Liebe Leserinnen und Leser,

wir möchten Sie regelmäßig über die Aktivitäten des China-Instituts der Universität Trier (CIUT) informieren sowie China und Ostasien bezogener Aktivitäten seiner angehörigen Fächer vorstellen– siehe „Rückblick“ und „Ausblick“.

Die Rubrik „Einblicke“ bietet Ihnen inhaltliche Perspektiven aus unserer Arbeit und wird von Studierenden mitgestaltet. Dieses Mal:

  • Einblick in das vormoderne China 
  • Einblicke in chinesischsprachige Nachrichten über Chinas südöstliche Provinz Fujian (seit 1989 Partnerprovinz Rheinland-Pfalz‘) und Fujians‘ zweitgrößter Stadt Xiamen (seit 2010 verpartnert mit der Stadt Trier)
  • Einblicke in Debatten im chinesischsprachigen Internet von der der Frage-und-Antwort-Plattform Zhihu.

Schließlich haben wir unter "Weit(er)Blick" drei Medienempfehlungen für Sie zusammengestellt.

Wir hoffen der Newsletter ist hilfreich und inspirierend für Sie.

Was wünschen Sie sich, was können wir besser machen?

Über Feedback freuen wir uns!

Ihnen alles Gute und herzliche Grüße,

Prof. Dr. Kristin Shi-Kupfer

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Newsletter Dezember 2023

Der Automat des Daoisten

Von Tim Dressler (M.A.), wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fach Sinologie

Während die jüngsten Entwicklungen der chinesischen Forschung im Bereich der künstlichen Intelligenz (KI, auf Chinesisch wörtlich „Menschen gemachte Intelligenz“ 人工智能) regelmäßig für Schlagzeilen sorgen, lohnt sich auch der Blick auf ältere Geschichten zur künstlichen Intelligenz aus dem Reich der Mitte.

Zwar ist die bunte Textsammlung, die unter dem Namen Liezi (列子) bekannt ist, notorisch schwer zu datieren, aber sehr viel später als ca. 400 n.Chr. werden die wenigsten Abschnitte geschrieben worden sein. Der legendäre Daoist Liezi, dem man nachsagt, er habe auf Wolken geritten, liebte das Kuriose. Vielleicht findet sich auch deshalb bei ihm die Geschichte eines Roboters.

Von einem Mechaniker dem König präsentiert, konnte diese Maschine singen, tanzen und weitere Kunststücke vorführen. Aber als der Roboter den Kurtisanen zuzwinkerte, war der Spaß vorbei. Der König wurde zornig und forderte die schnelle Hinrichtung des Mechanikers. Dieser verteidigte sich jedoch, indem er den Roboter in seine Einzelteile zerlegte und dem König dessen Funktionsweise genau erklärte. Bis heute streiten wir uns über die Vor- und Nachteile einer Offenlegungspflicht für Quellcodes, aber in diesem Fall konnten Transparenz und Open Source den Herrscher tatsächlich umstimmen. Anstatt den Mechaniker nun exekutieren zu wollen, rief er entzückt:

„‘Wie? Kann denn die Kunst der Menschen die Werke des Schöpfers erreichen?‘ Er berief den […] Wagen, lud ihn (den Automaten) auf und nahm ihn mit sich heim.“ (Wilhelm, S. 151)

Aus der Perspektive des Erbauers handelt es sich zwar nicht um ein „happy end“, wurde doch sein Kunstwerk ausgeweidet und seine Einnahmequelle konfisziert. Doch wie bei allen guten Märchen reitet der König am Ende womöglich mit dem Roboter in den Sonnenuntergang. Denn was hinter dem Horizont geschah, ob sich der König weiter mit dem Roboter amüsierte oder ob er ihm sogar als Inspirationsquelle diente, erfahren wir natürlich nicht. Vielleicht saßen Roboter und Herrscher auch bis in die späten Abendstunden in politischen Gesprächen vertieft am Lagerfeuer. Selbst eine aktive Beteiligung des Roboters an den Regierungsgeschäften wäre denkbar. Vielleicht wäre es den Untertanen sogar zu wünschen gewesen, denn an einer anderen Stelle erfahren wir von Liezi, dass der ideale Mensch einer Maschine gleiche.

『至人居若死,動若械。』(Liezi, 6.9)

“Der höchste Mensch ruht, als wäre er tot und bewegt sich wie eine Maschine.” (nach Graham, S. 130)

Das Zitat erscheint in einem Dialog über die Bedeutung des Schicksals, in dem der Weise empfiehlt, sich ganz unbefangen auf die Wechselfälle des Lebens einzulassen. Erst dadurch sei eine unparteiische und wertfreie Betrachtung der Welt möglich. Das Schriftzeichen xiè 械 hat, wie im klassischen Chinesisch nicht unüblich, zahlreiche Bedeutungen. Angus Graham hat das Zeichen mit „Maschine“ übersetzt, Richard Wilhelm dagegen wählt die „Fessel“,um seine Bedeutung wiederzugeben. Bei ihm heißt es:

„Der höchste Mensch weilt wie ein Leichnam und bewegt sich wie in Fesseln.“ (Wilhelm, S. 176)

Hier bekommen wir einen anderen Eindruck, weil wir die „Fessel“ mit Freiheitsentzug und Gefängnis assoziieren. Auch wenn es widersprüchlich klingt, betitelt Wilhelm diese Passage aber mit „Unabhängigkeit“. Der Folgesatz beschreibt nämlich, wie die Meinung der Menge den höchsten Menschen kalt lässt, der sich nur nach dem rechten Weg richtet und quasi durch das Dao, das kosmische Urprinzip, „gefesselt“ ist.

