Die Wahlrechtsreform der Ampel - Längst überfällig oder verfassungswidrig?

Die Wahlrechtsreform der Ampel

Die Ampelkoalition hat ihre umstrittenen Pläne für eine Wahlrechtsreform zur Reduzierung der Abgeordnetenzahl durch den Bundestag gebracht. Das Parlament beschloss am 17. März 2023 eine Änderung des Bundeswahlgesetzes, die neben einer Abschaffung von Ausgleichs- und Überhangmandaten auch den Wegfall der Grundmandatsklausel vorsieht. Zu diesem Thema veranstaltete das Institut für Rechtspolitik am Mittwoch, den 3. Mai 2023, ein digitales rechtspolitisches Kolloquium. Als Referent sprach Herr Prof. Dr. Christoph Möllers (Humboldt-Universität zu Berlin), der Teil der Kommission zur Reform des Wahlrechts und zur Modernisierung der Parlamentsarbeit des Bundestages sowie einer der Mitautoren des Vorschlags war, der dem neu verabschiedeten Wahlrecht zugrunde liegt. Ihm stellte sich Herr Michael Frieser, Justiziar der Unionsfraktion und Mitglied des Bundestages, kritisch entgegen. Die Veranstaltung schloss an ein digitales Kolloquium aus dem März 2022 an, in der Prof. Dr. Joachim Behnke (Zeppelin Universität Friedrichshafen) zu einer gebotenen Wahlrechtsreform referierte. Interessierte finden nachstehend eine Liste mit weiterführender Literatur.

     I. Die Änderungen durch die Wahlrechtsreform im Überblick

Die Reform (BT-Drs. 20/5370 in der vom Innenausschuss geänderten Fassung, BT-Drs. 20/6015) zielt darauf ab, die Anzahl der Abgeordneten im Bundestag auf eine verlässliche Obergrenze von 630 zu reduzieren. Im Zentrum der Neuregelung steht daher der Wunsch, auf die bisherige Vergabe von Überhang- und Ausgleichsmandaten zu verzichten. Bisher wurden Überhangmandate vergeben, wenn eine Partei mehr Direktmandate gewonnen hatte, als ihr nach dem Listenergebnis eigentlich Sitze zugestanden hätten. Um das Kräfteverhältnis der Parteien im Parlament entsprechend der Zweitstimmen wiederherzustellen, wurden diese Überhänge durch zusätzliche Ausgleichsmandate für die übrigen Parteien kompensiert. Dies führte dazu, dass die Anzahl der Abgeordneten die gesetzlich festgelegte Sollgröße von 598 überschritt und aktuell bei 736 Bundestagsabgeordneten liegt: Damit hat Deutschland nach China das zweitgrößte Parlament der Welt.

Der Innenausschuss brachte des Weiteren den Wegfall der Grundmandatsklausel in seiner Beschlussempfehlung ein. Diese Regelung besagte, dass eine Partei auch dann entsprechend ihres Zweitstimmenergebnisses im Bundestag vertreten ist, wenn sie weniger als fünf Prozent der Zweitstimmen erhalten, mindestens aber drei Direktmandate gewonnen hat. Diese Ausnahme von der 5 %-Hürde sollte regionale Besonderheiten und Schwerpunkte der Direktkandidaten zur Geltung kommen lassen.

     II. Möllers: Ziele und Wirkungen der Reform

Die Veranstaltung begann mit einer Begrüßung durch Frau Prof. Dr. Antje von Ungern-Sternberg, der Direktorin des Instituts. Sie übergab das Wort an Herrn Prof. Möllers.

     1. Ziele der Reform

Möllers begann, indem er die Ziele vorstellte und verdeutlichte, die die Wahlrechtskommission bei der Ausarbeitung der Reform vor Augen gehabt hatte. Zum einen sei dies eine deutliche Verkleinerung des Bundestages, möglichst auf eine vorhersehbare gesetzlich festgelegte Zahl. Eine solche Verkleinerung sei geboten, um zum einen die Funktionsfähigkeit des Ausschusswesens sicherzustellen. Zum anderen sei es eine Frage der Selbstdarstellung des politischen Systems. Möllers legte besonderes Augenmerk auf die Selbstbezüglichkeit des Wahlrechts: Der Bundestag würde die notwendige Zahl der Abgeordneten selbst festlegen, die für eine demokratische Repräsentation nötig sein. Warum plötzlich 120 Abgeordnete mehr als gesetzlich vorgesehen notwendig seien, sei den Wählerinnen und Wählern gegenüber schwer zu erklären.

