. Gleichzeitig tragen derartige Reportagen dazu bei, daß die Schauspieler als Personen von Bedeutung erscheinen, wodurch auch das Medium, dem sie ihre Bekanntheit verdanken, an Status gewinnt.
Zwei weitere Beiträge behandeln die Frage, inwieweit literarische Texte als filmhistorische Quellen gelesen werden können. Stephen Bottomores Analyse fiktionaler Zeugnisse aus dem Frankreich der Jahrhundertwende zeigt, daß einige Aspekte des neuen Mediums von den Literaten in immer neuen Variationen behandelt werden, was darauf hindeutet, daß diese in der öffentlichen Wahrnehmung der Kinematographie eine wichtige Rolle spielen. Frank Kessler betrachtet die Aufnahmen, welche die italienische Produktionsfirma Croce anläßlich der Flugtage in Brescia 1909 auf den Markt brachte, im Zusammenhang mit Franz Kafkas im selben Jahr veröffentlichten Bericht »Die Aeroplane von Brescia«. Diese Gegenüberstellung läßt erkennen, wie Kinematograph und Literatur auf jeweils verschiedene Weise das Schauspiel der frühen Aviatik wahrnehmen.
Außerhalb des Schwerpunkts veröffentlichen wir eine Untersuchung von Julio Montero und Maria Antonia Paz zu den Anfängen kinematographischer Vorführungen in Madrid, die sich auf eine Analyse der zeitgenössischen Presse stützt und dieses Material auch einer historischen Quellenkritik unterzieht.
Tjitte de Vries, dessen Forschungen zu dem britischen Filmpionier Arthur Melbourne Cooper wir bereits in KINtop 3, 1994 vorgestellt haben (gefolgt von einer Diskussion um die Autorschaft des Films Grandma?s Reading Glass in KINtop 4, 1995 und 5, 1996), präsentiert hier das von ihm und seiner Frau Ati Mul in jahrelanger Arbeit zusammengetragene Quellenmaterial. Diese Dokumentation belegt, daß Melbourne Cooper in jedem Fall eine faszinierende Figur in der frühen britischen Filmgeschichte ist und daß seine Arbeit in mehr als einer Hinsicht das Interesse der Filmhistoriker verdient.
Unser Dank gilt wie immer den Autorinnen und Autoren, die ihre Beiträge für diesen Band unentgeltlich zur Verfügung gestellt haben. Für ihre Hilfe danken wir außerdem Davide Pozzi und der Cineteca del Commune di Bologna, Eva Baaren (Universität Utrecht), Jürgen Kasten (Berlin) und Herbert Birett (München).  

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