Wie xiè 械 nun genau zu übersetzen ist, bleibt schwierig. Sinngemäß handelt der höchste Mensch aber ohne Eigenwillen, ohne private, individuelle Vorlieben und Abneigungen, also/eher reaktiv, mechanisch, wie eine Naturgewalt, aber gemäß dem Dao. Eine gewisse Unvoreingenommenheit und Wertneutralität ist gerade in einer pluralistischen Welt ein wertvoller Orientierungspunkt für eine KI. Aber das Grundproblem bleibt weiterhin bestehen: wie programmiert man den Computer so, dass er sich gemäß des Dao so bewegt, als wäre er xiè 械. Also „gefesselt“, um mit Wilhelm zu sprechen, oder gut „reguliert“ nach heutigem Verständnis.

Man berücksichtige all die Forschungsgelder, die in die Entwicklung der KI investiert werden. Man denke an all die angestrengt arbeitenden Programmierer und an die Investoren, die mit Herzrasen ihr Geld vermehren wollen. Angesichts all der politischen Verwerfungen rund um die KI-Forschung und Entwicklung wäre das Urteil des daoistischen Heiligen Liezi wohl eindeutig. Man sollte es einfach sein lassen.

„Ein Mann aus Sung machte für seinen Fürsten ein Maulbeerblatt aus Nephrit. Drei Jahre brauchte er, bis es fertig war. […] Der Meister Liä Dsi hörte davon und sprach: „Wenn die Natur bei der Erzeugung der Geschöpfe alle drei Jahre nur ein Blatt fertigbringen würde, so gäbe es wohl wenig Dinge mit Blättern. Darum vertraut der Berufene auf die Gestaltungskraft des Sinns und nicht auf die Weisheit und Geschicklichkeit.“ (Wilhelm, S.215f.)

 

Verwendete Literatur:

Graham, Angus C.: The book of Lieh-tzŭ : A classic of the Tao. – Columbia University Press Morningside ed. – New York, NY : Columbia Univ. Pr, 1990. – 192 S. – (Translations from the Oriental classics). – ISBN 0231072368 .

Graham, Angus C.: The Date and Composition of the Liehtzyy. – In: Asia Major. New Series. – 1961/62 8, S. 139–198.

Wilhelm, Richard: Liä Dsi : Das wahre Buch vom quellenden Urgrund "Tschung hü dschen ging". Die Lehren der Philosophen Liä Yü Kou und Yang Dschu. – Jena : E. Diederichs, 1911. – XXIX, 175 S S. – (Die Religion und Philosophie Chinas ; Bd. 8, Halbbd. 1).

Neue Form der Einflussnahme auf Taiwan – die Fujian-Vorzeigezone

Von Joana Hilgert, M.A.-Studentin Sinologie 

Im September dieses Jahres hatte das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Chinas (KPC) gemeinsam mit dem Staatsrat angekündigt, von den Städten Xiamen und Fuzhou in der Provinz Fujian Verbindungen zu den unter taiwanesischer Kontrolle stehenden Inseln Mazu (妈祖) und Kinmen (金门) zu fördern. Dieses Projekt nennt sich „Fujian-Vorzeigezone“ (福建示范区) und ist eine weitere Maßnahme im Rahmen der sogenannten „Einheitsfrontarbeit (统战工作) des chinesischen Parteistaats.

Das Projekt beinhaltet 21 Maßnahmen, die folgende Schwerpunkte setzen: Förderung der Ansiedelung von Taiwanes:innen in Fujian, Förderung der Wirtschafts- und Handelsintegration zwischen Taiwan und Fujian, Infrastrukturprojekte sowie Kulturaustausch. So ist etwa eine Brückenverbindung zu Kinmen geplant, eine probeweise Ausweitung der Fujian-Freihandelszone auf Taiwan und die Ausweitung der Anerkennung taiwanesischer Berufsqualifikationen in Fujian.

Die Identifikation als „taiwanesisch“ der Bewohner:innen auf Kinmen und Mazu ist im Vergleich zu auf der Hauptinsel lebenden Menschen aufgrund der Nähe zum Festland geringer. Die Menschen fühlen sich mit Fujian verbunden – nicht zuletzt durch den gemeinsamen Kult um die Meeresgöttin Mazu, nach der auch eine der Inseln benannt ist. Dieses gemeinsame Brauchtum soll auch im Rahmen der 21 Maßnahmen gefördert werden. Geschäftsleute versprechen sich große Chancen durch einen verbesserten Zugang zum festlandchinesischen Markt. Somit kommen die Maßnahmen auf den Inseln gut an.

Auf der Hauptinsel Taiwans steht man den Plänen, besonders im Kontext der anstehenden Präsidentschaftswahlen am 13. Januar, skeptisch gegenüber. Von chinesischer Seite wird auch kein Hehl daraus gemacht, dass die Maßnahmen der Wiedervereinigung dienen sollen. In dem Dokument heißt es, die Lösung der Taiwan-Frage und die vollständige Wiedervereinigung des Mutterlandes seien die historische Aufgabe der KPC. Fujian habe außerdem einen besonderen Status und eine besondere Funktion in der Arbeit in Bezug auf Taiwan.

Das Originaldokument des Zentralkommittees und des Staatsrates zum Weiterlesen.

E-Commerce Boom begünstigt die „Maritime Seidenstraße“

Von Joana Hilgert, M.A.-Studentin Sinologie 

Im Jahr 2022 wurde die Expresslinie für E-Commerce der „Seidenstraßen Schifffahrt“ (丝路海运) zwischen Manila und Xiamen eröffnet. Diese verzeichnete bereits im ersten Jahr große Erfolge und brachte einen Gewinn von über 10 Milliarden Yuan ein (etwa 1,3 Milliarden Euro).

Abgesehen davon entwickelt sich die „Seidenstraßen Schifffahrt“ schnell: Es gibt inzwischen von Fujian aus Verbindungen zu 317 Unternehmen in 43 Ländern, mit weit entfernten Zielen wie Tanger in Marokko, Vostochnyy in Russland oder auch Hamburg.

