»Jüdische Delinquenz« im mittelalterlichen Aschkenas
Normen, Praktiken und Zuschreibungen im interreligiösen Spannungsfeld
DFG-Einzelvorhaben (Dr. Jörg R. Müller), 2021–2024
Im Rahmen des Projekts werden die aktive Involvierung von Juden in kriminelle Handlungen wie auch die Unterstellung derartiger Aktivitäten im mittelalterlichen deutschen Reich erstmals systematisch untersucht. Dabei werden unter dem Begriff „Delinquenz“ sämtliche Verhaltensweisen verstanden, die von den Zeitgenossen als strafrechtlich ahndungswürdige Vergehen betrachtet und als solche entweder gerichtlich verfolgt oder außergerichtlich bzw. schiedsgerichtlich beigelegt wurden. Bei dem Phänomen handelt es sich um ein soziales Konstrukt aus der wechselweisen Interaktion von Alltagswirklichkeit und Rechtssystem. Eine derartige Zuschreibung bedarf nicht zuletzt als Produkt von Aushandlungsprozessen jeweils einer Überprüfung im konkreten Kontext. Die Fokussierung der Untersuchung auf jüdische Delinquenten und somit einer gewissermaßen zweifach als deviant markierten Gruppe verspricht grundlegend neue Erkenntnisse zur gesellschaftlichen Konstruktion von Delinquenz und zur Rolle „jüdischer Kriminalität“ als zentralem Indikator für Wandlungsprozesse sowohl in der christlichen als auch in der jüdischen Gesellschaft. Um die Ergebnisse einordnen zu können, werden Delikte innerhalb der christlichen Gesellschaft sowie Übergriffe nichtjüdischer Akteure auf Juden vergleichend berücksichtigt.
Grundlage für die Untersuchung bildet die gesamte Bandbreite schriftlicher Überlieferung der christlichen Mehrheitsgesellschaft von normativen Quellen über spezifische Formen gerichtlicher Aufzeichnungen und die weitere überwiegend städtische Überlieferung bis hin zu historiographischen Darstellungen. Bereits vorliegende Quelleneditionen und eigene Vorarbeiten ermöglichen für die ohnehin quellenärmere Zeit bis ins späte 14. Jahrhundert eine – soweit die Überlieferung dies zulässt – ausgewogene Bearbeitung in der Fläche. Dem deutlichen Anstieg administrativer und zudem kaum edierter Schriftlichkeit im späten Mittelalter ist dann die weitgehende Fokussierung der Untersuchung auf die drei aussagekräftigen Fallbeispiele Frankfurt a. M., Nürnberg und Regensburg für das 15. und frühe 16. Jahrhundert geschuldet.
Die Quellen werden im Hinblick auf die zugrundeliegenden rechtlichen Normen, deren Wandlungen und konkrete Anwendung ebenso ausgewertet wie in Bezug auf die verschiedenen beteiligten Akteure und Gerichte sowie Art und Häufigkeit diverser Deliktformen (Gewalt-, Eigentums- und Sittenvergehen bis hin zu Ordnungs- und Verbaldelikte etc.). Zentral für die Studie ist die Aufarbeitung der Rolle von Juden verübter oder vermeintlich begangener realer und imaginärer Vergehen als Katalysator für die Marginalisierung der jüdischen Minderheit. In diesem Kontext ist insbesondere die Bedeutung von Armut und Ausgrenzung als kriminogene Faktoren zu berücksichtigen. Abschließend soll eine Einschätzung möglich sein, inwiefern sich „jüdische Delinquenz“ auf die Lebenswirklichkeit jüdischer Gemeinden und die christlich-jüdischen Beziehungen vor Ort auswirkte.
‘Jewish Delinquency’ in Medieval Ashkenaz: Norms, Practices, and Attributions in Inter-Religious Encounter
The project will provide the first systematic investigation both into the active involvement of Jews in criminal behaviour as well as into allegations of such activities in the medieval German Empire. In this context, ‘delinquency’ means any behaviour considered by contemporaries to be worthy of punishment and thus either prosecuted in court or resolved by out-of-court settlement or arbitration. The phenomenon is a social construct resulting from the interaction between daily life and the legal system. As such attribution is always a product of negotiation processes, it is in constant need of review and verification in its respective context. By focusing on Jewish delinquents the project concerns, as it were, a group marked as ‘deviant’ from two sides. This approach promises basic new insights into the social construction of delinquency and regarding ‘Jewish crime’ as a key indicator for processes of change in both the Christian and the Jewish communities. In order to contextualize the findings, delinquent acts within the Christian community and acts committed by non-Jewish individuals against Jews will be compared with those attributed to Jews.
The investigation will be based on sources covering the whole typological range of written documentation from the Christian majority population, from normative texts through various types of court records and other, mainly urban documents down to chroniclers’ accounts. The period until the late-fourteenth century will be covered on the basis of published sources and the material already collected in preparation by the applicant, and analysed with the aim of a balanced view across the whole geographical range. Due to the late-medieval rise in documentation, the same is not possible for the fifteenth and early-sixteenth centuries. For the later period, therefore, the project will focus particularly on the cities of Frankfurt am Main, Nuremberg, and Regensburg to arrive at a robust documentation. The sources will be analysed in view of the legal norms at play, their changes and their application in the specific cases at hand; in view of the agents and the courts involved; in view of the type and frequency of the various offences (from violence, property and moral offences down to verbal injuries and transgression of byelaws etc.).
The central aim of the study is an assessment of the role of ‘Jewish delinquency’ – i.e., of offences real or imagined, committed or allegedly committed by Jews – as a catalyst in the process of marginalization experienced by the Jewish minority over the course of the middle ages. In this context, the role of poverty and exclusion as criminogeneous factors will be adressed. The project will help to assess the impact of ‘Jewish delinquency’ on the daily lives of Jewish communities and on local Christian-Jewish relations.