XVI. Symposium für Jiddische Studien in Deutschland 2013
Vom 16. bis zum 18. September fand in diesem Jahr das Symposium für Jiddische Studien in Deutschland statt, das jährlich abwechselnd in Trier oder Düsseldorf ausgetragen wird und nun schon zum sechzehnten Mal JiddistInnen sowie Interessierte aus aller Welt willkommen hieß. Den Referenten wurde die Gelegenheit geboten, ihre aktuellen Projekte und Forschungsergebnisse in den Konferenzsprachen Deutsch und Jiddisch vorzustellen. Insgesamt konnten dafür mehr als zwanzig Forscherinnen und Forscher gewonnen werden, die in diesem Jahr erneut die große Bandbreite der Jiddistik unter Beweis stellten. In der Begrüßung wies der Prodekan des Fachbereichs II, Stephan Busch, unter Bezug auf ein Zitat von Platon auf die ursprüngliche Bedeutung eines Symposiums – im geselligen Kreise neue Themen zu erörtern – hin.
Lawrence Rosenwald eröffnete mit Betrachtungen Zu Yankev Glatshteyns Gedicht über Sacco und Vanzetti den inhaltlichen Teil. Die vertiefte Analyse des Gedichts über die bekannten italo-amerikanischen Anarchisten zeigte die sprachliche und thematische Vielfalt des Autors auf und bot Stoff für eine angeregte Diskussion.
Daran schloss sich Efrat Gal-Eds Vortrag Zu Itzik Mangers poetischem Verfahren am Beispiel der Ballade vom Podeloyer Rabbi an. Dieser Text entstand im Kontext der chassidischen Kultur, die sich besonders durch sehr fromme Züge und eine große Gottesnähe auszeichnet. Der Protagonist der Ballade erkennt, dass durch die Immanenz Gottes nicht nur die Festtage und religiösen Gegenstände heilig sind, sondern alles in Raum und Zeit, was ihn umgibt. Diese Erfahrung lässt ihn mit einem glücklichen Lächeln ins Jenseits wandern.
Einen literarischen Beitrag unter ganz anderen Aspekten lieferte Jonathan-Rafael Balling mit seinem Referat zur Konstruktion von Männlichkeit in jiddischen Romanen. Hierzu untersuchte der Referent zwei wenig bekannte jiddische Romane aus dem 19. Jahrhundert (›Der yidisher muzshik‹und›Dos poylishe yingel‹) auf ihre Männer-Bilder. In beiden Werken wenden sich die Protagonisten von dem ursprünglichen Idealbild ihrer Umgebung ab und brechen so, zumindest partiell, mit ihrer jeweiligen traditionellen geschlechtlichen Identität.
Zum Auftakt des linguistischen Parts nahm Johan SeynnaeveDes Nisters Mayselekh in ferzn unter die Lupe, wobei der Referent die stilistischen Experimente und Kunstgriffe des Autors herausstellte. Insbesondere zur Frage von Auslassungen des Artikels in einigen vorgestellen Beispielen entstand eine längere Diskussion im Plenum. Dabei wurde festgestellt, dass hier eine Verbindung zur russischen Leserschaft bestanden haben dürfte, weil im Russischen kein Artikel vorhanden ist. Das warf die Frage auf, ob der Nister seinen Gedichtband auch außerhalb der russisch sprechenden Kreise hätte veröffentlichen können.
Henrike Kühnert untersuchte die Determination im älteren Jiddisch am Beispiel der Relativsätze. Da die Determination im älteren Jiddisch bis heute ein Forschungsdesiderat ist, traf die Referentin mit ihren zahlreichen detaillierten Beispielsätzen auf großes Interesse bei ihren Zuhörern, und so entflammte eine Diskussion über die Verwendung von »welcher«, wobei auch die Frage nach einem hebräisch-aramäischen Einfluss aufgeworfen wurde.
Ebenfalls linguistische Forschungsarbeit stellte Steffen Krogh vor, der zur Entstehung der präpositionalen Dativmarkierung mit »far« im transkarpatischen Jiddisch referierte. Dieser Vortrag diente zum Beweis seiner These von dem ungarischen Spracheinfluss auf die Dativmarkierung im Jiddischen, die er mit vergleichenden Beispielen noch untermauerte.
