Editorial

Aus unserer Alltagserfahrung wissen wir, daß der Vorschlag "wollen wir ins Kino gehen?" sofort die Gegenfrage "in welchen Film denn?" provoziert. Unter dem Ausdruck "Kino" wird heute ganz selbstverständlich ein Programm verstanden, das aus einem langen Film besteht. Als Vorprogramm ist ein halbstündiger Werbefilmblock zu ertragen. Früher gab's noch die Wochenschau und einen "wertvollen" Kulturfilm, bevor dann der "Hauptfilm" losging, die Gegenleistung für das bezahlte Eintrittsgeld. "Kino" im Sinne des Standards "abendfüllender Spielfilm mit Vorprogramm" ist schon seit dem Ende des Ersten Weltkriegs die Norm des Filmprogramms in den Kinos. Davor gab es, immerhin zwanzig Jahre lang, etwas völllig anderes: das frühe Kino, dem unsere beiden Reihen KINtop Jahrbuch und KINtop Schriften gewidmet sind.

Dem Publikum des frühen Kinos wurde ein bunt gemischtes Nummernprogramm aus Kurzfilmen der verschiedensten Genres offeriert. Außer der noch bis Ende der zwanziger Jahre üblichen Begleitung der Filme mit Grammophon oder live-Musik unterstützten Geräuschemacher, vor allem aber Kino-Erklärer die oft lebhafte Interaktion zwischen Leinwand und Publikum. Häufig wurden auch noch Speisen und Getränke angeboten. Die Stätten dieses Vergnügens hießen in Amerika Nickelodeons, in Deutschland sagte man vornehm Kinematograph, umgangssprachlich der Kino oder, vor allem in Berlin, der Kintopp (je nach Laune mit einem oder zwei "P", mit oder ohne "E" geschrieben).

Zahlreiche Schilderungen aus der Feder namhafter deutscher Literaten und Publizisten berichten über Besuche im Kintopp. In den letzten zwanzig Jahren wurde eine Reihe dieser Texte in Anthologien zusammengestellt und neu ediert. Die Filmgeschichtsschreibung in Deutschland hat Studien zur regionalen und lokalen Kinogeschichte beigesteuert: Emsig wurden Daten zu Abspielstätten recherchiert und Fotos von gähnend leeren Vorführsälen gesammelt. Was sich in diesen Sälen bis zum Ende des Ersten Weltkriegs alles abgespielt hat, wenn sie voll mit Zuschauerinnen und Zuschauern waren, darüber erfahren wir sehr wenig oder nichts. Zu diesem Defizit trägt bei, daß die überlieferten lokalen Quellen nur ganz selten direkt dazu Auskunft geben.

Die Neugier und der Wunsch, mehr über die Aufführungsgschichte des frühen Kinos zu erfahren und weiterzugeben, hat die Redaktion dazu bewogen, diese Ausgabe von KINtop den Ereignissen im Zuschauerraum zu widmen, d.h. Aufführungsgestaltung, Programmaufbau und Publikumsreaktionen zum Thema zu machen und das theoretische Potential dieser Schwerpunktsetzung für die Mediengeschichte der frühen Kinematographie zu erkunden. Die Redaktion ist sich dabei bewußt, daß dieser Band wiederum nicht mehr liefern kann als einige Bausteine, die vorhandenes Wissen ergänzen und zu weiterer Forschung anregen - in der Hoffnung, daß dazu vielleicht schon bald aussagekräftige und gesicherte Erkenntnisse erarbeitet werden können.

Wir eröffnen den Band mit der Übersetzung eines mittlerweile klassischen Textes von Charles Musser, der in der Filmauswertung den treibenden Faktor für die Entwicklung des neuen Mediums zur Freizeitindustrie sieht. Nicht in der Produktion, sondern im radikalen Wandel der Aufführungspraxis liegen demnach die Ursprünge des one-reeler, des gängigen Filmformats der amerikanischen Nickelodeon-Ära. Musser plädiert für eine auswertungsorientierte Historiographie des frühen Kinos, die ihr Augenmerk auf das Interaktionsfeld von Zuschauern und Filmen richtet und die Geschichte der Aufführungspraktiken der Auswerter schreibt.

Die ersten Filmvorführungen von Lokomotiven, die auf die Kamera zufahren, haben angeblich Panikreaktionen im Publikum bewirkt. Martin Loiperdinger untersucht diesen Gründungsmythos des neuen Mediums. Dabei erweist sich Lumières ANKUNFT DES ZUGES, rückblickend gern als Vorwegnahme des Direct Cinema gefeiert, ganz im Gegenteil als Resultat einer sorgfältigen Inszenierung.

