Gedichte schreiben in Zeiten der Umbrüche

Univ.-Prof. Dr. Henrieke Stahl

Internationale Tagung in Moskau - Mai 2013

Die von der DFG finanzierte bilaterale russisch-deutsche germanistisch-russistische Konferenz hatte den Aufbau von Kooperationen der beteiligten Institutionen und Wissenschaftler im Gebiet der Forschung zur Gegenwartslyrik (seit 1989) zum Ziel und versammelte ausgewiesene Spezialisten sowie Nachwuchswissenschaftler, die in diesem Bereich arbeiten.

Es gelang, die Fruchtbarkeit des Vergleichs der Entwicklungen in der deutschen und der russischen Dichtung seit 1989 aufzuzeigen. Beide Literaturen weisen in der Lyrik zahlreiche Gemeinsamkeiten auf, z.B. den Pluralismus der Poetiken, die Auflösung traditioneller Formen und Kategorien wie dem lyrischen Subjekt, intermediale Experimente mit Grenzformen der Lyrik usw. Deutlich wurden aber auch Differenzen, die mit den unterschiedlichen historischen und literaturgeschichtlichen Bedingungen der beiden Literaturen zusammenhängen. So kommt etwa den klassischen poetischen Formen in Russland eine größere Bedeutung zu als in Deutschland, und Russland besitzt einen weitaus höheren Grad an Komplexität der literaturgeschichtlichen Verwerfungen, bedingt durch die Zusammenführung verschiedener, bis 1989 mehr oder weder separat existierender „Literaturen“. In der Arbeit an konkreten Einzeltexten, insbesondere solcher, die an der Grenze zwischen der deutschen und russischen Dichtung angesiedelt sind, ließ sich Einblick in die jeweils anderen Traditionen und Konstellationen gewinnen. Die vertiefte Analyse erlaubte, manche scheinbaren Gemeinsamkeiten der russischen und deutschen Gedichte in ihrer kultur- und literaturspezifischen Verschiedenheit sichtbar zu machen. Die Diskussion führte zur Schlussfolgerung, dass es heute an der Zeit ist, angesichts der besonders komplexen und schwierigen Situation in der Dichtung beider Länder Methoden und Ansätze der Literaturgeschichtsschreibung erneut zu diskutieren und weiterzuentwickeln.

Auch methodisch erwies sich die Tagung in vielerlei Hinsicht als impulsgebend für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer. So ergaben sich beispielsweise für die deutsche Germanistik Anregungen, erneut Fragestellungen und Methoden der Linguistik in die Literaturwissenschaft einzubeziehen, was in Russland im Unterschied zu Deutschland heute nachwievor üblich ist. Auch wird in Russland mehr Aufmerksamkeit verstechnischen Besonderheiten gewidmet, als dieses in Deutschland zu beobachten ist, offenbar, da viele zeitgenössische deutsche Dichter ein nur zurückhaltendes Interesse für Fragen der Metrik zeigen. Hinzu kommt, dass in beiden Ländern und Philologien literaturtheoretische Grundbegriffe durchaus verschieden ausgebildet sind: Manche Termini existieren in der jeweils anderen Philologie bzw. Sprache nicht, oder aber sie werden mit differierender Begrifflichkeit gefüllt, wie auf der Tagung am Beispiel des Begriffs „lyrisches Subjekt“ deutlich wurde.

Die Ergebnisse der Tagung sollen in einem Sammelband auf Deutsch veröffentlicht werden, dessen Publikation in der Reihe Neuere Lyrik - Interkulturelle und interdisziplinäre Studien (Kubon und Sagner Verlag, München, www.neuere-lyrik.de) für 2014 vorgesehen ist.

Ihren Erfolg verdankt die zugleich interdisziplinär und international bilaterale Zusammenarbeit der Besonderheit des DFG-Förderprogramms, welches erlaubte, den Teilnehmer sehr viel mehr Zeit, als dieses für Konferenzen gewöhnlich üblich ist, zur Verfügung zu stellen. Denn die Woche in Moskau konnte auch über die Konferenztage hinaus intensiv für Gespräche zur Weiterentwicklung der Zusammenarbeit genutzt werden. Das Rahmenprogramm mit bilateraler Dichterlesung, Stadtführung, Exkursion und festlichen Empfängen bzw. gemeinsamen Essen ermöglichte, sich auch in neu und spontan entstehenden Gesprächsgruppen bilateral auf ungezwungene Weise fachlich auszutauschen. Gerade der inoffizielle Rahmen ist für die Entwicklung innovativer Ideen, die ein freieres Assoziationsfeld zu ihrer Genese bedürfen, von nicht zu unterschätzender Bedeutung.

Die Teilnehmer streben eine Fortsetzung der begonnenen, wechselseitig fruchtbaren philologisch-bilateralen Zusammenarbeit zur Gegenwartslyrik an. In einem nächsten Schritt ist die Bildung von Arbeitsgruppen zu Themen geplant, die sich auf der Konferenz als besonders produktiv herauskristallisiert haben, und deren gleichzeitige Einbindung in einen größeren Gesamtzusammenhang. Ein gemeinsamer deutsch-russischer Projektantrag ist in Vorbereitung.