Beendet wurde der erste Tag des Symposiums mit einem ebenso fundierten wie unterhaltsamen Abendvortrag von Joachim Hemmerle zu: Das jiddische Puppentheater Hakl-Bakl von Simche Schwarz (Paris, 1948–1951). Simche Schwarz machte aus der Not eine Tugend: Den damals schon vorhandenen Mangel an jiddischsprachigen Schauspielern glich er mit liebevoll gestalteten, selbstgebastelten Handpuppen aus. Auch die Stücke schrieb er selbst, seine Frau Ruth komponierte die Musik dazu. Hemmerle begeisterte seine Zuhörer mit Anekdoten und seltenen Fotografien der Puppenspieler, Musiker, Plakate und natürlich von den Hauptdarstellern: den Puppen.
Der zweite Tag wurde mit dem Referat Farshklaft tsu got – r’ Akive Yoysef Shlezingers gor frume tsaytung oyf yidish Amed hayire in Ungern in di 1860er yorn von Zsombor Hunyadi eröffnet. Der Referent betonte die persönliche Einstellung des ungarischen Rabbiners Schlesinger zu anderen jiddischen Zeitungen, die ihm nicht fromm genug erschienen. Um seine Einstellungen für die jiddische Leserschaft verständlich zu machen, musste Schlesinger eigene – artifiziell wirkende – Ausdrücke entwickeln, da zu seinen Themen bisher noch nicht auf Jiddisch publiziert worden war.
Den wissenschaftlichen Diskurs zur jiddischen Pressearbeit führte Augusta Costiuc Radosav mit dem Referat Temes un motivn fun der yidisher prese in alt-Rumenye weiter, in dem sie die breite Fächerung der Inhalte und Druckerzeugnisse in den Jahren von 1855 bis 1900 ausführlich darstellte.
Lea Schäfer präsentierte Quellen des Westjiddischen im 19. Jahrhundert, ihr Vortrag entstand im Rahmen des von der DFG geförderten Projekts »Westjiddisch im (langen) 19. Jahrhundert: Quellenlage, soziolinguistische Situation und grammatische Phänomene«. Sie legte dabei den Fokus auf die Klassifizierung und Einteilung des erarbeiteten Korpus, wobei sie auch die Problematik dieser Quellentexte ausführte.
Aus kulturhistorischer Perspektive hielt Aya Elyada ihren Vortrag zu Christlichen Hebraisten und der Übersetzung jiddischer Literatur, wobei sie die polemischen und missionarischen Intentionen vieler dieser Übersetzungen durch christliche Hebraisten hervor hob; sie nannte jedoch auch Beispiele für positive und auch ambivalente Beziehungen zur (alt-)jiddischen Literatur während der Frühneuzeit, die einen breiten Eindruck von der Motivation der Übersetzer vermittelte.
Szonja Ráhel Komoroczy zeichnete ein lebhaftes Porträt des jüdischen Dichters Ascher-Selig Weiss, der humoristisch-belehrende Gedichte und Lieder verfasste. Dabei entstanden satirische Dramen, die selbst vor der eigenen jüdischen Gemeinde nicht Halt machten und diese verspotteten.
Darauf folgte Simon Neuberg mit einem Referat zum Pogrom in Posen 1696, einer Betrachtung der jiddischen Quellen. Ausgangspunkt ist eine wahre Begebenheit, bei der die jüdische Gemeinde in Posen fälschlicherweise verdächtigt wird, einen Christen ermordet zu haben. Durch einen Zufall wird der wahre Mörder gefunden, noch bevor der aufgebrachte Mob über die jüdische Gemeinde herfällt. Hier stellte der Referent zwei Prosatexte sowie ein zweisprachiges, hebräisch-jiddisches Gedicht vor und richtete den Fokus auf ihre rezeptionsgeschichtlichen Abhängigkeiten.
Andreas Lehnertz stellte unter dem Titel Katavti al hatsetel – aschkenasische Wörter in Urkunden des 14. und 15. Jahrhunderts Funde aus dem Mainzer Akademieprojekt »Corpus der Quellen zur Geschichte der Juden im spätmittelalterlichen Reich« vor, das am Trierer Arye-Maimon-Institut beherbergt ist. Unter den Wörtern stellte der Referent drei Gruppen vor: aschkenasische Aussprache, Termini technici und das lehavdil-loshn-Prinzip. Serielle Quellen, hebräische Rückvermerke und Urkundentexte in der Landessprache waren die Fundorte.