Fujian hat dabei eine historische Bedeutung: Als Ausgangspunkt der historischen maritimen Seidenstraße gilt es auch heute wieder als Kerngebiet für den Ausbau der maritimen Seidenstraße des 21. Jahrhunderts und kann wirtschaftlich davon profitieren. So sind beispielsweise Fuzhou und Xiamen auch über Flughäfen und Güterzugstrecken als wichtige Knotenpunkte in das Seidenstraßensystem eingebunden.

Weitere Projekte wie die „Zwei Länder, zwei Parks“ (两国双园)-Initiative, bei der es um eine gemeinsame Lebensmittelproduktionslinie zwischen China und Indonesien geht, sind in Arbeit.

Zum Weiterlesen ein Artikel von China News zum Thema

 

Maßnahmen zur Stärkung der Privatwirtschaft in Fujian

Von Joana Hilgert, M.A.-Studentin Sinologie

Die Provinz Fujian hat eine Strategie zur „Stärkung der Provinz durch Privatwirtschaft im neuen Zeitalter und zur Förderung einer qualitativ hochwertigen Entwicklung“ (实施新时代民营经济强省战略推进高质量发展) angekündigt. Diesbezüglich hielten die zuständigen Verantwortlichen am 15. November eine dritte Pressekonferenz ab, in der die zentralen Aspekte der Strategie erläutert wurden.

Der erste Aspekt ist das Erlassen von Gesetzen, welche die Privatwirtschaft und deren Entwicklung fördern und eine klare Rechtsgrundlage für die ökonomische Aktivität gewährleisten. 92 solcher Gesetzesentwürfe sind aktuell in Arbeit.

Weiter soll gegen Sicherheitsrisiken (安全风险) und vor allem gegen Wirtschaftskriminalität (经济犯罪) vorgegangen werden. Als wichtiges Projekt wird hier der Ausbau der „Erfahrungen aus dem Kreis Fengjiao [in der Provinz Zhejiang]“ (枫桥经验) beschrieben.

Von Joana Hilgert, M.A.-Studentin Sinologie 

Dies bezieht sich auf eine Konfliktlösungsstrategie, die in den 1960er Jahren in Fengjiao entwickelt wurde und Konflikte vor Ort lösen sollte, anstatt sie aus der Hand der lokalen Behörden zu geben. So soll die Führung der Partei in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft gestärkt werden. Kombiniert mit digitalen Technologien soll diese „Erfahrung“ bei der Überwachung und Mediation zwischen Marktteilnehmer:innen helfen.

Auch die Strafverfolgung und Justiz soll zu Gunsten der wirtschaftlichen Entwicklung ausgebaut und somit illegale Geschäfte unterbunden werden.

Wie in ganz China, ist auch die Provinzregierung offensichtlich an vertrauensbildenden Maßnahmen für verunsicherte Privatunternehmen gelegen. Der Hinweis auf die „Fengqiao-Erfahrung“ und der Ausbau der Justiz deutet an, dass die Behörden mit Konflikten und Problemen rechnen. 

Eine Mitschrift der Pressekonferenz herausgegeben vom Nachrichtenbüro der Provinzregierung in Fujian zum Weiterlesen.

 

Die Qual der Wahl: Lieber Büro-Job oder Selbstständigkeit? - Zhihu Nutzer:innen diskutieren über aktuelle Arbeitssituation in China

Von Hannah Reinert, M.A.-Studentin des Studiengangs "China – Tradition und Zukunft"

Auf der chinesischen Frage-und-Antwortplattform Zhihu (知乎Zhīhū, wörtlich "Weißt du...?") diskutieren rund 110 Millionen monatliche aktive Nutzer (MAU, monthly active users) über Themen, die Chinas urbane Jugend bewegt. Zhihu-Nutzer sind überwiegend unter 30, leben in größeren Städten und haben einen akademischen Abschluss. Antworten können weniger Zeilen bis zu mehreren Seiten lang sein. Entscheidend: die von Nutzern bewertete Qualität.

(Die Auswahl des hier vorgestellten Themas erfolgt auf Basis eines monatlichen Rankings der Fragen nach Anzahl der Stunden in der Heiße-Themen-Liste. Fragen und Antworten werden als Teil eines CIUT-Forschungsprojekts regelmäßig erhoben und analysiert)

Der momentane Arbeitsmarkt in der Volksrepublik China gerät immer mehr an seine Grenzen. Jedes Jahr kommen rund 11,6 Millionen neue Absolventen und Absolventinnen hinzu, oft jedoch ohne passende Arbeitsstelle für ihre Qualifikationen.

Im Juni 2023 meldeten Chinas Behörden eine Jugendarbeitslosigkeit von 21,3 Prozent – seitdem hat Beijing keine aktuellen Daten mehr veröffentlicht. Aber vielleicht müssen die Arbeitnehmer einfach umdenken? Unter der Fragestellung „Entweder einen Bürojob, bei dem du im Monat 10.000 Yuan [ca. 1.295 Euro] verdienst oder eine Stelle als Verkäufer von frittiertem Hühnchen, bei der du 30.000 Yuan [ca. 3.889 Euro] im Monat verdienst, welche wählst du? (月薪一万在办公室上班和卖炸鸡一个月赚三万,你会选哪个?)“ debattieren Nutzer:innen genau diese Frage. Die Frage scheint vor einiger Zeit auf Zhihu gepostet worden zu sein, landete aber im Oktober dieses Jahres erneut in den „Hot Questions“.

Hintergrund der Frage: Momentan leiden besonders Berufseinsteiger unter den niedrigen Löhnen mit gleichzeitig immer weiter steigenden Lebenshaltungskosten. Besonders in den großen Städten, wo gleichzeitig die besten Jobs für qualifizierte Arbeitskräfte zu finden sind, steigen die Mieten weiter rapide. Da klingt eine Verknüpfung von 30.000 Yuan für das „bloße“ Verkaufen von frittiertem Hühnchen für viele zu schön um wahr zu sein.

