Editorial

Krönungen, Paraden, Staatsbesuche, Umzüge, Einweihungsfeiern, Denkmalsenthüllungen und dergleichen mehr: Gerade in den Anfangsjahren der Kinematographie machen Ereignisse des öffentlichen Lebens einen bedeutenden Teil der Filmproduktion aus. Vor Ort gedreht oder nachgestellt - Aktualitätenfilme gestatten dem Zuschauer, sich 'ein Bild zu machen' von Ereignissen, von denen er schriftlich aus der Presse oder einfach nur mündlich vom Hörensagen erfahren hat.

Wir eröffnen diese Ausgabe von KINtop mit einer Kurzgeschichte aus dem Jahr 1900, die eine ganze Reihe von Motiven und Problemen anspricht, die zu unserem Themenkreis gehören: die Kamera als Zeuge; die Unsicherheit, ob es sich um dokumentarische oder um nachgestellte Aufnahmen handelt; das Gefühl, als Beobachter unmittelbar am Geschehen teilzunehmen; die Bedeutung der Aktualität als Attraktion und somit als Ware.

Obgleich es ihnen heute auf den ersten Blick oft nicht anzusehen ist: Frühe Aktualitätenfilme erweisen sich bei näherem Studium als überaus vielschichtig. Das zeigt sich bereits an den Unschärfen der sprachlichen Bezeichnung. William Uricchio und Sabine Lenk diskutieren wichtige Aspekte des Phänomens Aktualitäten anhand der zeitgenössischen Terminologie. Dabei fällt auf, daß der Begriff Aktualitäten ausgesprochen mehrdeutig ist und in verschiedenen Sprachen recht unterschiedliche Bedeutungen annimmt: Bezeichnet das französische actualité zunächst ganz allgemein einen Film, der auf das Interesse der Öffentlichkeit rechnen kann, so wird dieser Ausdruck schon bald im Sinne von 'Nachrichtenfilm' verwendet, worunter gleichermaßen nachgestellte und dokumentarisch aufgenommene Szenen fallen. Schließlich geht die actualité als Einzelfilm im Programmformat der Wochenschau auf. Im Englischen wiederum werden Filmaufnahmen von Tagesereignissen als topical films, später als newsreels bezeichnet. Der Terminus actuality meint dagegen schlicht die Wirklichkeit, während der französische Ausdruck actualité in der anglo-amerikanischen Filmgeschichtsschreibung oft ganz allgemein für den frühen non-fiction-Film steht.

Daß Aktualitäten ein 'weites Feld' sind, schlägt sich auch in der Vielfalt der für diesen Schwerpunkt verfaßten Beiträge nieder: Da sind zunächst Ereignisse, welche die Öffentlichkeit als faits divers wegen ihres Unterhaltungswerts interessieren: Skandalgeschichten wie die Flucht einer sächsischen Prinzessin mit dem Hauslehrer ihrer Kinder (Guido Convents), das gewaltsame Ende einer anarchistisch inspirierten Verbrecherbande (Jeanine Baj), die spektakuläre Operation, mit der Professor Doyen siamesische Zwillinge trennt (Thierry Lefebvre) oder, gewissermaßen als Aktualisierung einer bereits 25 Jahre alten Aktualität, Leben und Ende des berüchtigten englischen Verbrechers Charles Peace (Ine van Dooren). Bisweilen besteht die Sensation ganz einfach darin, daß eine berühmte Persönlichkeit überhaupt auf der Leinwand in Erscheinung tritt, so zum Beispiel im Fall von Leo Tolstoi (Natalia Nussinova).