Thierry Lefebvre geht den Spuren einer nach dem Besuch von Filmvorführungen auftretenden Augenkrankheit nach, die französische Ärzte cinématophthalmie getauft haben, und schlägt eine physiologische Geschichte des frühen Kinos vor. Manchem Kintopp-Besucher schmerzte wohl auch der Kopf: Die Handlung der vorgeführten Filme wurde häufig nicht verstanden. Jean Châteauvert beschreibt die vielfältigen Aufgaben des Kino-Erklärers, eines ausgestorbenen Berufs, der nicht nur für das rechte Verständnis der Filme, sondern auch für zusätzliche live-Unterhaltung zu sorgen hatte. Wie Hiroshi Komatsu und Frances Loden zeigen, bildete sich in Japan mit dem Benshi-Kino rasch eine eigentümliche Erzählkunst heraus: Im Mittelpunkt der Aufführung stand der Benshi. Die projizierten Filme benutzte dieser Sprechkünstler als Requisit seiner live-Darbietung.

Die beiden folgenden Beiträge befassen sich mit der Konstitution und Disziplinierung des Publikums während der Aufführung: Livio Belloï präsentiert verschiedene Praktiken, die das Publikum des frühen Kinos von der Leinwand aus direkt adressieren, um ihm zum Beispiel das Ende des Nummernprogramms zu signalisieren und es zum Verlassen der Stätte des Vergnügens zu bewegen. Heide Schlüpmann verfolgt, wie während des Ersten Weltkriegs in den Kinos Moralität (ein)geübt wird: durch verstärkte Bemühungen um den "Knigge" des Betragens im dunklen Vorführsaal, mehr noch durch lange Spielfilme, die über die minutiös vorgeplante Studioproduktion von Filmstil und Filmform die Erlebnisfähigkeit des Publikums ästhetisch reduzieren aufs "Miterleben".

Das frühe Kino war anders, seine Aufführungsgeschichte ist schwierig zu rekonstruieren. Die Präsentation der Filme aus dieser Zeit stellt Filmmuseen und Filmarchive vor eine Reihe von Problemen, die unterschiedlich angegangen werden. Dominique Païni reflektiert seine Erfahrungen, die er als Direktor bei der Sichtung der frühen Filmsammlungen der Cinémathèque française gemacht hat. Frank Roumen berichtet über die Programmierungskonzepte, mit denen das Nederlands Filmmuseum neue Zuschauerkreise für das frühe Kino gewonnen hat. Wir hoffen, daß wir zu Fragen der aktuellen Präsentation des frühen Kinos heute auch in den kommenden Ausgaben von KINtop Beiträge aus der Arbeit der Filmmuseen und Kinematheken publizieren können. Als praktische Anregung für "Filmverrückte" ist die Filmographie zum Kino im stummen Film von Sabine Lenk gedacht.

Die ersten Filmvorführungen hierzulande vor hundert Jahren werden von der Öffentlichkeit kaum beachtet. Mit einem Beitrag von Denise Böhm-Girel über ihren Vater, Constant Girel, erinnern wir an den einzigen Kameramann der Gebrüder Lumière, der Zeugnisse von seinem Deutschland-Aufenthalt im Jahr 1896 hinterlassen hat. Schließlich wird die Debatte über Arthur Melbourne-Cooper weitergeführt und mit einem Vorschlag von Anthony Slide, soweit es KINtop betrifft, zunächst einmal auch beendet. Buchbesprechungen und ein Kongreßbericht über "Moving Performance" aus Bristol beschließen den Band. Für die nächste Ausgabe von KINtop, die bereits im Frühjahr 1997 erscheinen wird, haben wir uns das Schwerpunktthema "Aktualitäten" vorgenommen.

Für ihre Hilfe beim Zustandekommen dieser KINtop-Ausgabe bedanken wir uns bei Michelle Aubert, Ansje van Beusekom, Stephen Bottomore, André Gaudreault, Ronald Grant, Martin Humphries, Piera und Livio Jacob, Mariann Lewinsky, Deac Rossell, Gerhard Ullmann. Für die Abdruckgenehmigung von Illustrationen danken wir der Association frères Lumière (Bois d'Arcy), dem Cinema Museum (London) und der Cineteca del Friuli (Gemona). Bei der Redaktion von IRIS möchten wir uns für das Entgegenkommen bedanken, das uns erlaubt, zwei Beiträge aus der nächsten IRIS-Ausgabe (die ganz dem Thema "Kino-Erklärer" gewidmet ist) in deutscher Übersetzung hier vorab zu veröffentlichen. Last but not least sagen wir den Autorinnen und Autoren unseren Dank, die alle ihre Beiträge unentgeltlich verfaßt haben.

Frank Kessler, Sabine Lenk, Martin Loiperdinger

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