Die meisten Kommentare drehen sich nämlich um all die versteckten Kosten eines Restaurantbesitzers. Hierbei greifen Chinas Netizens oft auf eigene Erfahrungen zurück: Entweder sind die eigenen Eltern Restaurantbesitzer, in der eigenen Nachbarschaft gibt es kleine Restaurants oder man besitzt selbst ein eigenes. So schreibt ein Nutzer, er selbst verkaufe zwar kein Hühnchen, sondern Gemüse, könne aber von seinen eigenen Erfahrungen berichten (本人卖卤菜,路边摊,小区门口卖。虽然不是炸鸡,但可以把自已经历说出来供大家参考). Er selbst gibt an, den Bürojob zu wählen, unter anderem spricht er darüber, dass von dem Gehalt die Miete für das Restaurant abgezogen werden müsse und die körperlichen Anstrengungen, die mit seinem Job verbunden sind.

Andere Nutzer:innen geben zu bedenken, dass auch diese Art von Arbeit mit sehr viel Zeitaufwand verbunden ist. Ein Nutzer, dessen Eltern selbst Restaurantbesitzer sind, schreibt: Von klein auf hätte er mitbekommen, dass seine Eltern immer sehr beschäftigt gewesen sind (我从懂事的时候就知道一个事实:我爸妈是真的很忙). Während seine Klassenkameraden am Wochenende oder zu Feiertagen mit der Familie in den Urlaub gefahren wären, hätten seine Eltern nie Zeit gehabt.

Gleichzeitig gibt es auch Kommentare, die sich für die Selbstständigkeit und ein Verkäufer-Dasein aussprechen. Diese beziehen sich vor allem auf den Aspekt des Gehaltes. Jedoch sind diese Antworten zum Teil vermutlich nicht ganz ernstgemeint. So schreibt ein User, er würde wählen, zu Hause zu liegen (择躺) und andere dafür bezahlen, das frittierte Hühnchen zu verkaufen. Dadurch würde er immer noch Profit machen, wenn das Gehalt des Angestellten 10.000 Yuan betrage und könne somit 20.000 Yuan durch zu Hause rumliegen erwirtschaften (我选择躺在家里,一个月赚2万。把买炸鸡的工作安排一个员工,每个月发他1万,然后,自己在家躺赚2万).

Die Mehrheit der Kommentare zeigt vor allem die herausfordernden Seiten der Selbstständigkeit auf. Dabei geht es nicht darum, dass das Eröffnen eines Restaurants möglicherweise unter der Würde der Nutzer:innen ist. Netizens auf Zhihu machen sich vielmehr Sorgen um die alleinige Verantwortung und dem anfallenden Arbeitsaufwand. Der Bürojob bietet trotz seiner vielen negativen Aspekte für viele offensichtlich immer noch eine Sicherheit. Wie ein Nutzer es zusammenfasst: „Als Kleinunternehmer besitzt du unendliche Verantwortung und Du investierst alles rein. Als Angestellter ist deine Verantwortung begrenzt und du kannst das Schiff verlassen, sollte es sinken (小老板是无限责任,全部身家都要投进去。打工人是有限责任,船要沉你可以跳).“

Auch in Deutschland wird momentan viel über eine Reform der Arbeitskultur diskutiert. Zum Beispiel darüber, ob die 4-Tages-Woche zum produktiveren Arbeiten beitragen würde. Laut einer Statistik aus dem Jahr 2021 wollen immer weniger Menschen in der Selbstständigkeit arbeiten. Unter anderem ergab eine Umfrage der staatlichen Förderbank KfW 2019, dass nur noch jeder vierte Deutsche selbstständig arbeiten will. Auch die Erhebungen des Statistischen Bundesamtes sehen in den letzten Jahren einen Rückgang in den Zahlen der Selbstständigen.

Der Israel-Hamas Konflikt aus chinesischer Perspektive - Reaktionen auf Erdogans Statement vom 25. Oktober

Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober wird die Lage im Mittleren Osten zunehmend angespannter. Am 25. Oktober erklärte der türkische Präsident Tayyip Erdogan, Hamas sei keine Terrororganisation, sondern eine Bereifungsorganisation (哈马斯不是恐怖组织,它是一个解放组织) und sagte seine geplante Reise nach Israel ab.

Auf Zhihu stellte darauf die parteistaatliche Nachrichtenplattform Observer.net (观察者) vom 26. Oktober 2023 die Frage „Erdogan tätigt öffentlich ‚härteste Aussagen‘ und sagte ‚Hamas ist keine Terrororganisation, sie ist eine Befreiungsorganisation‘. Welche Signale sendet dies? (埃尔多安发表「最强硬」言论称「哈马斯不是恐怖组织」是「解放组织」,释放了哪些信号).“

Die Antworten die Netizens signalisieren viel Zuspruch für Erdogans Aussage. In Anlehnung an die Position der chinesischen Regierung beziehen Chinas Netizens im Konflikt häufig Position gegen Israel. Die Bandbreite der Unterstützung für Palästina reicht im Allgemeinen von einer Unterstützung der palästinensischen Zivilbevölkerung bis hin zu Rechtfertigungen des Angriffes. Ähnlich verhält es sich auch in den Kommentaren unter diesem Post.