In allen Beiträgen wird deutlich, daß die Filmbilder der Aktualitäten mehr zeigen, als heute auf den ersten Blick zu erkennen ist. Die zeitgenössische Kontextualisierung dieser Filmaufnahmen ist für ein adäquates Verständnis unumgänglich. Erst dann wird zum Beispiel klar, daß zwei dokumentarische Aufnahmen, die ein Edison-Film 1903 vor die nachgestellte Hinrichtung des Präsidentenmörders Czolgosz montiert, als Bilder amerikanischen Selbstbewußtseins zu lesen sind (Michael Punt). Oder daß Williamsons Film über den Angriff aufständischer Boxer auf eine Missionsstation in China nicht einfach eine mehr oder weniger plump nachgestellte Aktualität ist, sondern daß die im Westen dominierende imperialistische Sicht der chinesischen Revolte in diesem Kurzfilm einen äußerst verdichteten szenischen Ausdruck findet (Frank Gray). Umgekehrt kann die Berichterstattung über politische Ereignisse als ikonografische Folie in die Spielfilmproduktion eingehen: So ersteht ein blutig niedergeschlagener Bergarbeiterstreik in Griffith' Intolerance und in anderen Filmdramen wieder auf, wobei die fiktionalen Studio-Aufnahmen mehr über das zugrundeliegende Ereignis verraten dürfen als den seinerzeit massiv behinderten newsreels gestattet war (Russell Merritt).

Aktualitäten sind ebensowenig ein fest umrissenes Genre wie Aktualität objektive Eigenschaft eines Films sein kann. Letztendlich kommt es darauf an, daß Hersteller, Auswerter bzw. Zuschauer den Aufnahmen eines Ereignisses aktuelle Bedeutung zuschreiben, wie sich am Beispiel der kleineren französischen Firma Le Lion zeigen läßt (Youen Bernard). Eine für die Zuschauer zentrale Dimension der Aktualitätenfilme ist in jedem Fall, daß sie teilhaben können an einem Geschehen, bei dem sie selbst nicht anwesend waren. Schon bei den Kinetoskop-Filmen Edisons spielt das eine zentrale Rolle: Hier zeigen die bewegten Bilder im Kinetoskop-Guckkasten für jedermann zugänglich Ereignisse, die damals in der Wirklichkeit noch einer äußerst strengen sozialen und politischen Kontrolle unterliegen (Charles Musser). Die kinematographischen Aktualitäten wirken um die Jahrhundertwende an der Herausbildung einer medialen Öffentlichkeit mit, die seither an tiefgreifenden sozialen und politischen Veränderungen beteiligt ist.

Neben dem Aktualitäten-Schwerpunkt bieten zwei Beiträge zu den Anfängen der kinematographischen Branche in der damaligen Reichshauptstadt Berlin aufschlußreiche Ergänzungen zu den drei Bänden, die wir anläßlich von "100 Jahre Kino" dem Filmpionier Oskar Messter gewidmet haben (vgl. KINtop 3 sowie KINtop Schriften 2 und 3): Zum einen werden die Berliner Kinematographen-Anbieter vorgestellt, die 1896/97 in direkter Konkurrenz zu Messter stehen (Deac Rossell), zum andern wird die wechselvolle Geschichte des ersten Berliner 'Kinos' Unter den Linden 21 rekonstruiert, das Messter im September 1896 übernimmt (Jeanpaul Goergen). Schließlich enthält auch diese Ausgabe wieder einen Beitrag zum frühen Kino in Indien, nämlich einen wichtigen Nachtrag zu dem in KINtop 2 und KINtop 3 vorgestellten 'ersten' indischen Spielfilm RAJA HARISCHANDRA (Brigitte Schulze). Die nächste Ausgabe von KINtop, die im Sommer 1998 erscheint, wird dem Schwerpunkt "Schauspielereien" gewidmet sein.

Für ihre Hilfe beim Zustandekommen dieser KINtop-Ausgabe bedanken wir uns bei Stephen Bottomore und Wolfgang Beilenhoff. Besonderen Dank schulden Redaktion und Verlag der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung, durch deren Unterstützung die Drucklegung ermöglicht wurde. Schließlich möchten wir allen Autorinnen und Autoren für die Zeit und Mühe danken, die sie dieser KINtop-Ausgabe unentgeltlich gewidmet haben.

Frank Kessler, Sabine Lenk, Martin Loiperdinger

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