Tagungsberichte
Alexander Ulanov über die Konferenz "Grundlagen: Zur Theorie des lyrischen Subjekts im Kontext der neueren Dichtung"
Bericht zur Konferenz
Grundlagen: Zur Theorie des lyrischen Subjekts im Kontext der neueren Dichtung
(2. November 2015 – Kurfürstliches Palais; 3.-5. November 2015 – Universität Trier)
Anfang November 2015 fand im Rahmen des bilateralen Projekts die erste internationale Konferenz "Grundlagen: Zur Theorie des lyrischen Subjekts im Kontext der neueren Dichtung" statt. Die Konferenz begann am 2. November 2015 mit einer öffentlichen Veranstaltung im Rokokosaal des Kurfürstlichen Palais Trier, die durch den Präsidenten der Universität Trier Prof. Dr. Michael Jäckel eröffnet und mit einem Grußwort von Dr. Thomas Wiemer (Programmdirektor Gruppe Geistes- und Sozialwissenschaften DFG) eingeleitet wurde. Es folgte eine Podiumsdiskussion „Grenzgänge: Wissenschaftskooperation mit Russland heute“, in welcher der Präsident der Europa-Universität Viadrina Prof. Dr. Alexander Wöll mit dem Generaldirektor der Internationalen Gruppe der DFG Dr. Christian Schaich und Prof. Dr. Tatjana Ilarionova aus Moskau die Bedeutung der bilateralen Zusammenarbeit in den Geisteswissenschaften erörterten. Das Programm des Abends kulminierte in einer zweisprachigen Dichterlesung mit Natalija Azarova, Sergej Birjukov, Elena Seifert, Alexander Ulanov und Kirill Korchagin. Umrahmt wurde die Lesung musikalisch von dem Duo Marcotello, das in der für Deutschland eher ungewöhnlichen Besetzung von Bajan und Violoncello neoavangardistische Meisterwerke von Sofija Gubajdulina und Sergej Berinskij eindrücklich zu Gehör brachte. Prof. Dr. Henrieke Stahl moderierte den künstlerischen Teil des Abends und gab kurze Einblicke in die Poetiken der Autoren. Das Konzert und Dichterlesungen wurden am 3. November im Rahmen einer Kooperationsveranstaltung mit dem DFG-Graduiertenkolleg 2021 „Europäische Traumkulturen“ im „Theater im Viertel“ (Saarbrücken) in erweiterter Form wiederholt.
Am 3.-5. November 2015 wurden an der Universität Trier drei Konferenztage durchgeführt, an denen insgesamt über 30 LiteraturwissenschaftlerInnen aus Deutschland, Russland, Japan, den Niederlanden und den USA teilnahmen. Der Schwerpunkt der Tagung lag im Bereich der Theorie des Subjekts, das traditionell als lyrisches Konstitutivum gilt. Nach seiner postmodernen Negation in der Gegenwartsdichtung und der ihr folgenden theoretischen Reflexion hat es wider Erwarten erneut fundamentale Bedeutung gewonnen. Ausgehend von der theoretischen Reflexion wurden Formen und Verfahren der poetischen Darstellung von Subjekt und Subjektivität in der Gegenwartsdichtung aus literaturwissenschaftlicher, linguistischer und philosophischer Sicht untersucht. Zur Profilierung von Spezifika der russischen Gegenwartsdichtung wurden komparatistische sowie transkulturelle Fragestellungen eingebunden. Als primäre Vergleichsliteratur fungierte die deutsche Lyrik, da ihre historischen Rahmenbedingungen Parallelen zeigen. Ein Vergleich aktueller Subjektformen in anderen Genres, der Philosophie sowie auch in anderen Literaturen leistete eine Kontextualisierung. Die Tagung wurde in vier Sektionen unterteilt: „Theorie und Geschichte des lyrischen Subjekts“, „Terminologie des lyrischen Subjekts“, „(Autor-)Poetologien des Subjekts“, „Das lyrische Subjekt und die Sprache(n)“.
Erste Ergebnisse der gemeinsamen Arbeit stellen folgende Überlegungen dar:
- Bestimmungen von Lyrik und lyrischem Subjekt, die für ältere Epochen Gültigkeit zeigen, lassen sich nicht bruchlos auf Texte des 20. und noch weniger des 21. Jahrhunderts übertragen. Ungeachtet der Abweichung vom typischen Merkmalsspektrum für Lyrik beanspruchen viele Gegenwartstexte, lyrische oder poetische Texte darzustellen. Sie bilden gegenüber der Tradition differente Formen und Funktionen im Umgang mit Subjekt und Subjektivität aus. Die Untersuchung der Vielfalt an Modellen zu Subjekt / Subjektivität im poetischen Text und ihres sehr unterschiedlichen Applikations- und Beschreibungspotentials zeigt, dass es nicht sinnvoll ist, nach einem übergreifenden neuen Modell zu suchen, sondern vielmehr nach der Passung von konkreten Modellen zu konkreten Texten zu fragen und ausgehend vom Text ein adäquates Analyseinstrumentarium zu finden, zu modifizieren und ggf. zu generieren.
- Es existiert das weitgehend ungelöste Problem einer unterschiedlichen Terminologie in den verschiedenen Philologien und Ländern auch für die Subjektfrage in der Lyrik. Es ist Ausdruck für die unterschiedliche Fassung der Begriffe in verschiedenen Schulen nationalphilologischen Ursprungs. Es fehlt grundsätzlich an Speziallexika und Glossaren, die literaturwissenschaftliche Termini übersetzen, in ihrer Genese erläutern und dabei auf die Unterschiede zwischen den Traditionen eingehen. Relevant für das Projekt sind vor allem die deutsche, englische und russische Tradition, die für das Subjekt eine ganze Reihe unterschiedlicher Termini bereithalten, die in verschiedenen literatur-theoretischen Richtungen entstanden sind. Die verschiedenen Termini weisen nicht nur eine theoriespezifische Genese auf, sondern eignen sich dazu, jeweils unterschiedliche Konzepte und Formen von Subjekt / Subjektivität zu beschreiben.
- Die Theorie des lyrischen Subjekts zeigt sich eng auch mit dem Umgang mit der Sprache sowie mit Sprachreflexion und -philosophie verknüpft. Das Subjektverständnis in neuerer Lyrik kann sprachliche Normen bis auf die Ebene der Grammatik prägen. Es kommt zu ungewöhnlichen, oft ambivalenten Formen der Deixis und Perspektivierung, der Subjekt-Objekt-Beziehungen etc., oder die Wortbildung und -veränderung bringen in ihren Wechselwirkungen neue Typen lexikalisch-semantischer Transformationen hervor, welche etwa die Umkehrbarkeit von Rollen in der lyrischen Kommunikation oder potentielle Untrennbarkeit des lyrischen Subjekts von dem Objekt seiner poetischen Reflexion bedingen. Besondere Bedeutung für die Subjektkonzeption hat das bi- oder polylinguale Dichten, das metasprachliche Reflexion mit der Suche nach kultureller Identität verbindet.
Der Erfolg der Konferenz bestärkte die Veranstalter und Teilnehmer in ihrem Streben nach der Vertiefung der internationalen und konkret deutsch-russischen Zusammenarbeit im Bereich der Gegenwartsdichtung Russlands und Deutschlands. Die nächste Konferenz „Subjekttypen und Verfahren der Subjektrepräsentation in der Gegenwartsdichtung (1990–2015)“ findet am 11.-13. Juli am Institut für Sprachwissenschaft der Russländischen Akademie der Wissenschaften Moskau statt.
(Ekaterina Evgrashkina)