Die Aussage, Hamas sei keine Terrororganisation, stößt bei den meisten Netizens auf Zuspruch oder zumindest Akzeptanz. Auch die chinesische Regierung klassifiziert die Hamas nicht als eine Terrororganisation und hält an dieser Darstellung weiter fest, wie ein Kommentar zu Bedenken gibt („事实上我国以前也明确表态过哈马斯不是恐怖组织,这回应现在还挂在外交部官方网站上“). Ein anderer Kommentar geht sogar noch einen Schritt weiter und kritisiert die chinesische Regierung für ihre zurückhaltende Reaktion auf den Konflikt. Er empfände sein Land als ein wenig furchtsam (略怂). Erdogan hingegen sage und tue das, was sein eigenes Land dächte, aber sich nicht traue zu sagen (他确实敢说我国不敢说的话,敢做我国不敢做的事). Des Weiteren versucht der Kommentar, die aktuelle Situation in Gaza auf China zu übertragen. Hierbei konstruiert er eine Welt, in der Japan den 2. Weltkrieg gewonnen und die gesamte chinesische Bevölkerung in die Provinz Zhejiang und einige Städte umgesiedelt hätte. Es gäbe weder Krankenhäuser noch eine Universität und regelmäßig würde die Region bombardiert werden. Das Fazit des Kommentars: „Unter diesen Umständen wäre die Hamas doch noch zu konservativ (在这种情况下,我觉得哈马斯还是太保守了).“

Nicht alle Kommentare sehen in Erdogan den Helden der Stunde, der mutig genug ist, die Wahrheit auszusprechen. Ein Kommentator merkt zum Beispiel an, dass die Position der AKP und die generelle Stimmung in der türkischen Bevölkerung Erdogan keine andere Wahl lassen würden, als sich in dieser Art zu äußern (不奇怪,因为埃尔多安必须这么表态。无论是AKP的立场还是土耳其国内舆论,都敦促他这么做). Weiter geht der Kommentar auf die politischen Ziele der AKP ein sowie Erdogans Fixierung auf das Osmanische Reich und seine ehemaligen Territorien. Jerusalem sei Saladins [Salah ad-Din Yusuf ibn Ayyub ad-Dawini, geb. 1137/118 – 1193] Traum, Kanunis [wahrscheinlich ist Suleiman I. gemeint, auch bekannt als Kanuni Sultan Süleyman, Kanuni bedeutet auch „der Gesetzgeber“, geb. 1495/1496 – 1566] Nachlass und Abdulhamid Khans [Abd ul-Hamid-i sani, auch bekannt als Abdul Hamid II, geb. 1842 – 1918] Grund, somit könne Ankara aufgrund der historisch-kontinuierlichen „interventionistischen Stimmung in der Bevölkerung“ nicht anders als angriffslustig zu klingen (对土耳其人的正确历史记忆而言,耶路撒冷是「萨拉丁的梦想,卡努尼的遗产,阿卜杜勒哈米德汗的事业」,这促发了民间干预主义的心态诞生。在这种叙事影响下,安卡拉的发言只可能鹰派).

Ein anderer Kommentator gibt die besondere Position der Türkei zu bedenken. So ist sie nicht nur Mitglied der NATO, sondern auch Beitrittskandidat der Europäischen Union. Diese Position führe dazu, dass Israel Angst vor der Türkei hätte. Sollte diese sich auf die Seite der Hamas stellen, würde dies bedeuten, NATO unterstütze Hamas. Somit sei ein Konflikt zwischen der Türkei und Israel ein Albtraumszenario für die USA, sie würde dadurch sich „drei Köpfe wachsen lassen müssen (土耳其和以色列作对,美国人脑袋得有三个大).“

Anders als in Deutschland gibt es wenig Verurteilung für die Taten der Hamas. Israel wird die Rolle des Aggressors zugesprochen und Hamas als Verteidiger eines unterdrückten Landes dargestellt. Hierbei unterscheidet sich die Diskussion im chinesischen Netz stark von der in Deutschland. Die Tatsache, dass die chinesische Regierung die Hamas nicht als Terrororganisation einstuft, ist hierbei ein wichtiger Faktor. Zusätzlich werden Israel zahlreiche Gräueltaten an der palästinensischen Bevölkerung zugeschrieben, welche die meisten Kommentare davon abzuhalten scheinen, auf die Opfer des Terroranschlages am 7. Oktober einzugehen. Ein Kommentar schlägt den Bogen sogar weiter: Palästina stehe für ihn stellvertretend für all die Länder, die selbst keine Nuklearwaffen [also vermutlich nicht eine große Abschreckungs- bzw. Verteidigungskapazität] zur Verteidigung besitzen. Wie könne die Hamas da nicht aus Sicht dieser Länder die Zukunft und eine Befreiungsorganisation sein (照这么下去,这些没有核武的国家都会是巴勒斯坦!那哈马斯可不就是这些国家人民的未来吗?可不就是解放组织)?

Newslettter Juni 2023

Über Anfänge und das Neue

Von Tim Dressler, Doktorand an der Sinologie Trier 

Beim Aufschlagen der Tageszeitung gewinnt man schnell den Eindruck, dass der Ursprung des Neuen in den Händen visionärer „change-maker“ liegen müsse. Durch Innovationsinkubatoren fördern sie dynamische Start-ups und hoffen auf die drastische Transformation ganzer Branchen. 

Für das radikal Neue, verstanden als das noch nie vorher Dagewesene, steht im Denken des vormodernen China aber nur ein eingeschränkter Raum zur Verfügung

Folgt man der Grundannahme aus dem „Buch der Wandlungen“ (易經 Yìjīng), welches traditionell auf das dritte Jahrtausend v. Chr. zurückgeführt wird, dann versteht man die Welt als ein sich stetigen, wandelnder Prozess. In diesem Sinne ist jeder Moment schon deshalb neu, weil er sich vom vorherigen unterscheidet. Aber der Wandel folgt den Gesetzmäßigkeiten, die mit den 64 Hexagrammen beschrieben werden. Welche Wandlungsform die Welt auch immer annehmen sollte, sie bleibt im Rahmen der Beschreibungskraft des Yijing.

