66. Bitburger Gespräche 2023: Strategic Litigation - Die Durchsetzung kollektiver Interessen vor deutschen Gerichten
Vom 12. bis 13. Januar 2023 fanden in Trier die 66. Bitburger Gespräche statt. Die von der Gesellschaft für Rechtspolitik (gfr) und dem Institut für Rechtspolitik Trier (IRP) jährlich veranstaltete Tagung konnte nach der Pandemie erstmals wieder mit hoher Publikumsbeteiligung in Präsenz, ergänzt durch Videozuschaltungen im Hybridformat stattfinden. Sie widmete sich in diesem Jahr dem aktuellen und sehr facettenreichen Thema strategischer Klagen vor deutschen Gerichten und gliederte sich in drei Themenblöcke: die Durchsetzung von Menschenrechten und Klimaschutzzielen vor deutschen Gerichten, die Umsetzungsfragen der europäischen Verbandsklagerichtlinie 2020/1828 in Deutschland und Österreich sowie die Finanzierung von Kollektivklagen.
Klimaschutzklagen gegen Regierungen und private Unternehmen, Schadensersatzklagen wegen der Verletzung von Menschenrechten in Lieferketten sowie Verbraucherverbandsklagen beschäftigen nicht nur in Deutschland die Zivil-, Verwaltungs- und Verfassungsgerichte. Ihnen ist gemeinsam, dass sie nicht nur im Interesse Einzelner erhoben, sondern zumindest indirekt auch in einem Allgemeininteresse durchgeführt werden. Häufig sollen strategischen Klagen, die von NGOs und Verbänden unterstützt oder erhoben werden, vor allem politische Fragen thematisieren und medienwirksam in Szene setzen.
In ihrer Einleitung versuchte Professorin Astrid Stadler (Konstanz), die wissenschaftliche Leiterin der Tagung, zu verdeutlichen, welche rechtlichen Fragen sich bei allen diesen Klagen stellen. Der strategische Charakter der Verfahren geht oft mit einem Missbrauchsvorwurf einher. Dieser wird nicht nur bei privaten Klimawandelklagen (beispielsweise die gegen RWE erhobene Klage des peruanischen Bauern Lliuya, dessen Haus durch die globale Erwärmung von Gletscherwasser bedroht ist) erhoben, sondern auch bei Klagen aufgrund von Menschenrechtsverletzungen in Lieferketten oder vielen Klagen der Deutschen Umwelthilfe. Auch die Diskussion um Verbandsklagen im Verbraucherschutz ist in Deutschland geprägt von der Befürchtung, Verbände könnten aus ideologischen oder eigenen wirtschaftlichen Interessen neue Klageinstrumente zum Schaden der Wirtschaft missbrauchen. In allen drei Konstellationen geht es aber auch um die Frage, ob eine effektive Rechtsdurchsetzung besser durch staatliche Behörden erfolgt oder durch ein sog. „private enforcement“, d.h. mittels privater Klagen konkreter Geschädigter, welche möglicherweise in ihrer Summe eine größere verhaltenslenkende Funktion ausüben als behördliche Bußgelder. Verzahnt sind die Themenkomplexe schließlich auch durch die Frage, wie Kollektivklagen finanziert werden können. Einzelne Geschädigte können sich aus eigenen Mitteln eine Klage oft ebenso wenig leisten, wie manche Verbraucherverbände mit einem begrenzten Budget. Hier spielen in ganz Europa gewerbliche Prozessfinanzierer eine zunehmend wichtige Rolle. Ohne sie würden viele Kollektivklagen nicht stattfinden, andererseits sind sie dem Vorwurf ausgesetzt, durch ihr Geschäftsmodell einer Kommerzialisierung von (Zivil)Prozessen bzw. gar einer „Klageindustrie“ Vorschub zu leisten.
Im Eröffnungsvortrag „Lieferkettengesetz – private oder öffentlich-rechtliche Durchsetzung?“ stellte Professor Christoph Althammer (Regensburg) das am 01.01.2023 in Kraft getretene deutsche Lieferkettensorgfaltsgesetz (LKsG) vor und ging dabei vor allem der Frage nach, ob die vom deutschen Gesetzgeber vorgesehene rein behördliche Durchsetzung des Gesetzes ausreichend ist. Seine Zweifel an der Effektivität dieses Ansatzes teilte das Publikum in der anschließenden Diskussion weitgehend. Vielversprechender dürfte ein von der EU geplantes Zwei-Säulen-Modell sein („smart mix), das im Gegensatz zum deutschen Gesetz auch ausdrücklich private Schadenersatzklagen bei Verletzungen zulassen will.
Im zweiten Vortrag des ersten Tages zur „Climate Change Litigation“ führte Professorin Stefanie Schmahl (Würzburg) dem Publikum die große Bandbreite von öffentlich-rechtlichen Klimaschutzklagen vor Augen, die weltweit anhängig oder bereits entschieden sind und die alle auf die Verletzung individueller Menschenrechte gestützt werden. Die Legitimität dieser wiederum politisch motivierten Klagen anerkannte sie, obgleich diese Verfahren vor dem Hintergrund der Gewaltentrennung und des Demokratieprinzips hoch problematisch sind. Die Umsetzung international vereinbarter Klimaschutzziele obliegt den Gesetzgebern der Vertragsstaaten und sie erfordert komplexe Abwägungen für das gesamte Wirtschafts- und Sozialleben. Gerichtliche Einzelfallentscheidungen können dies nicht ersetzen und sind daher möglicherweise das falsche Mittel. Große Zustimmung fand in der Diskussion die These der Referentin, dass der Klimawandel nur durch eine klare völkerrechtliche Einigung auf konkrete Reduktionsziele einzelner Staaten justiziabel wird. Die „Rechtswegopposition“ durch Menschenrechtsklagen kann das Problem langfristig nicht lösen, bestenfalls in der Diskussion halten und politischen Druck ausüben.
