Antisemitismus gibt es immer nur bei den anderen

Wie gehen deutsche Parteien mit offenem und verstecktem Antisemitismus in den eigenen Reihen und bei ihren Mitbewerbern um? Bisher gibt es hierzu kaum Forschung. Marc Seul und die Initiative Interdisziplinäre Antisemitismusforschung wollen dies ändern.

Es ist wohl der prominenteste Fall der vergangenen Jahre: Die Süddeutsche Zeitung berichtete mit Berufung auf einen Augenzeugen, dass der aktuelle bayerische Vize-Ministerpräsident Hubert Aiwanger (Freie Wähler) Urheber eines im Schuljahr 1987/88 verfassten Flugblatts mit antisemitischem Inhalt ist. Dieser bestreitet die Vorwürfe. „Sehr früh wurde von Aiwanger alles als Jugendsünde abgetan. Auch zu weiteren möglicherweise antisemitischen Äußerungen in seiner Schulzeit hat er inhaltlich nicht Stellung bezogen. Zwar hat er sich bei den Opfern des Holocausts und den Hinterbliebenen entschuldigt, aber weder hat eine wirkliche Auseinandersetzung mit der Kritik bei Aiwanger stattgefunden, noch wurden von seiner Partei oder dem Koalitionspartner CSU Konsequenzen gezogen“, analysiert Marc Seul.

Marc Seul vor Laptop, Bücher auf dem Tisch
Von der Forschung wurde bisher nur der Umgang mit Antisemitismus in einzelnen Parteien beleuchtet. Marc Seul plant eine komparatistische Untersuchung.

Der Masterstudent der Politikwissenschaft forscht im Rahmen der Initiative Interdisziplinäre Antisemitismusforschung (IIA) an der Universität Trier zu Antisemitismus und deutschen Parteien. In den vergangenen Jahren hat er sich eine beachtliche Expertise auf diesem Forschungsgebiet erarbeitet – unter anderem auch durch eine von der IIA und der Politikwissenschaftlerin Dr. Anna-Sophie Heinze (Trierer Institut für Demokratie- und Parteienforschung) organisierten Tagung zu dem Thema. Sind antisemitische Äußerungen von Politikerinnen und Politikern Einzelfälle oder sind antisemitische Vorstellungen eventuell in den Parteien doch verbreiteter, aber verdeckt? Wie gehen Parteien mit Antisemitismus um? Das sind Fragen, die Marc Seul interessieren.

Initiative Interdisziplinäre Antisemitismusforschung der Universität Trier erhält Förderung
Für ihre Projekte hat die Initiative Interdisziplinäre Antisemitismusforschung der Universität Trier eine Förderung in Höhe von 160.000 Euro vom Ministerium für Wissenschaft und Gesundheit und dem rheinland-pfälzischen Landtag erhalten. Foto: Landtag Rheinland-Pfalz

Andere Forschende haben bisher den Umgang mit Antisemitismus in einzelnen Parteien beleuchtet. Oft sind es jedoch Einzelfall-Analysen, die aufgrund unterschiedlicher Schwerpunkte keinen Vergleich zwischen den Parteien und keine Aussagen über die Dynamiken des parteipolitischen Diskurses über Antisemitismus ermöglichen. Als Thema einer potenziellen Doktorarbeit möchte Marc Seul eine solche komparatistische Untersuchung in Angriff nehmen. Hierfür hat er schon jetzt etliche Quellen  zusammengetragen. „Es gibt in Deutschland – mit Ausnahme der AfD – keine elektoral erfolgreiche Partei, die mit antisemitischen Ressentiments Wählerinnen und Wähler zu mobilisieren versucht. Man findet keine expliziten antisemitischen Äußerungen in den Programmen.“ Allerdings komme es vor, dass in Aussagen von Politikerinnen und Politikern latent Antisemitismus mitschwinge und dies weitgehend toleriert werde. Dies will Seul genauer unter die Lupe nehmen. Was er vor allem auch untersuchen will, sind die Reaktionen der Parteien darauf. Wird offen und kritisch über solche Äußerungen diskutiert oder eher unter den Teppich gekehrt? Können Personen mit latenten antisemitischen Einstellungen innerhalb der Parteien aufsteigen? Gibt es parteiinterne Verfahren, die bei schwereren Fällen zum Parteiausschluss führen können?