Nun versichert uns das Werk „Große Lernen“ (大學 Dàxué; auch das Wort für „Universität“ im modernen Hochchinesisch), verfasst von Konfuzius und seinem Schüler Zeng Zi, dass alle Angelegenheiten einen Anfang und ein Ende haben. „Die Dinge haben einen Anfang und ein Ende. Wenn man weiß was zuerst kommt und was danach, dann ist man dem Dao nahe.“ (事有終始,知所先後,則近道矣。大學-1, shì yǒu zhōng shǐ,zhī suǒ xiān hòu, zé jìn dào yǐ 。 dà xué -1). Aber wann endet das Alte und wann beginnt das Neue?

In der griechischen Mythologie erzählt man sich die Geschichte von Theseus Schiff, welches über die Jahre hinweg so häufig repariert wurde, dass am Ende keines der ursprünglichen Teile mehr vorhanden war. Ist es überhaupt noch das alte Schiff oder nicht längst ein neues?

Auch Historiker können ein Lied davon singen, wie schwierig es ist, den Anfang des Neuen zu datieren. So ist man davon abgerückt, Epochen mit einem konkreten Ereignis und damit einem festen Datum beginnen zu lassen. Stattdessen führte der Philosoph Hans Blumenberg den Begriff der Epochenschwelle ein, um einen stetigen Übergang mit mehreren Schlüsselereignissen zu beschreiben. Häufig entwickelt sich das Neue auch so langsam aus dem Bestehenden, dass erst aus der Retrospektive als Innovation erkennbar ist.

Eine scharfe Abgrenzung von Neuem und Altem scheint in der Ideengeschichte also viele Probleme mit sich zu bringen. Trotzdem regt uns das Daxue dazu an, uns um die tägliche Selbsterneuerung zu bemühen. Auf der Waschschüssel von Tang Shang, dem von den Konfuzianern hoch geschätzten Begründer der legendären Shang-Dynastie (16.-11. Jahrhundert) soll folgende Gravur gestanden haben: „Wenn man sich auch nur an einem Tag erneuern kann, dann kann man sich Tag für Tag erneuern und so an jedem weiteren Tag.“ (茍日新,日日新,又日新。大學-6, gǒu rì xīn, rì rì xīn, yòu rì xīn 。 dà xué -6)

Hierin ist aber sicherlich keine Aufforderung zu lesen, der König möge sein First-Mover Advantage ausnutzen, um als disruptiver Game-Changer den Status Quo herauszufordern. Die Erneuerung, von der hier die Rede ist, ähnelt eher der Wiederherstellung eines alten, aber idealen Zustands als einer inspirierenden Neuerfindung. Sie gleichen wahrscheinlich eher dem griechischen Schiff als den Zukunftsvisionen aus dem Silicon Valley. Neben all den Schwierigkeiten das wirklich Neue zu erkennen und es vom bloßen Wandel zu unterscheiden, steht diese Form der täglichen Erneuerung uns allen offen.

Projekt für Photovoltaikanlage aus Xiamen als innovatives Pilotprojekt ausgewählt

Von Anna-Lisa Weber, B.A.-Studentin Sinologie und BWL 

Das Ministerium für Industrie und Informationstechnologie hat am 1. März 2023 zum dritten Mal eine Liste mit nationalen Pilotprojekten im Bereich Photovoltaiktechnologie erstellt, um innovative Ideen zu demonstrieren. Eines mit dem Titel „Xiamen Port Logistics Park 3.98MW Distributed Intelligent Photovoltaic Project“, geleitet von dem Unternehmen Xiamen Logistikpark (厦门港务物流园区), ist in der Stadt Xiamen angesiedelt.

Der durch Solarzellen auf den Dächern von Bürogebäuden oder Lagerhäusern generierte Strom soll direkt in den eigenen Betrieb transferiert oder weitergeleitet werden. Besonders ist hierbei das Ausmaß der geplanten Photovoltaikanlage: Sie wäre die größte im Hafen Xiamens und gleichzeitig allen anderen der Provinz Fujian in der Verteilung von Energie flächenmäßig überlegen. Geplant ist ein durchschnittlicher jährlicher Output von 4,84 Millionen kW/h (= 1524 Tonnen Standardkohle), was somit einer Einsparung von 4827 Tonnen CO2 entsprechen würde. Zum Vergleich: Im Jahr 2018 betrugen die CO2-Emissionen der Stadt Xiamen schätzungsweise 22,50 Millionen metrische Tonnen. China deckt rund 60 Prozent seines Energiebedarfs durch Kohle, baut den Bereich erneuerbarer Energien schnell aus, ist allerdings im Bereich Solar 2022 hinter den eigenen Zielen zurückgeblieben.

Im Vergleich dazu steht der Bau eines Solarparks in Rheinland-Pfalz, welcher nach Fertigstellung Ende 2023 bis zu 214.000 kW jährlich produzieren soll. Die dafür angefertigten Solarmodule stammen dabei aus China. Deutschland importiert rund 87 Prozent der Solaranlagen aus der Volksrepublik.

Zum Weiterlesen:

Projekt der Stadt Xiamen wurde als Pilotprojekt ausgewählt (CN)

C02-Emissionen chinesischer Städte im Jahr 2018 (EN)

Größter Solarpark in Rheinland-Pfalz (DE)

Xiamens Ansatz zum Schutz der Gulangyu-Insel

Von Anna-Lisa Weber, B.A.-Studentin Sinologie und BWL

Seit dem 8. Juli 2017 ist die Insel Gulangyu (鼓浪屿 Gǔlàng Yǔ; wörtlich „Trommelwellen-Insel“), welche sich vor der Küste der Partnerstadt Trier, Xiamen, erstreckt, offiziell die Nr. 1541 der Weltkulturerborte in der UNESCO-Liste. In China gilt die Insel als Modell für nachhaltige Bewahrung von Traditionen – ein Thema, was in der Volksrepublik im Zuge einer lange Zeit vorherrschenden „Höher, Schneller, Weiter“-Wachstumsdynamik kaum eine Rolle spielte.