Sodann legte Möllers die zwei zentralen Elemente des Wahlsystems dar, die in einem reformierten Wahlsystem beibehalten werden sollten. Erstens sollten die beiden Elemente des personalisierten Mehrheitswahlsystems erhalten bleiben. Zum einen entscheide die Zweitstimme über die politischen Mehrheiten im Bundestag, die Möglichkeit der Regierungsbildung und die Kanzlerwahl. Zum anderen sorge die Erststimme durch das Wahlkreissystem für eine innerparteiliche Gewaltenteilung und einen Anreiz für Parteien, sich dezentral aufzustellen. Zweitens benannte er den Wahlkreis-Abgeordneten, der als zentrale Figur des Repräsentationssystem bewahrt bleiben sollte. Möllers erklärte, dass aufgrund der Überhang- und Ausgleichsmandate aktuell nur 40 % der Abgeordneten überhaupt Wahlkreis-Abgeordnete seien. Entgegen mancher Ansicht stärke die Reform so die kommunale Repräsentation.

     2. Lösungen

Um die oben genannten Voraussetzungen im Rahmen der Reform einzuhalten, schlug Möllers vor, auf Ebene der Wahlkreise ansetzen. Um dem Auseinanderdriften von Erst- und Zweitstimmenergebnissen zu begegnen, müsse man sich von der Selbstverständlichkeit lösen, dass die Wahlkreissiege immer ein Direktmandat garantieren würden. Beispielhaft nannte Möllers einen Direktkandidaten aus Sachsen, der in der letzten Bundestagswahl mit 18 % der abgegebenen Stimmen seinen Wahlkreis gewann: Wegen der oft sehr geringen relativen Mehrheiten sei es in seinen Augen mit allgemeinen Gerechtigkeitserwägungen vereinbar, mit diesem Grundsatz der Mehrheitswahl zu brechen.

Möllers diskutierte sodann mehrere konkrete Lösungsvorschläge. Die Grundidee sei, keine Direktmandate über die Anzahl der gewonnen Zweitstimmenmandate hinaus zu vergeben. Die Ampelkoalition hatte die Einführung einer Ersatzstimme angeregt. Nach diesem System könnten Wählerinnen und Wähler eine dritte Stimme abgeben, die nur zum Tragen käme, wenn ihr gewählter Direktkandidat nicht durch eine entsprechende Zweitstimmenmehrheit gedeckt sei. Aus verschiedenen Gründen habe sich jedoch eine Kappung durchgesetzt: Die Zweitstimmenmehrheit bestimme über die Mehrheitsverhältnisse im Parlament, die gewonnenen Wahlkreise über die personelle Besetzung innerhalb der gewonnenen Mehrheiten. Preis des neuen Systems sei es, dass die gewonnenen Direktmandate entfallen würden, die von der Zweitstimmenmehrheit nicht mehr gedeckt seien.

Diese nicht berücksichtigten Direktkandidaten seien auch das Zentrum der verfassungsrechtlichen Kritik. Möllers begründete die Verfassungskonformität der Regelung, indem er eine umgekehrte Betrachtung vornahm: Wenngleich politisch nicht gewollt sei es unbestritten, dass ein reines Verhältniswahlsystem mit der Verfassung vereinbar sei. Deshalb präsentiere sich die gewählte Lösung lediglich als „reine Verhältniswahl mit Trick“. Der Trick sei die personelle Besetzung der gewonnen Zweitstimmenmehrheit über die direkt gewählten Wahlkreiskandidaten.

Die Opposition brachte ein, dass bei einem solchen Fokus auf das System der Verhältniswahl ein Festhalten an der Grundmandatsklausel nicht zu rechtfertigen sei. Möllers gestand ein, dass die Grundmandatsklausel schlechter in das neue, als in das alte System passe. Dennoch zeigte er sich von einem solchen Systemargument wenig überzeugt. Er könne sich die Grundmandatsklausel als Gegenstück zur 5 %-Hürde im neuen Wahlsystem weiterhin gut vorstellen, auch wenn er sie nicht für verfassungsrechtlich geboten halte. Er erwarte jedoch, dass das Bundesverfassungsgericht wegen des Wegfalls eine Anpassung der 5 %-Hürde verlangen wird. Dementsprechend sei es ein „politischer Fehler“ gewesen, dass die Grundmandatsklausel letztendlich gestrichen worden sei.

     III. Frieser: Größe, Repräsentation, Grundmandatsklausel

Michael Frieser übernahm das Wort und stellte sich Möllers Wertung in fünf Punkten kritisch gegenüber. Zum Ersten sei die Debatte in seinen Augen zu sehr von dem „Größen“-Argument getrieben. Immer wieder würde die steigende Abgeordnetenzahl als Aufforderung zum politischen Handeln verstanden. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Rechtsprechung jedoch nie die Größe des Bundestags als solche bemängelt.

Zum Zweiten betonte Frieser die im von der Ampel beschlossenen Kappungsmodell festgelegte Abgeordnetenzahl. Diese sei im Prozess der Ausarbeitung von 598 auf 630 Abgeordnete hochgesprungen. Er deutete an, dass hier hinter politische Motive stecken könnten, indem sich die Ampelkoalition in Hinblick auf die letzte Bundestagswahl auch zukünftig politische Mehrheiten sichern wollen würde.

