Über die Forschungsgruppe

Foto Buchtitel Kontroverse Begriffe

Vor fast dreißig Jahren ist der vom Sprecher der Forschungsgruppe mitverfasste Band „Kontroverse Begriffe. Geschichte des öffentlichen Sprachgebrauchs der Bundesrepublik Deutschland“ veröffentlicht worden. Dort wurden öffentliche Streits um Worte in insgesamt 16 Themenfeldern wie z.B. der Wirtschaftspolitik (Soziale Marktwirtschaft, Mitbestimmung u.a.), der Außen- und Sicherheitspolitik (Remilitarisierung, Nachrüstung u.a.) oder der Migrationspolitik (Gastarbeiter, Einwanderungsland etc.) analysiert. Die Interpretation solcher expliziter öffentlicher Sprachthematisierungen zusammen mit der Beobachtung des Gebrauchs der thematisierten Ausdrücke ergab eine Sprachgebrauchsgeschichte wichtiger gesellschaftlicher Schlüsselbegriffe oder Leitvokabeln. Peter von Polenz (1999) hat „Kontroverse Begriffe“ in seiner großen dreibändigen Sprachgeschichte als wichtigen Beitrag zur Sprachgeschichte als Zeitgeschichte gewürdigt. Der Band „Kontroverse Begriffe“ wird im Nachhinein oft auch als erster diskurshistorischer Beitrag zur jüngsten Sprachgeschichte angesehen, obwohl er den Diskurs-Begriff noch nicht in Anspruch genommen hat.

In etwa zeitgleich ist aber das theoretische Programm einer historischen Diskurssemantik von Forschern wie Dietrich Busse, Fritz Hermanns und Wolfgang Teubert entwickelt worden. Sie berufen sich mit ihrem Diskursverständnis auf Foucault. „Diskurs“ ist demnach dadurch charakterisiert, dass verschiedene Akteure bzw. Akteursgruppen in ihrem kommunikativen Handeln über-individuelles Wissen repräsentieren und konstruieren. Eine linguistische Diskursanalyse strebt daher die Rekonstruktion kollektiven Wissens an, das sich sprachlich manifestiert und einem Wandel unterworfen ist. Derartige Auffassungen von Diskurs erkennen der Sprache eine maßgebliche Rolle bei der Erfassung und der Konstruktion der Wirklichkeit zu. Diskurslinguistische Ansätze gehen davon aus, dass sich bei der Analyse großer Textmengen (Textkorpora) spezifische Sprachgebrauchsmuster zeigen lassen, die einer wissensanalytischen Interpretation zugänglich sind. Derartige Muster lassen sich sowohl beim Wortgebrauch als auch auf anderen sprachlichen Ebenen wie in Argumentationen oder in metaphorischen Konzepten finden und wissens- und mentalitätsgeschichtlich interpretieren. Diskurse werden verstanden als „Zeitgespräche“ (Hermanns 1995, 88), die innerhalb einer Diskursgemeinschaft über bestimmte Themen geführt werden. Ihre Analyse gibt Auskunft über „kollektives Denken, Fühlen, Wollen [Mentalitäten] einer Sprachgemeinschaft“ (Hermanns 1995, 71). Diskursanalysen gehen also über einzelne Texte hinaus bzw. beziehen sich meist auf ganze Textkorpora oder zumindest auf mehrere für den Diskurs zentrale Texte.

In den letzten zwei Jahrzehnten sind vielfältige diskurslinguistische Forschungsmethoden entwickelt und angewendet worden, die gemeinsam haben, dass mit ihnen nach Denkmustern und Wissensbeständen im Sprachgebrauch gesucht werden kann, die in Texten, textübergreifend und auch diskursübergreifend realisiert werden oder die als verstehensrelevantes Wissen Äußerungen zugrunde liegen können. Mit diesen diskurslinguistischen Methoden ist eine Diskursgeschichtsschreibung möglich, die über das Konzept und die Methoden der historiographischen Begriffsgeschichte („Geschichtliche Grundbegriffe“) ebenso hinausgeht wie über die „Kontroversen Begriffe“.

