Editorial

 Unter den international bekannten Wegbereitern von Film und Kino ist kein deutscher Name zu finden. Das liegt nicht so sehr an mangelnden Verdiensten deutscher Filmpioniere, sondern eher daran, daß die Aufarbeitung der Kinematographie des Kaiserreichs noch in den Anfängen steckt. Dafür gibt es viele Gründe. Daß die Quellenlage aufgrund der wechselvollen Geschichte in Deutschland erheblich schlechter ist als in vergleichbaren Ländern, ist nur einer dieser Gründe. Was die Frühzeit angeht, so sind jedenfalls nicht nur die bekannten Nachlässe des großen Kameramanns Guido Seeber sowie der Brüder Skladanowsky überliefert. Die Jubiläumsvorbereitungen zu »100 Jahre Kino« fördern auch in Deutschland aufschlußreiche Bestände zutage, die bislang allenfalls auf das Interesse einer Handvoll Spezialisten stießen. Äußerst reichhaltiges Material an technischen Geräten, Filmen, Fotos, Geschäftsdokumenten, Korrespondenzen und eigenen Aufzeichnungen hat der Erfinder und Geschäftsmann Oskar Messter (1866-1943) hinterlassen. Messter war im deutschen Kinematographengeschäft von Anfang an tätig: Seit 1896 hat er das Kino der Kaiserzeit mit seinen filmtechnischen Erfindungen und den von seinen Firmen produzierten und vertriebenen Filmen nachhaltig mitgeprägt. 1917 liefert er mit dem Verkauf seines Konzerns einen entscheidenden Beitrag zur Gründung der Ufa.

Auf Anregung des Deutschen Museums wird dem Filmpionier Oskar Messter anläßlich »100 Jahre Kino« eine Ausstellung gewidmet, die im Filmmuseum Potsdam (3.12.1994-20.2.1995), im Deutschen Museum München (14.3.-3.7.1995) und voraussichtlich im Museum Wiesbaden (27.8.-15.10.1995) zu sehen ist. Im Rahmen von Ausstellung und Katalog (im Buchhandel als KINtop Schriften 2 erhältlich) können nicht alle Aspekte der vielseitigen Aktivitäten Oskar Messters und seiner Firmen vorgestellt werden. Die Redaktion hat sich deshalb entschlossen, den Schwerpunkt dieser Ausgabe des KINtop Jahrbuchs für die Präsentation vertiefender wissenschaftlicher Arbeiten zur Historiografie des Messter-Konzerns zu nutzen in der Hoffnung, damit auch Forschungen zu anderen deutschen Produktionsfirmen der Kaiserzeit anzuregen.

Wir beginnen diese Ausgabe mit einem Grundsatzbeitrag von Ludwig Vogl-Bienek, der ausgehend von seiner medienhistorischen und künstlerischen Arbeit mit der Laterna magica eine aufführungsorientierte Filmgeschichtsschreibung anregt, um Perspektiven einer Rückschau zu öffnen, die sich nicht mehr ausschließlich von der Lumièreschen »Geburt« des Films im Pariser Grand Café leiten läßt, sondern nach dem medialen Kontext fragt, in der die Projektion von Filmen steht; der frühe Film erschiene so besehen eher als Ergebnis einer weit zurückreichenden Geschichte der Projektionskunst denn als Beginn eines neuen Mediums.

