Forschungsgebiete

Gegenstand der ersten Förderphase sind die vier genannten Forschungsgebiete (abgekürzt: F1-F4). Die Gebiete rücken jahrweise und in systematischer Abfolge in das Zentrum: von der Gattung über das Medium Sprache zu den Kontexten von Kultur und Gesellschaft. Innerhalb der vier Gebiete grenzt sich unsere Arbeit auf drei verzahnte Themenkreise ein.

Wir stellen Ihnen nun die Forschungsgebiete mit Beispielen vor, welche Gegenstand der gemeinsamen Arbeit unseres Teams sind. Sie verdeutlichen paradigmatisch den Mehrwert durch Synergie der Fächer.

In F1 wird die Gattungstheorie mit transitorischer lyrischer Praxis konfrontiert, um sowohl die Theorie als auch Methodologie weiterzuentwickeln. Die Schwerpunkte sind 1.) Lyrikbegriff; 2.) Methoden; 3.) Case Studies.

Ein Beispiel für die poetische Transition von Gattungsgrenzen, welches die Slavistik in Zusammenarbeit mit Lyriktheorie und Anglistik bearbeitet, ist das Buch der russisch-US-amerikanischen Autorin Polina Barskova „Lebendige Bilder“ von 2014. Barskova setzt Strategien der Differenzierung und Amalgamierung von Merkmalen lyrischer Prosa, lyrischem Gedicht und Drama ein, die in der Entwicklung sog. Vers-Prosa kulminieren. Barskova steht paradigmatisch für Impulse, die über die US-amerikanische russischsprachige Lyrik nach Russland kommen:

P.Barskova: Lebendige Bilder, SPb. 2014; Übersetzung H.Stahl

Schwermut – Sehnsucht – Reiz des Archivs: das Gefühl eines Rätsels, eines Mosaiks, als ob all diese Stimmen eine Stimme bilden könnten, und dann entstünde ein einiger Sinn, und es würde möglich, aus dieser Verwirrung aufzutauchen, in der es weder Vergangenheit noch Zukunft gibt, sondern nur Schandschwermut – niemand ist vergessen und nichts ist vergessen – keinem ist zu helfen, und vergessen sind alle.

Wer bin ich, Charon bin ich vielleicht?

Ein Nachtschiffchen in Petersburg, ein Schwarm von ausgelassenen Ausländerinnen: „Können Sie uns spazieren fahren?“ – „Wollen wir sie spazieren fahren?“ – „Und wie betrunken sind Sie?“ – „Scher‘ dich fort!“ – ein zärtlich-verwundertes Gelächter. Wir gehen auf das Schiffchen, und ich sehe neben dem kleinen Steuerrad eine riesige angebrochene Flasche, sogar eher einen Krug. Es ist schwer für Charon, einen nüchternen Kopf zu behalten: die Seelen murren.

In F2 untersuchen wir linguapoetische Besonderheiten von Gegenwartslyrik mit den Schwerpunkten: 1.) Idiostilbildung, 2.) Mehrsprachigkeit, 3.) Poetologie.

Mehrsprachigkeit erfordert die Synergie philologischer Kompetenzen für die tangierten Sprach- und Lyrikräume. So erschließt sich die Poetik von Yoko Tawada in der Kooperation von Japanologie, Germanistik und Slavistik. Denn sie knüpft, wie das Gedicht auf der Folie zeigt, nicht nur an Ernst Jandl sowie japanische konkrete Poesie an, sondern baut implizit auch auf der Poetik des russischen Futuristen Velimir Chlebnikov auf.

In F3 wird der lyrische Umgang mit Kulturgrenzen anhand von 1.) Vergleich, 2.) Transfer und 3.) Transkulturalität untersucht.

Für den Transfer sind Rezeption und Übersetzung wesentlich. Natalija Azarovas Lyrik eignet sich für die gemeinsame Forschung von Slavistik, Sinologie und Philosophie. Denn sie nimmt nicht nur Einflüsse russischer Untergrundlyrik etwa Gennadij Ajgis oder deutscher Theologie und Philosophie wie des Kardinals Nikolaus von Kues oder Martin Heideggers auf, sondern entwickelt, wie das Beispiel zeigt, an der Nachdichtung chinesischer Gedichte Du Fus neue transitorische Techniken der Sprachdezentrierung und Versintonierung.

Zur Folie die Übersetzung:

(DU FU. Projekt von Natalija Azarova.M. 2012. Übersetzung des russischen Auszugs durch H.Stahl)

es gibt keinen Regen

Dürre des südlichen Landes

am heutigen Morgen

erhoben sich Wolken über den Fluss

da füllt sich

mit einer gedichteten Dichte die Luft

und versprüht schon

durch Trennung getrennte Tropfen

 

die Schwalben kamen in die Nester

die Höhe ausgeschöpft geflogen

die Waldblumen

wurden von der saftigen Nässe bemerkbarer

es naht der Abend

in der Dunkelheit verstummen die Klänge nicht

ihnen zu lauschen

in die Dunkelheit vorrücken nach Gehör

In F4 wird der Gesellschaftsbezug der Gegenwartslyrik hinsichtlich 1.) neuer Formen, 2.) Gruppierungen und 3.) soziopolitischer Themen behandelt.

Soziopolitische Lyrik hat mit dem Internet neue Formen und Funktionen speziell in Asien und in Osteuropa entwickelt. So sind anlässlich von Fukushima oder im Russland-Ukraine-Konflikt poetische Diskursnetze entstanden, welche die Grenzen von Ländern, Generationen, Bildungsniveaus und Medien überschreiten. Auf der Folie sehen Sie den wahrscheinlich umfangreichsten, bis heute produktiven poetischen Diskurs, den ein Gedicht von Anastas‘ja Dmitruk im Frühjahr 2014 ausgelöst hat. In der Zusammenarbeit der beteiligten Philologien mit den Politik- und Medienwissenschaften erforschen wir die diskursive und partizipatorische Qualität soziopolitischer Lyrik und ihre unterschiedliche Ausprägung in verschiedenen Ländern.