Ebenfalls mit der Altjiddistik befasste sich Erika Timm, die das italo-jiddische Wortfeld »Wäsche« vor dem Hintergrund der Kulturgeschichte des Alltags nachzeichnete und beeindruckende Funde vorstellen konnte, welche die weit verbreitete Verwendung von Wäschetafeln und Ähnlichem belegen. Zudem zeigt ihr Beispiel, dass das alltägliche Jiddisch schon im 16. Jahrhundert eine breit gefächerte Komponentensprache war, während die literarischen Erzeugnisse nach Möglichkeit auf außerdeutsche Elemente verzichteten. Da die Überlieferungschancen solcher Belege sehr gering sind, sind Timms Funde von besonderem Wert.
In dem Vortrag von Izabela Olszewska, Jargon – Mameloschn – Jiddisch. Zum stereotypen Bild der Sprache anhand ausgewählter Texte der deutsch-jüdischen Publizistik des 19. und 20. Jahrhunderts, lernte das Plenum die Definition des Weltbildes der Jiddischsprecher durch ihre Einstellung zur eigenen Sprache kennen. Während in der Presse das Jiddische gerne abgewertet wurde, lässt sich an anderen Beispielen eine warme, familiäre Beziehung zur mameloshn erkennen.
Wojciech Tworek verfolgte eine spannende Spur in Der portret funem rebn Shneyer Zalmen fun Lyadi – revidirt und versprach gute Aussichten darauf, das Rätsel um das Porträt, welches einem Krimi gleich kam, noch zu lösen.
Den letzten Tag eröffnete Susanne Küther vom Institut für die Geschichte der deutschen Juden in Hamburg mit einem Vortrag über die Salomo-Birnbaum-Bibliothek, welche stetig anwächst und die zukünftig auch über die Fernleihe erreichbar werden soll. In ihrem Referat gab Frau Küther einen informativen Einblick in die Probleme, die mit Finanzierung und Organisation einer so seltenen Spezialbibliothek einhergehen. Das Fazit war allerdings optimistisch.
Anya Quilitzsch präsentierte eine kontinuierlich wachsende Datenbank mit zahlreichen Querverweisen und umfangreichen Videomaterial unter dem Titel Umkerendik zikh aheym: yidishe mishpokhes in Ratnfarband in der nokhmilkhomediker tkufe. Für dieses Projekt wurden in großem Umfang Gespräche mit Muttersprachlern aus der ehemaligen Sowjetunion geführt.
Einen Fund aus dem Staatsarchiv Marburg stellte Ute Müller vor: Zwischen Tradition und Transkulturation: Eine Handschrift des Marburger Staatsarchivs als sprach- und kulturgeschichtliches Zeugnis des Landjudentums im 18. Jahrhundert. Die Handschriftweist zahlreiche Besonderheiten auf. Ob es sich um einen mystizistischen Text handelt, der den Heilmitteltraktaten zuzurechnen ist, wurde zur Diskussion gestellt.
Einen besonderen Vortrag hielt Lenka Uličná zu den Kenaanischen Glossen am Rande der Jiddistik, in dem sie zahlreiche Querverweise zur Jiddistik zog. Dieser Vortrag bewies erneut die Breite des Faches. Uličná stellte Ergebnisse ihrer Arbeit über die Glossen vor und bot damit den JiddistInnen einen fundierten und informativen Einblick in die »lashon kanaan«; dabei wurde die These vertreten, dass einige der Wörter aus dem Deutschen oder Jiddischen in das Kanaanische und Tschechische geflossen sind.
Jasmina Huber (in Zusammenarbeit mit Marion Aptroot) stellte die Handschriften von Isak Wetzlars Libes briv vor, die ursprünglich nicht der breiten Masse zugängig gemacht worden sind. Dabei stellte Huber die Probleme dar, die sich bei der Edition einer wissenschaftlichen Textausgabe ergeben.
Während der drei Tage des Symposiums erhielten Fachleute und Interessierte die Möglichkeit, sich einen Einblick in die aktuellen internationalen Forschungsprojekte von JiddistInnen zu verschaffen, mit Kollegen zu diskutieren und sich auszutauschen, sei es wegen Problemen bibliographischer, philologischer oder interdisziplinärer Natur. Somit konnte auch in diesem Jahr wieder durch die rege Teilnahme an dem gemeinsamen Abendessen und den Kaffeepausen die wissenschaftliche Gemeinschaft noch etwas mehr zusammenwachsen.
Sonja Batsch, Andreas Lehnertz und Christine Schmelzer