Für die Sprachgeschichtsschreibung der jüngsten Zeit fehlt aber eine auf diesen modernen Methoden der Diskursanalyse aufbauende, dem Überblick der „Kontoversen Begriffe“ bis etwa zum Jahr 1994 entsprechende Gesamtdarstellung der Diskursgeschichte der Bundesrepublik seit 1990. Während die ZeithistorikerInnen regelmäßig für die jüngste Vergangenheit zusammenfassende Überblicksdarstellungen vorlegen, erschöpft sich die sprachhistorische Erforschung der „Sprachgeschichte als Zeitgeschichte“ in zahlreichen Einzelstudien etwa zum Klimaschutzdiskurs, zu Wirtschaftskrisendiskursen oder zum Diskurs über embryonale Stammzellenforschung.

Die Forschungsgruppe hat zum Ziel, eine solche, die wichtigsten Themenfelder öffentlich-politischer Debatten abdeckende Gesamtdarstellung zu leisten. Sie will eine Sprachgeschichte als Diskursgeschichte für die Zeit nach 1990 über insgesamt zwölf thematische Felder = Diskurse schreiben. Da gesellschaftlich wichtige bzw. zentrale Themen behandelt werden sollen, erfolgt ihre Auswahl in erster Linie aufgrund ihrer durchgehenden Relevanz für die öffentlich-politischen Auseinandersetzungen der letzten 30 Jahre in der Bundesrepublik Deutschland. Die zwölf Themenfelder sind: Soziale Sicherheit, Diversität, Bioethik, Digitalisierung, Umwelt, Bildung, Europa, Ost-/Westdeutschland, Migration, Religion, Äußere und Innere Sicherheit.

Auch wenn es für die letzten 15 bis 20 Jahre gute Gründe gäbe, auch Onlinequellen/Social media wie Twitter, Facebook etc. einzubeziehen, werden in dem Projekt, um über den gesamten Zeitraum eine einheitliche Textgrundlage zu haben, die Print-Leitmedien Der Spiegel, Die Zeit, FAZ, SZ, taz, Bild und NZZ sowie Bundestagsdebatten untersucht. Abgesehen von forschungspraktischen Gründen der Zugänglichkeit spricht für diese als Textkorpus auch, dass in ihnen (als politische und Alltagstexte) gesellschaftliches, kollektives Wissen zur Sprache kommt, um dessen Erkennen und dessen Darstellung inklusive ihres Wandels es in dem Projekt geht.

Um über die Analyse der Themenfelder hinaus übergreifende diskursive Strukturen zu erfassen, wurden zudem Hypothesen zu diskursseman­tischen Grundfiguren entwickelt, über die sich diese Themen zu Themen- und somit Projekt­tandems bündeln lassen und über die sich ihr jeweiliges kontroverses Potenzial pointiert fokus­sieren lässt. Als diskurssemantische Grundfigur wird im Sinne Busses (2000) und Ziems (2008, 395ff.) ein inhaltliches Element betrachtet, das in einer Vielzahl von Texten einen Diskurs struk­turiert, über einzelne thematisch bestimmte Diskurse hinausreicht, häufig selbst zum Thema gemacht wird, das aber ausdrucksseitig nicht immer an einzelnen Wörtern oder „Begriffen“ fest­zumachen ist. Die genannten Themen wurden den folgenden Grundfiguren zugeordnet, von denen im geförderten Projekt vier untersucht werden: Partizipation & Egalität, Mensch & Technologie, Individuum & Gesellschaft, Identität & Kultur, Vielfalt & Einheit, Freiheit & Sicherheit.

Die Forschungsgruppe besteht aus folgenden Mitgliedern:

Prof. Dr. Martin Wengeler, Trier (Sprecher)

Prof. Dr. Noah Bubenhofer, Zürich

Prof. Dr. Nina Janich, Darmstadt

Prof. Dr. Jörg Kilian, Kiel

Dr. Kristin Kuck, Magdeburg

Prof. Dr. Marcus Müller, Darmstadt

Prof. Dr. Juliane Schröter, Genf

Prof. Dr. Constanze Spieß, Marburg