Das Schwerpunktthema Oskar Messter im engeren Sinn beginnt mit den Erinnerungen des Firmenangestellten Albert Wangemann an seine Lehrlingszeit. Diese plastische Schilderung des Betriebsalltags um die Jahrhundertwende ist eine Kostprobe aus dem im Bundesarchiv verwahrten Schriftnachlaß Oskar Messter, dessen komplizierte Genese und vielfältige Bestandsgruppen Babett Stach anschließend vorstellt. Aus den einschlägigen Teilüberlieferungen des Nachlasses rekonstruiert Harald Pulch, soweit möglich, die Geschichte der "Dirigentenfilme", einer weitgehend verschollenen, kultur- wie technikgeschichtlichen Spezialität aus dem Hause Messter. Die von Giuseppe Becce erstellte Filmmusik zu Richard Wagner, der ersten 1913 gedrehten Film-Biografie des Komponisten, untersucht Ennio Simeon. Der Wagner-Film wurde auch im Ausland gezeigt: Am Beispiel der Handelsbeziehungen zwischen Messter und dem Amsterdamer Filmverleih Desmet präsentiert Ivo Blom eine Fallstudie zum internationalen Filmvertrieb der zehner Jahre -- ein für die Entwicklung der Kinematographie entscheidender, aber noch kaum erforschter Bereich der frühen Film- und Kinogeschichte. Kaum bekannt sind auch die im spannungsreichen Dreieck von Filmwirtschaft, Militär und Regierung zu beobachtenden diplomatischen Aktivitäten im Vorfeld der Ufa-Gründung. Mit seiner Denkschrift Der Film als politisches Werbemittel, die hier erstmals veröffentlicht wird, nimmt Oskar Messter schon früh an dieser Diskussion teil, die hinter verschlossenen Türen stattfindet. Wolfgang Mühl-Benninghaus stellt die Denkschrift in den Zusammenhang von Messters Aktivitäten im Ersten Weltkrieg, die neben der international vertriebenen Messter-Wochenschau auch einen logistisch bedeutsamen Beitrag zur Feindaufklärung aus der Luft umfassen. Daß Messter in der Geschichte der "aerial photography" und ihrer militärischen Nutzung eine herausragende Stellung einnimmt, verdeutlicht der Beitrag von Tiziana Carrozza. Schließlich rekonstruiert Jeanpaul Goergen in einer akribischen Akten-Studie, wie John Heartfield und George Grosz an Propagandafilmen für das Auswärtige Amt gearbeitet haben.

Tittje de Vries weist nach, daß GRANDMA'S READING GLASS gar nicht von G.A. Smith stammt, dem dieser Film bisher zugeschrieben wurde. Dieser »Klassiker« des frühen Films kommt ganz offensichtlich aus den Alpha-Studios von Arthur Melbourne-Cooper. Tittje de Vries will damit einen englischen Filmpionier der Vergessenheit entreißen, der bisher kaum beachtet wird -- obwohl er, wie auch Messter, 1909 am Kongreß der Filmproduzenten in Paris teilgenommen hat. Wir stellen den Beitrag zur Disksussion und hoffen, daß sich auch diejenigen zu Wort melden, die an den Thesen von Tittje de Vries Zweifel anzumelden haben.

Angeregt durch die Entdeckung unbekannter Sequenzen des Films DIE SUFFRAGETTE macht Evelyn Hampicke deutlich, wie Asta Nielsen das Spannungsverhältnis zwischen ihrer Körperlichkeit und den von ihr ausgewählten Kleidern für ein doppelbödiges Schauspiel nutzt, das den Zuschauerinnen emanzipative Sichtweisen öffnet, die offiziell noch tabuisiert sind. Brigitte Schulze schließlich zeigt an dem Film RAJA HARISCHANDRA von D. G. Phalke (vgl. zu diesem Regisseur auch den Beitrag von Suresh Chabria in KINtop 2), daß der erste lange Spielfilm Indiens nicht an eine vermeintlich vorhandene "indische" Kultur anknüpft, sondern dazu beiträgt, Muster einer Nationalkultur erst zu schaffen.

Zwei Kongreßberichte (zu CineGraph, Hamburg, im November 1993 über deutsch-dänische Filmbeziehungen sowie zu Domitor, New York, im Juni 1994 über »Cinema Turns 100«), ein Rückblick auf die Geschichte des von Kennern weltweit geschätzten Stummfilmfestivals in Pordenone sowie eine Liste der erhaltenen Spielfilme aus der Messter-Produktion beschließen den Band.

Das Schwerpunktthema der nächsten Ausgabe von KINtop wird, in Zusammenarbeit mit dem Historical Journal of Film, Radio and Television, dem »non-fiction«-Film vor 1920 gewidmet sein.

Für ihre Hilfe beim Zustandekommen dieser KINtop-Ausgabe bedanken wir uns beim Bundesarchiv-Filmarchiv, insbesondere bei Babett Stach und Doris Schulz, bei Martin Hentschel und Ulrike Menz vom Deutschen Institut für Filmkunde sowie bei Stefanie Kuru. Martin Koerber danken wir für Hinweise, Anregungen und Kritik. Nicht zuletzt bedanken wir uns bei den Autorinnen und Autoren, die alle ihre Beiträge für diese Ausgabe unentgeltlich geschrieben haben.

Frank Kessler, Sabine Lenk, Martin Loiperdinger

zurück