Zum Ende des Films komme ich doch noch in den Genuß der von mir erwarteten Propagandabilder. Junge Pioniere in Reih und Glied, marschierende werktätige Frauen und vom Musiker dazu die Internationale, "Völker hört die Signale, auf zum letzten Gefecht..."
Nach soviel Realität werde ich mir nun als erstes einen Espresso gönnen und danach schnell ins "Zancanaro"-Filmtheater in meine roten Plüschsessel hechten und mir ein eskapistisches Filmdrama des frühen britischen Kinos gönnen.
Zum Abschluss bleibt nur noch zu bermerken: Von total anstrengend bis überaus interessant bot diese Woche in Sacile eine Überblick über die gesamte Schaffensperiode von Dziga Vertov mit teilweise noch nie, international, gezeigten Filmen. Eine Erfahrung die in der Dichte und Intensität einfach wohl nicht wieder kommt.


Thorsten Kretzer

screenshots aus: "Der Mann mit der Kamera"


"Ich bin Kinoglaz. Ich bin ein mechanisches Auge. Ich, die Maschine, zeige euch die Welt so, wie nur ich sie sehen kann. Von heute an und in alle Zukunft befreie ich mich von der menschlichen Unbeweglichkeit. Ich bin in ununterbrochener Bewegung, ich nähere mich Gegenständen und entferne mich von ihnen, ich krieche unter sie, ich klettere auf sie, ich bewege mich neben dem Maul eines gallopierenden Pferdes, ich rase in voller Fahrt in die Menge, ich renne vor angreifenden Soldaten her, ich werfe mich auf den Rücken, ich erhebe mich zusammen mit Flugzeugen, ich falle und steige zusammen mit fallenden und aufsteigenden Körpern."

Die Handlung auf der Leinwand steigert sich unaufhörlich, flink rasen die Finger des Pianisten über die Tasten. Und dann, plötzlich Stille. Ruhige See. Der Berliner Pianist, der den Film vorher nicht kannte, erzählt mir später im Kaffee, dass er den Moment erahnt, den Rhythmus von Vertovs Schnitt gefühlt und sich einfach gefreut habe, dass gleichzeitig mit seinem Innehalten der Musik auch die Bilder ruhiger wurden. -Szenenwechsel-
Wir sind jetzt Zeugen einer Operation. Gut, dass das ganze hier in schwarz-weiß ist. Wieder lässt der junge Musiker die Tasten ruhen, aber nur, um aufzustehen und mit seinem Fingernagel über die Seiten des geöffneten Pianos zu kratzen. Das Geräusch schnitt sich in meinen Gehörgang wie das Messer auf der Leinwand ins Fleisch.

Vertov sieht das menschliche Auge als unvollkommen an. Er stellt ihm das "Kino-Auge" entgegen. Genauso wie der Mensch das Mikroskop erfunden habe, um kleinste Dinge sehen zu können, benötige er die Kamera um das Leben sichtbar zu machen.

Vertov wendet sich hier ganz entschieden gegen den fiktionalen Film. Er sieht darin ein Instrument des Kapitalismus, um die arbeitende Bevölkerung von den tatsächlichen Problemen abzulenken. „Filmdrama und Religion sind eine tödliche Waffe in den Händen der Kapitalisten“. „Die teuflische Idee der Bourgeoisie bestand darin, das neue Spielzeug (die Filmkamera) zur Unterhaltung der Volksmassen zu verwenden, besser gesagt, zur Ablenkung der Aufmerksamkeit der Werktätigen von ihrem Hauptziel – dem Kampf gegen ihre Herren“.

„Das Filmdrama ist Opium für das Volk“

screenshot aus: "Der Mann mit der Kamera"

Aus der Sonne Italiens, das idyllische Scacile hinter mir lassend, gestärkt mit pasta con verdure schiebe ich den blauen Samtvorhang zur Seite und trete ein in den halbverdunkelten, schmucklosen Saal des „Ruffo“-Filmtheaters. In der Nähe der Leinwand ein Piano, mit einem leicht nervös wirkenden Musikstudenten aus Berlin. Die Sitzreihen sind gut besetzt, der Raum ist erfüllt von dem Geraschel von Papier; Programme werden zusammen und auseinander gefaltet, es wird im Festivalkatalog geblättert. Satzfetzen in Italienisch, Englisch und Deutsch dringen an mein Ohr. In einer der vorderen Reihen entdecke ich zwei Kommilitonen aus Trier und vor allem noch einen freien Platz. Jetzt noch das Festivalköfferchen unter dem Sitz verstauen, und dann kann die Zeitreise in die frühen Jahre der Sowjetunion beginnen. Nachdem das Licht aus, ist erscheinen die Titel in kyrillischer Schrift auf der Leinwand, die zu meinem Glück live übersetzt werden. Der Pianist beginnt zu spielen. Die ersten Bilder flackern über die Leinwand. Doch statt der erwarteten revolutionären Propaganda sehe ich Spielfilmszenen auf einem Passagierschiff und, dagegengeschnitten, Aufnahmen von den Dreharbeiten: Ein Paar an der Reling, dem die aufgewühlte See ins Gesicht peitscht, und jetzt einen Mann mit einem Eimer Wasser. Menschen, die sich über das schwankende Schiff kämpfen, und dann Männer, die eine Plattform hin und her bewegen.

Vertov möchte damit nicht nur zeigen wie ein Film gemacht wird, sondern er kritisiert hier den Spielfilm als gefährlich, da er nicht die Welt zeigt wie sie ist. „Wir erklären die alten Kinofilme, die romanzistischen, theatralisierten u.a. für aussätzig.

- Nicht nahekommen!

- Nicht anschauen!

- Lebensgefährlich!

- Ansteckend!“