Migrationserfahrungen von russlanddeutschen Jugendlichen

Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks Ende der 1980er Jahre kamen bis heute aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion mehr als 2,5 Mio. Aussiedler nach Deutschland, wobei über 40 Prozent jünger als 25 Jahre sind. Die behördlich verordnete Unterbringung in Übergangswohnheimen hat – gerade in bestimmten ländlichen Regionen – zu einer höchst ungleichen Verteilung der russlanddeutschen Zuwanderer geführt, verbunden mit einer wachsenden Fremdenfurcht und Hegemoniebestrebungen bei den Einheimischen. Wie gehen nun gerade die jungen Aussiedler mit diesen Ausgrenzungserfahrungen um?

In einem umfangreichen, von der Nikolaus Koch Stiftung geförderten Forschungsprojekt haben wir dazu ihre Migrationserfahrungen und das Zurechtfinden in der neuen Heimat näher untersucht – und sind dabei auf eine Problemgruppe mit einem hohen Desintegrationspotential gestoßen.

Denn die Lebenschancen von Kindern und Jugendlichen aus Aussiedlerfamilien sind aufgrund von Mehrfachbenachteiligungen (in Schule, Ausbildung, Beruf, Vereinen), Negativetikettierungen und sozialen Ausgrenzungserfahrungen deutlich schlechter als die ihrer deutschen Altersgenossen. Sie leben zudem nach anderen Wert- und Normvorstellungen, wobei vor allem eine männlichkeitsdominierte ‚Kultur der Ehre’ ein erhebliches Konfliktpotential enthält. Auffällig ist weiterhin, dass sich bei den jungen Aussiedlern die Kenntnisse der deutschen Sprache erheblich verschlechtert haben. In den Gesprächen mit Lehrern, Jugendarbeitern und betrieblichen Ausbildern wurden uns besorgniserregende Sprachdefizite berichtet. Während etwa für die zweite und dritte Generation von türkischen Jugendlichen eine verbesserte Sprachkompetenz zu verzeichnen ist, kommen immer mehr Aussiedlerkinder rein russischsprachig in Deutschland an. Die Folge ist eine Form von Sprach- und Kulturschock, durch die sie in die Rolle einer ‚mitgenommenen Generation’ gedrängt werden, einer Minderheit wider Willen, deren oft erzwungene kulturelle Entwurzelung im jugendlichen Seelenhaushalt bedrückende Spuren hinterlässt, für die die 15-jährige Natascha aus dem kleinen Hunsrückstädtchen Simmern deutliche Worte findet: „Meine Großeltern und meine Eltern haben immer von Zwangsumsiedlungen gesprochen. Aber was ist mir denn anderes passiert?“ Ein typisches Reaktionsmuster auf solche Entwurzelungs- und Marginalisierungserfahrungen ist – analog zu vielen anderen Migrantengruppen – Rückzug in eigenethnische Räume und Gruppen. Zwar müssen Parallelstrukturen und -kulturen nicht zwangsläufig mit Desintegration einhergehen, aber die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch. Wie aus einer fast einhundertjährigen Migrationsforschung bekannt ist, wird niemand als ‚marginal man’ geboren, aber Wanderungsbewegungen stehen immer in der Gefahr, solche Lebensschicksale zu erzeugen. Wenn keine geeigneten Integrationshilfen angeboten werden, ist zu befürchten, dass sich die Diaspora-Geschichte in bedrückender Weise auch für viele jugendliche Aussiedler wiederholen wird.

 

Die Trierer Forscher wollten mit nicht nur Integrationsbarrieren sichtbar machen, sondern auch sozialpolitische und jugendpädagogische Maßnahmen aufzeigen, um für die zweitgrößte Migrantengruppe in unserm Land auch Brücken zur deutschen Kultur und Gesellschaft zu bauen. Dazu haben wurden sowohl schulische Maßnahmen (Integrationsgymnasium Neuerburg, Arbeitsweltklassen) als auch außerschulische Hilfen (etwa Jugendmigrationsdienst der Caritas Trier, Projekt "KOMPASS – Die Trierer Orientierungshilfe für Zugewanderte" des Club Aktiv; stadtteilorientierte LOS-Projekte) näher untersucht. Des Weiteren wurde ein modulares kommunales Integrationskonzept entwickelt, um Anregungen für ein haupt- und ehrenamtliches Engagement in der Integrationsarbeit zu liefern.

 

 

Die Forschungsbefunde sind in Kürze in Buchform erhältlich: Waldemar Vogelgesang (unter Mitarbeit v. M. Elfert, N. Krämer, C. Maas, J. Przygoda, S. Vellemann), Jugendliche Aussiedler – zwischen ethnischer Diaspora und neuer Heimat, Juventa-Verlag, Weinheim/München, 2007.