Im letzten Vortrag des ersten Tages behandelte Professor Marc-Philippe Weller (Heidelberg) „Klimawandelklagen vor deutschen Gerichten“ u.a. anhand des Beispiels der vor dem OLG Hamm rechtshängigen Klage des peruanischen Bauern gegen RWE. Regelmäßig wird hier versucht, über das allgemeine Deliktsrecht z.B. Schadensersatz für individuelle Verletzungen zu erstreiten, damit aber insgesamt größere Klimaschutzanstrengungen von privaten Unternehmen einzufordern. Die Zuständigkeit deutscher Gerichte für solche strategischen Klagen ist oft gegeben, hoch problematisch sind jedoch die Haftungsvoraussetzungen, da das private Haftungsrecht auf die komplexen klimapolitischen Fragen nicht zugeschnitten ist. Nicht klar beantworten lassen sich insbesondere die Fragen, gegen welche Sorgfaltspflichten beklagte Unternehmen verstoßen, solange es an konkreten Vorgaben des Gesetzgebers zum Klimaschutz fehlt, und ob ihr Verhalten wirklich im Einzelfall die geltend gemachten Schäden verursacht hat.
Der zweite Tagungstag war zunächst der Umsetzung der europäischen Verbandsklagerichtlinie im Verbraucherrecht in Deutschland und Österreich gewidmet. Entgegen aller Erwartungen haben beide Gesetzgeber jedoch die Ende Dezember abgelaufene Umsetzungsfrist für die Richtlinie verstreichen lassen und die beiden Vortragenden konnten sich noch nicht mit konkreten (offiziellen) Gesetzentwürfen befassen. Im Zentrum der Vorträge von Professorin Caroline Meller-Hannich (Halle) und Professor Georg Kodek (Wien) standen daher Umsetzungsvorschläge aus der Wissenschaft und die Bewertung erster Überlegungen, die aus den jeweiligen Ministerien bekannt geworden sind. Beide Vorträge zeigten, dass die seit Jahren wissenschaftlich intensiv geführte Diskussion um zentrale Umsetzungsfragen bislang in keinem der beiden Länder zu befriedigenden praktischen Ergebnissen führte und nun unter hohem Zeitdruck vermutlich politische Kompromisse geschlossen werden müssen. Die Vorträge und die Publikumsbeiträge diskutierten dabei vor allem die Fragen kontrovers, zu welchem Zeitpunkt Verbraucherinnen und Verbraucher sich einer Verbandsklage anschließen können sollen, wie der klagende Verband die Komplexität der Schadensfälle bewältigen kann und wie man – z. B. über eine sinnvolle Verjährungsunterbrechung – eine Mehrfachbelastung der Justiz durch parallele Verbands- und Individualklagen bei Massenschadensfällen vermeiden kann.
Zum Schluss verklammerte die Podiumsdiskussion unter dem Generalthema „Die Finanzierung von Kollektivklagen – gewerbliche Prozessfinanzierung pro und contra“ noch einmal alle Themen mit der alles entscheidenden Frage, wie strategische Klagen und Verbandsklagen finanziert werden sollen. Im Mittelpunkt der von Professor Alexander Bruns (Freiburg) moderierten Diskussion stand ein Richtlinienvorschlag aus dem Europäischen Parlament, der eine strenge Regulierung gewerblicher Prozessfinanzierer durch ein staatliches Aufsichtssystem ähnlich dem Versicherungs- und Bankensektor vorsieht, sowie deutliche Beschränkungen der Vertragsfreiheit für Finanzierungsverträge. Hierzu hatten die Veranstalter einen der Initiatoren des Richtlinienvorschlags, Axel Voss, Mitglied des Europäischen Parlaments eingeladen, eine Vertreterin der Wissenschaft, Professorin Beate Gsell (München) sowie Vertreter der Anbieter- und Nachfrageseite von Prozessfinanzierung, den Co-CEO der Schweizer Nivalion AG, Thomas Kohlmeier, und Dr. Petra Leupold (Wien), die aus Sicht des österreichischen Verbraucherverbandes VKI die Erfahrungen mit der Prozessfinanzierung schildern konnte. Erwartungsgemäß fokussierten sich die Podiumsdiskussion und die Fragen und Beiträge aus dem Publikum darauf, ob ein gesetzlicher Rahmen für die Prozessfinanzierung auf europäischer Ebene überhaupt notwendig ist, wer durch die geplante Regelung geschützt werden soll und vor welchen konkreten Gefahren. Ein großer Teil der Teilnehmerinnen und Teilnehmer anerkannte zwar ein grundsätzliches Regelungsbedürfnis, plädierte aber für gesetzgeberische Zurückhaltung im Detail angesichts schon vorhandener Regelungen (etwa zu missbräuchlichen Allgemeinen Geschäftsbedingungen) und für ein Abwarten, ob und welche konkreten Missstände nach Umsetzung der Verbandsklagerichtlinie überhaupt auftreten.
Die gut besuchte Tagung schloss mit einer Zusammenfassung der wissenschaftlichen Leiterin, die in vielen Fragen auf viel Zustimmung zu den Referaten aus dem hochrangig mit Vertretern von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Justiz besetzten Publikum verweisen konnte. Die Referentinnen und Referenten hatten aber auch zahlreiche komplexe Fragestellungen identifiziert, deren Lösung keineswegs auf der Hand liegt, bei denen aber gleichwohl bald gesetzgeberische Entscheidungen gefragt sind.
Interessierte finden hier weiterführende Literatur.