Typen des Subjekts und ihre Darstellungsformen in der neuesten Lyrik (1990-2015)

11-13. Juli 2016; Institut für Sprachwissenschaft und Institut für russische Sprache RAN, Moskau

Organisation und Information:
Univ.-Prof. Dr. Henrieke Stahl
E-Mail: stahl@uni-trier.de

Hier kann das Programm der Konferenz heruntergeladen worden.

Die literaturgeschichtliche Tradition hat seit der Antike verschiedene Formen des lyrischen Subjekts – vom autobiographisch gefärbten Ich über das imaginierte Ich als Maske und plurale personae bis zu seiner Fragmentierung, Transformation, Auflösung und Ersetzung durch Stimmen usw. – und seines Verhältnisses zu anderen lyrischen Instanzen verschiedener Textebenen (lyrisches Du, ab­strakter Autor, realer Autor) entwickelt. Die Gegenwartslyrik zeigt ein reflektiertes Spiel mit diesen Optionen der Tradition sowie der an ihr entwickelten Theorien und Beschreibungsmodelle, so dass für die Gegenwartslyrik von poetischer Metasubjektivität gesprochen werden kann.
Das Ziel der Tagung besteht in der Entwicklung einer Typologie des Subjekts in der russischen Dichtung der 1990-2000er Jahre in Russland mit vergleichenden Ausblicken auf andere Literaturen. Diese Kategorie wurde ausgewählt, da das Subjekt, das traditionell als lyrisches Konstitutivum galt, nach seiner postmodernen Negation in der Gegenwartsdichtung und der ihr folgenden theoretischen Reflexion wider Erwarten erneut fundamentale Bedeutung gewonnen hat. Das ‚Subjekt‘ wird als weiter Oberbegriff verstanden, der eine Pluralität literarischer sowie linguistischer Theorien und Methoden in Korrelation zur breiten Diversifikation der Phänomene anzuwenden erlaubt. Das ‚Subjekt‘ umfasst den sog. ‚Sprecher‘, aber auch abstraktere Formen des Ausdrucks von ‚Subjektivität‘.
Gegenstand der Forschungsbeiträge sollen konkrete poetische Texte von russischen AutorInnen sein, die nach 1990 verfasst sind. Die Texte sollen nach Repräsentativität (Bekanntheit [Quantitätskriterium], Auszeichnung, Grad der Untersuchung), aber auch nach ästhetischer und ideeller Relevanz ausgewählt werden. Untersucht werden die Formen und Verfahren der poetischen Darstellung von Subjekt und Subjektivität in der Gegenwartsdichtung aus literaturwissenschaftlicher und linguistischer Sicht. Zur Profilierung von Spezifika der russischen Gegenwartsdichtung können komparatistische sowie transkulturelle Fragestellungen einbezogen werden, welche die deutsch- und englischsprachige oder auch andere Literaturen vergleichend berücksichtigen.
Das Projekt basiert auf der Annahme, dass in der Gegenwartsdichtung gemeinsame Grundformen gefunden werden können, welche die individuelle Vielfalt der poetischen Realisierung zu strukturieren und Spezifika deutlicher sichtbar zu machen erlauben. Die Vorstudien zur Tagung ergaben als konkrete Arbeitshypothese, dass das zeitgenössische Spektrum der lyrischen Subjektformen vom Verlust bzw. der Aufgabe des Subjekts in der Dichtung über Formen seiner Auflösung, aber auch Vervielfältigung und Transformation bis hin zu substantiellen Re- und Neukonstitutionen reicht. Dieses Spektrum wird durch drei Grundtypen der Subjektgestaltung konturiert, welche als Ausgangsbasis dienen und die Arbeit der Tagung strukturieren:
a) Prozesse der Auflösung von Subjekt / Subjektivität,
b) die scheinbare oder tatsächliche Absenz von Subjekt / Subjektivität,
c) Formen der (Neu-)Konstituierung von Subjekt und Subjektivität.
Im Rahmen dieser drei Untersuchungsfelder bildet die neuere Dichtung verschiedene Formen von Synthesen der heterogenen und widersprüchlichen Erscheinungsformen des lyrischen Subjekts in der Tradition aus.