Fehlende interne Auseinandersetzung

Nach Einschätzung des Trierer Politikwissenschaftlers haben die meisten Parteien bislang die interne Auseinandersetzung über Antisemitismus in den eigenen Reihen gemieden. Mit am weitesten sei vielleicht die FDP nach dem Skandal um Jürgen Möllemann. Vor dem Hintergrund der Zweiten Intifada im Jahr 2002 hatte der damalige stellvertretende Vorsitzende der FPD Verständnis für Selbstmordattentate auf Israelis geäußert und sich schützend vor einen Parteikollegen gestellt, der Israel mit dem NS-Regime gleichgesetzt hatte. Daraufhin hätten sich zumindest Teile der Partei intensiver mit Antisemitismus auseinandergesetzt, so Marc Seul. Auch die Grünen seien schon einen Schritt weiter als andere Parteien, in dem die Partei eine Abgeordnete benannt hat, die sich speziell mit Antisemitismus-Fragen beschäftigt. „Oft sind Parteien aber schnell dabei, bei Antisemitismus auf die anderen zu zeigen: Antisemitismus kommt bei den anderen vor, aber nicht bei uns“, stellt Seul heraus.

Oft werde von Kritisierten auch einfach gesagt: ,Ich bin doch kein Nazi´. „Aber es gibt eben viele Formen antisemitischer Einstellungen. Nur weil eine Äußerung nicht offen zur Gewalt gegen Juden aufruft, heißt das nicht, dass sie frei von Antisemitismus sein muss“, stellt Seul klar. Als Beispiel nennt der Politikwissenschaftler die Debatte um Antisemitismus auf der Kunstausstellung documenta fifteen. Politikerinnen und Politiker hätten hier teilweise nicht klar genug Stellung bezogen und die Antisemitismuskritik abgewehrt statt sie ernst zu nehmen. Diese fehlende Auseinandersetzung könne zu einer Normalisierung des Antisemitismus beitragen, argumentiert Seul. Parteien und Politikerinnen und Politiker hätten daher eine besondere Verantwortung für den Umgang mit Antisemitismus in der gesamten Gesellschaft.

Auf Grundlage ihrer Untersuchungen wollen Marc Seul und die IIA Handlungsempfehlungen geben, wie Parteien mit Antisemitismus umgehen können. „Neben Grundlagenforschung ist uns der Wissenstransfer und die Anwendung für die Praxis sehr wichtig“, betont der Politikwissenschaftler. Es ist ein Ansatz, der vielfach von verschiedenen Stellen finanziell gefördert wurde. Jüngst hat die IIA für ihre Projekte eine Förderung vom Wissenschaftsministerium und dem Landtag Rheinland-Pfalz bekommen. Es ist ein weiterer Schritt, der es den Nachwuchsforschenden vielleicht bald ermöglicht, ein Institut an der Universität Trier zu gründen. Themen gäbe es noch viele, die dringend erforscht werden müssten.

IIA Tagung Uni Trier
Bei einer gemeinsam vom IIA und Anna-Sophie Heinze (rechts im Bild) organisierten Tagung wurde zu Antisemitismus und Parteien diskutiert.

Aktuelle Projekte der Initiative Interdisziplinäre Antisemitismusforschung

In der 2019 von jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gegründeten Initiative engagieren sich aktuell sieben Mitglieder. Jährlich veranstalten sie – teils mit Kooperationspartnern – eine Tagung, die Kulturwochen gegen Antisemitismus sowie zahlreiche öffentliche Vorträge. Auch eine beachtliche Zahl an Publikationen kann die Initiative vorweisen. Zurzeit forschen die Mitglieder unter anderemzu folgenden Themen:

  • Welche Rolle nimmt Antisemitismus in (post-)kolonialen Diskursen ein? Eine Analyse am Beispiel der Native Americans (Salome Richter)
  • Welche Leerstellen der Erinnerungskultur bestehen innerhalb der Institutionen und Akteur:innen des Sports in Deutschland? (Luca Zarbock)
  • Wie wird an marginalisierte Gruppen – insbesondere im Hinblick auf jüdisch-weiblichkommunistischen Widerstand – erinnert? (Luisa Gärtner)
  • Promotionsprojekt: Die Staatspolizeistelle Trier. Eine moderne Organisationsgeschichte (Andreas Borsch)
  • Promotionsprojekt: Zum Antisemitismus der Neuen Linken - Eine qualitative Untersuchung linker Zeitschriften (Lennard Schmidt) 

Kontakt

Marc Seul
Initiative Interdisziplinäre Antisemitismusforschung (IIA)
Mail: iia@uni-trier.de
Tel. +49 651 201-4192