Gulanyu ist eine Auto freie Insel und u.a. bekannt als touristisches Ziel für seine engen, malerischen Gassen, seine gemischte Architektur und Chinas einziges „Klavier-Museum“.

Drei Aspekte heben Zeitungsberichte als besonders modellhaft hervor: Zum einen hat die Stadt Xiamen in den letzten Jahren 151 Kulturerbstätten und mehr als 400 historische Gebäude auf Gulangyu gesetzlich geschützt. Das Bagua, ein altes Gebäude, welches heute als Museum dient, wurde restauriert. Zum zweiten strebt die chinesische Behörde ein Gleichgewicht zwischen Erhaltung der Tradition und Neuem an. Nicht genutzte Gebäude sollen wieder mit neuer Funktion zum Leben erweckt werden, u.a. als Museen. Schließlich soll insbesondere die Musik der Insel als Markenzeichen dienen und dementsprechend gefördert werden. Die rund 20.000 Einwohner von Gulangyu sowie speziell Musikschulen und Kulturvereine sollen dabei die Musik der Insel, welche hauptsächlich aus klassischer Musik besteht, erhalten und weitertragen.

Die Insel Gulangyu, welche offiziell zur Stadt Xiamen gehört, ist ein äußerst attraktives Urlaubsziel vor allem für chinesische Touristen. Die Insel ist von Xiamen aus mit dem Schiff in 20 Minuten zu erreichen. Bei einem Besuch der Partnerstadt von Trier ist eine Reise nach Gulangyu sehr empfehlenswert, insbesondere, da die Insel im Ausland meist nicht zu den Hauptsehenswürdigkeiten Chinas zählt.

Zum Weiterlesen: 

Offizielle Website der Insel Gulangyu (CN/EN)

Plan zum Schutz der Insel (CN)

Diskussion über die Wiedervereinigung mit Taiwan auf der Nachrichtenplattform "Jinri Toutiao"

Von Joana Hilgert, M.A.-Studentin Sinologie 

„Könnten wir den Preis einer gewaltsamen Wiedervereinigung Taiwans tragen? (我们能否承受得起武统台湾的代价?)“ fragt Nutzer „Eine Botschaft mit klarer Stimme aussenden" (寄事言清声) am 13. April auf der Nachrichtenaggregatiosnplattform Jinri Toutiao (今日头条Jīnrì Tóutiáo, „heutige Schlagzeilen“). Jinri Toutiao ist 2012 von der Firma Bytedance (字节跳动Zìjié tiáodòng) gegründet worden und ist mit rund 140 Millionen täglichen aktiven Nutzern eine der populärsten Nachrichtenquellen Chinas. Toutiao hat als erste Plattform künstliche Intelligenz bei der Erstellung, Filterung und Adaption von Nachrichten auf Basis individueller Nutzergewohnheiten eingesetzt und perfektioniert


Drei Aspekte umfasst das Gedankenspiel: die chinesische Wirtschaft, die Armee und die USA. Ausgangspunkt dieser Überlegungen sind, so der Nutzer, „Provokationen“ durch Taiwan. Diese führten dazu, dass das chinesische Volk nun den Krieg verlange und der Regierung faktisch kaum eine Wahl ließe, so der Autor.


1. Robustheit der chinesischen Wirtschaft: Die Provinzen an der Südostküste – von Shandong bis Guangdong – könnten durch Angriffe von den USA und Japan im Falle eines Konflikts um Taiwan geschädigt werden. Diese Provinzen machten 42,5% des gesamten BIP aus. Allerdings sei der mittlere Westen des Landes traditionell Hauptgetreideproduzent. Somit könne dieser mit den restlichen 50% Wirtschaftsleistung, wie schon im chinesisch-japanischen Krieg, das Land weiter ernähren.

Einordnung: Diesbezüglich scheint die chinesische Regierung etwas besorgter zu sein als der Autor des Artikels. Beijing hat Anfang des Jahres eine neue Initiative zur Sicherung und Umwandlung von Land speziell für Grundnahrungsmittel wie Weizen, Mais und Reis gestartet. Ernteausfall durch Dürre, aber auch der teilweise eingebrochene Import von Getreide aus der Ukraine und Russland (ca. 10 Prozent des chinesischen Bedarfs) spielen eine Rolle.

2. Zustand des eigenen Militärs: Die größte Herausforderung in einem Konflikt sei, so der Verfasser, das Erreichen des taiwanesischen Festlandes. Nach Ankunft in Taiwan sei der Krieg zur Hälfte gewonnen. Dies könnte innerhalb von 20 Tagen geschehen. Die USA hätten aktuell 130.000 Soldat:innen in Südostasien stationiert. Damit nicht weitere Streitkräfte hinzugezogen werden können, sollte ein Angriff von China möglichst plötzlich erfolgen. Solange man der US-Flotte nachhaltigen Schaden zufügen könne, sei ein Verlust von 60% bei der eigenen Marine hinnehmbar.

Einordnung: Auch ausländische Experten weisen der chinesischen Marine eine besondere Rolle im Falle einer kriegerischen Auseinandersetzung um Taiwan zu. Für eine Invasion der Insel müsste diese umzingelt werden, dies bedarf ein koordiniertes Vorgehen mit anderen Militäreinheiten. Die chinesische Volksbefreiungsarmee hat dies in den jüngsten Militärmanövern ansatzweise demonstriert. US-Analysten und jüngst auch der taiwanesische Verteidigungsminister haben das Jahr 2027 als Zeitpunkt genannt, an dem Xi Jinping die chinesische Armee bereit für eine Invasion Taiwans haben will. Xi ist mit dem aktuellen Status Quo, anders als seine Vorgänger, nicht zufrieden. 

3. Motive der USA: Washington werde nichts tun, was seine Hegemonialstellung in der Welt gefährde, so der Autor. Daher würde die USA nicht mit voller militärischer Macht in einen heißen Konflikt um Taiwan eingreifen. Das aus Sicht des Artikels zögerliche Eingreifen im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine sei ein Beleg dafür. Das Streben nach Hegemonie, die im Kapitalismus begründet sei, sei die große Schwäche der USA. China verfolge dahingegen mit der „Wiedervereinigung des Mutterlandes“ keine hegemonialen Absichten.