Als Drittes richtete sich Frieser mit klaren Worten gegen das Kappungsmodell: Dieses degradiere die bislang gleichberechtigte Erststimme zu einer reinen Empfehlung. Ob die Erststimme so überhaupt Wirkung entfalte, würde vom Zufall abhängen. Dabei bestehe bereits eine Wechselbeziehung zwischen Wahlkreis- und Listenkandidaten. Indem die Direktkandidaten vorrangig in den Bundestag einzögen, würden sie die Listenkandidaten in ihrer Berücksichtigung nach hinten schieben.

Als Viertes arbeitete Frieser heraus, dass die Besetzung im neuen Kappungssystem, das er als „faktisches Verhältniswahlsystem“ bezeichnete, nur noch auf das parteiinterne Ranking ankäme. Manche Regionen, deren Kandidat mangels Zweitstimmenanteil unberücksichtigt bliebe, würden unterrepräsentiert. Dies verkenne das Grundprinzip des Direktmandats, das durch eine breite kommunale Repräsentation eine basisnahe Demokratie gewährleisten solle.

Als Fünftes widmete sich Frieser der Grundmandatsklausel. Diese sei immer eine systemfremde Ausnahme gewesen. Die Anforderungen, die das Bundesstaatsprinzip vermittle, hatte das Bundesverfassungsgericht bislang immer dann als erfüllt angesehen, wenn den regionalen Besonderheiten durch eine eigenständige Regelung Rechnung getragen werde. Diese Regelung entfalle nun und verwehre damit potenziell Abgeordneten mit regionaler Erststimmenmehrheit den Einzug in den Bundestag.

Abschließend verlieh Frieser seinem Gefühl Ausdruck, die Regierung wolle sich der Opposition nicht mit Argumenten zur Wehr setzen, sondern diese mithilfe des Wahlrechts ausschließen. Durch die außerparlamentarische Ausarbeitung der Reform und die Streichung der Grundmandatsklausel „über Nacht“ habe er wenig Vertrauen in ein über die Fraktionen hinaus gehendes Miteinander. Gleichzeitig glaube er nicht, dass dieser „Angriff“ auf das Wahlrecht und auf die einzelne berechenbare Stimmabgabe des Bürgers das Vertrauen in die Politik stärken könne.

     IV. Diskussion und Ausblick

Mit Abschluss beider Vorträge ging Frau Prof. von Ungern-Sternberg auf einige rechtstatsächliche Folgen der Reform ein. Sie betonte die Auswirkungen auf die Repräsentation durch die Wahlkreise und stellte infrage, ob es durch die Reform nicht zu Ungleichheiten zwischen besonders „sicheren“ und „unsicheren“ Wahlkreisen kommen könnte. Zuletzt regte sie die Diskussion mit der Frage an, ob es tatsächlich einen so großen Unterschied zwischen Direkt- und Listenabgeordenten geben würde, wie Herr Frieser dies dargestellt hatte.

Mit dieser Einleitung starteten die Dozenten in die Diskussion. Wie es bei den rechtspolitischen Kolloquien des Instituts für Rechtspolitik üblich ist, konnten sich Zuhörerinnen und Zuhörer aus dem Publikum einbringen und den Dozenten auf Augenhöhe begegnen. Nach einer ausführlichen Debatte dankte Frau Prof. von Ungern-Sternberg den Beteiligten und beendete die Veranstaltung.

Zur Person: Prof. Dr. Christoph Möllers

Prof. Dr. Christoph Möllers

Prof. Dr. Christoph Möllers, geb. 1969, studierte Rechtswissenschaften, Philosophie und Komparatistik in Tübingen, Madrid und München. Möllers war ab 2004 Professor für Öffentliches Recht an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, von 2005 bis 2009 Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, insbes. Staatsrecht, Verfassungstheorie und Rechtsvergleichung an der Georg-August-Universität Göttingen und ist seither Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Möllers war Teil der Kommission zur Reform des Wahlrechts und zur Modernisierung der Parlamentsarbeit.

Zur Person: Michael Frieser

Michael Frieser

Michael Frieser, geb. 1964, studierte Rechtswissenschaften an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Er ist seit 1994 Rechtsanwalt für Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht, war von 1996 bis 2009 Syndikusanwalt und von 2002 bis 2016 GmbH-Geschäftsführer im Einzelhandel. Frieser ist seit April 2018 Bezirksvorsitzender der CSU Nürnberg-Fürth-Schwabach und ab 2009 Mitglied des Deutschen Bundestages. Seit 2014 ist er Demografiebeauftragter und seit 2018 Justiziar der CDU/CSU- Bundestagsfraktion.