Editorial

Die lokale und regionale Geschichtsschreibung des Kinos hat in Deutschland in den vergangenen zwanzig Jahren zahlreiche Arbeiten unterschiedlichster Art hervorgebracht: von Dissertationen und Magister- oder Diplomarbeiten über Ausstellungskataloge von Museen und Archiven bis zu Fachartikeln in den Organen von Geschichtsvereinen und journalistischen Beiträgen in örtlichen Kulturmagazinen oder Filmzeitschriften. Viele dieser Arbeiten konzentrieren sich auf die faktographische Darstellung der Kinos im engeren Sinn: Die Gebäude, die örtlichen Betreiber der Kinos, bekannte Beispiele dort gezeigter Spielfilme und besondere Vorkommnisse wie zum Beispiel Tourneebesuche von Filmstars stehen im Mittelpunkt.

Das frühe Kino zeigt sich solchen Forschungsinteressen wenig zugänglich. Das Geschehen auf dem Film- und Kinomarkt vor dem Ersten Weltkrieg ist recht unübersichtlich. Dominiert von internationalen Anbietern, unterliegt er gleichwohl noch keinen etablierten Reglements. Zunächst werden Filme von Wanderkinematographen-Unternehmen sowie als Programmnummer in Varieté-Theatern gezeigt. Ortsfeste Kinematographentheater eröffnen erst in den Jahren 1906/07 und unterliegen in dieser Gründerzeit hoher Fluktuation. Programmgestaltung und Aufführungspraktiken sind noch keineswegs standardisiert. Längere Spielfilme drängen erst im Zuge der allmählichen Etablierung des Starsystems ab 1911/12 die bis dahin üblichen anonymen Kurzfilmprogramme zurück.

Viele Lokalstudien behandeln die ersten beiden Jahrzehnte von Film und Kino nur kursorisch. Die wenigen monographischen Arbeiten zur Frühzeit der Kinematographie neigen zur chronologischen Darstellung von Fakten und Begebenheiten. Sie ordnen Quellen unterschiedlicher Provenienz in eine lineare Entwicklung des Mediums am Ort ein, die sich weitgehend an der nationalen Film- und Kinogeschichtsschreibung orientiert.

Ein von Martin Loiperdinger geleitetes Projektseminar an der Universität Trier schlägt den umgekehrten Weg ein und nimmt jeweils einen besonderen Materialkorpus zum Ausgangspunkt, um daran einzelne Facetten der frühen Lokalgeschichte des Kinos in Trier herauszuarbeiten, die erst einmal für sich stehen und nicht in einen übergeordneten Zusammenhang integriert werden. Wir beginnen mit einer Trouvaille aus der Lokalpresse: Der Artikel "In einem 'trierischen' Kinematographen" aus dem Jahr 1909 macht darauf aufmerksam, daß die Präsentation des Lokalen - Erläuterungen des Filmerklärers im heimischen Dialekt sowie am Ort gedrehte Filme - beim Publikum hohe Attraktivität genießt. Trierer Lokalaufnahmen der Filmpioniere Marzen, welche Prozessionen und Umzüge dokumentieren, geben den Mitwirkenden Gelegenheit, lebende Porträts von sich selbst und ihren Freunden und Bekannten anzuschauen. Marzens auffällige Selbstinszenierung in den Lokalaufnahmen verweist auf eine enge Verbundenheit mit dem Publikum. Die Untersuchung Trierer Kinematographeninserate der Jahre 1909/10 zeigt erhebliche Unterschiede in der Programmgestaltung konkurrierender Unternehmen. Entscheidende Wettbewerbsvorteile scheint dabei die Originalität der auditiven live-Begleitung zu bringen, weniger die Auswahl der Filme selbst. Schließlich gibt eine Schulakte aus dem Trierer Stadtarchiv Einblick in die Auseinandersetzungen der Schulbehörden mit den lokalen Kinematographenbetreibern um die praktische Durchsetzung des Jugendschutzes.

 Mariann Lewinsky zeigt auf der Grundlage eines einzigartigen Filmbestandes aus dem Familienarchiv eines regionalen Schweizer Wanderkinos, daß sich Vorführpraktiken des frühen Kinos in abgelegenen Gebieten noch bis in die 1930er Jahre halten können. Aus Konstanzer Perspektive steuert Anne Paech Marginalien zur Geschichte der für kurze Zeit erfolgreichen Zirkuskinematographen bei, die in der Stadt am Bodensee gern Station machten, weil dort ein Hersteller ihrer prachtvollen Zelte zuhause war.

Für die Quelleninterpretation von disparatem und marginalem Material, wie es gerade die lokale Forschung zuhauf zutagefördert, stellen Roberta E. Pearson und William Uricchio in ihrem Beitrag eine zentrale Frage: Wie ist es dem Historiker möglich, das hier sich äußernde Partikulare zu seinem Recht kommen zu lassen, statt es umstandslos in größeren Zusammenhängen aufgehen zu lassen?

Jeanpaul Goergen präsentiert drei aufschlußreiche Annoncen des Berliner Kinematographenanbieters Foersterling aus dem Jahr 1896. Bert Hogenkamp, der das Forschungsprojekt zur Mediengeschichte der Stadt Utrecht leitet, resümiert für KINtop-Leser den Kenntnisstand der lokalen Kinogeschichte vor dem Ersten Weltkrieg. Parallelen zu den Untersuchungen in Trier betreffen vor allem die Rolle der Filmerklärer, die den Geschäftsgang der Kinematographentheater in Utrecht maßgeblich beeinflussen, sowie das generelle Kinder- und Jugendverbot, von dem nur Schülervorstellungen ausgenommen sind, deren Programme von einem Kommittee vorab geprüft werden.

Außerhalb des Schwerpunkts widmet sich Lars Novak im arg vernachlässigten Bereich des frühen wissenschaftlichen Films der Tätigkeit des Ehepaars Frank und Lillian Gilbreth, das mit der Filmkamera Arbeitsvorgänge aufzeichnet, um daraus Vorschläge zur Rationalisierung zu gewinnen. Astrid Söderbergh Widding porträtiert die Spielfilme der wenig bekannten schwedischen Firma Hasselblad, die geeignet sind, die herkömmliche Filmhistoriographie zugleich zu bestätigen und in Frage zu stellen.

 Die nächste Ausgabe von KINtop, die im Sommer 2001 erscheint, ist dem Themen-Schwerpunkt "Europa / USA" gewidmet. Weitere Hinweise dazu, Aktuelles zum frühen Kino aus der Forschung und den Archiven sowie Informationen über alle bisher erschienenen KINtop-Publikationen finden sich auf unserer Website unter http://www.uni-trier.de/index.php?id=23573

Den Autorinnen und Autoren danken wir dafür, daß sie ihre Beiträge für KINtop unentgeltlich geschrieben haben. Für ihre Hilfe beim Zustandekommen dieser Ausgabe danken wir außerdem Maria Luise Sachs und Gabi Stephan, Brigitte Braun, Jeanpaul Goergen, Uli Jung, Agnes Schindler, Jörg Schweinitz, Eberhard Simon, William Uricchio und Herman de Wit. Dem Stadtarchiv Trier danken wir für das hilfsbereite Entgegenkommen, dem Bistumsarchiv Trier für die Genehmigung zum Abdruck von Fotos aus Filmkopien. Der besondere Dank von Redaktion und Verlag gilt der Nikolaus Koch-Stiftung, Trier, und der Friedrich Wilhelm Murnau-Stiftung, Wiesbaden, für ihre Unterstützung.

Frank Kessler, Sabine Lenk, Martin Loiperdinger