Einordnung: Die Analyse, dass Washington mit einem vollen Einsatz in der Taiwan-Straße seine Machtposition gefährde, liest sich überraschend. Die anhaltend scharfe Rhetorik der chinesischen Regierung sowie die Militärmanöver in der Region deuten darauf hin, dass Beijing die US-Präsenz sehr ernst nimmt, allerdings auch zunehmend eigene politische Ziele verfolgt. Die Dämonisierung der USA als Hegemon und Chinas Selbstinszenierung als friedliche Nation ist ein anhaltendes Narrativ Beijings.

Zum Weiterlesen: 
Originalartikel auf Toutiao (CN)
 

Parallelen zwischen der Ukraine und Taiwan ziehen? Zhihu-Nutzer äußern harsche Kritik, aber auch Verständnis

Von Hannah Reinert, M.A.-Studentin des Studiengangs "China – Kultur und Kommunikation"

Auf der chinesischen Frage-und-Antwortplattform Zhihu (知乎Zhīhū, wörtlich "Weißt du...?") diskutieren rund 110 Millionen monatliche aktive Nutzer (MAU, monthly active users) über Themen, die Chinas urbane Jugend bewegt. Zhihu-Nutzer sind überwiegend unter 30, leben in größeren Städten und haben einen akademischen Abschluss. Antworten können weniger Zeilen bis zu mehreren Seiten lang sein. Entscheidend: die von Nutzern bewertete Qualität.

(Die Auswahl des hier vorgestellten Themas erfolgt auf Basis eines monatlichen Rankings der Fragen nach Anzahl der Stunden in der Heiße-Themen-Liste. Fragen und Antworten werden als Teil eines CIUT-Forschungsprojekts regelmäßig erhoben und analysiert)
 

Am 14. April stellte der Zhihu-Account der national-konservativen Nachrichtenseite Guanchazhewang (观察者网 Guāncházhěwǎng; offizielle englische Übersetzung "Observer Net") folgende Frage:

"Ein polnischer Politiker behauptet: 'Wenn die Ukraine besiegt wird, könnte China am nächsten Tag Taiwan angreifen'. Dies wurde von der chinesischen Seite zurückgewiesen. Wie kommentierst du diese Aussage?"

Diese Frage zog rund 2,8 Millionen Klicks auf sich, 981 Leute antworteten (Stand: 10.6.2023)

Was ist der Hintergrund?

Am 13. April sprach der polnische Premierminister Mateusz Morawiecki vor dem Atlantic Council, einem Think Tank in den USA. In seiner Rede, die sich vor allem um den Konflikt in der Ukraine drehte, fiel unter anderem folgender Satz: „I think that – God forbid – if Ukraine falls, if Ukraine gets conquered the next day, China may attack – can attack – Taiwan. I see lots of connectivity, lots of interdependencies between the situation in Ukraine and the situation in China, in Taiwan and China.” Tags darauf veröffentlichte die chinesische Botschaft eine Stellungnahme, in der sie die Rede scharf verurteilte. Man könne die Taiwan-Frage (台湾问题 Táiwān wèntí) nicht mit der Situation in der Ukraine gleichsetzen.

Was und wie wird diskutiert? 

Auch für viele der Nutzer:innen sind beide Konflikte nicht vergleichbar. Der Kommentar mit den meisten Likes liest sich wie folgt: 

"Die Situation um Taiwan ist eine innere Angelegenheit, selbst wenn das Festland sich entscheiden würde gegen Taiwan zu kämpfen, wäre das ein Bürgerkrieg. Also, was bedeutet es, wenn man die Ukraine mit Taiwan vergleichst? Will man sagen, dass Russlands Kampf gegen die Ukraine auch ein Bürgerkrieg ist? Eine innere Angelegenheit der ehemaligen Sowjetunion? War die Ukraine Teil der Sowjetunion?" 

Vereinzelt merken Zhihu-Nutzer:innen an, dass es doch auch Parallelen gibt:

"Obwohl die Ukraine und Taiwan rechtlich gesehen tatsächlich zwei unterschiedliche Dinge sind, in den Herzen der Menschen weltweit sind sie ein und dasselbe. Das denken nicht nur die Menschen im Westen, sondern auch wir." 

Kommentator:innen fügen der Kritik an den Worten des polnischen Präsidenten eine teilweise sehr drastische, drohende Sprache hinzu: Polen solle sich nicht so sehr aus dem Fenster lehnen, es wäre doch "in jedem Jahrhundert zwei Mal zerstört worden". Warschau solle vor allem nicht so um die Gunst der USA buhlen. Andere Antworten analysieren die Aussage des polnischen Regierungschefs differenzierter und nennen die geographische Lage sowie historische Traumata Polens als wichtige Kontextfaktoren.

Unterstützung oder gar eine Verteidigung des russischen Angriffs ist nicht zu finden. Manche Nutzer:innen kommentieren mit einer gewissen Ironie – durchaus typisch für Zhihu-Nutzer – den Krieg in der Ukraine. So zitiert ein Kommentator einen angeblich in Polen sehr populären Witz: Das katholische Polen sei so brav, deshalb schenkte ihm Gott drei Wünsche. Zweimal wünschte sich Polen, dass China es doch angreifen möge. Beim dritten Mal platzt Gott der Kragen. Er fragte was denn mit den Polen los sei. Die Antwort: "Gott! Wenn Chinas Befreiungsarmee in Polen einfällt, muss es zuerst Russland durchqueren, und sie wird so erst Russland plattmachen (上帝啊!中国解放军要入侵波兰,得先经过俄罗斯,他们会先踏平了俄罗斯)."