Tagungsberichte

Bericht zur Konferenz
Typen des Subjekts und ihre Darstellungsformen in der neuesten Lyrik (1990–2015)

(11., 13. Juli 2016 – Institut für Sprachwissenschaft RAN; 12. Juli 2016 – Institut für russische Sprache RAN, Moskau)

 

Mitte Juli 2016 fand im Rahmen des bilateralen Projekts Typologie des Subjekts in der russischen Dichtung 1990-2010 (DFG und RGNF, 2015-18, deutsche Projektleiterin: Prof. Dr. Henrieke Stahl, Slavistik, Universität Trier) die zweite internationale Konferenz „Typen des Subjekts und ihre Darstellungsformen in der neuesten Lyrik (1990–2015)“ statt. Die Konferenz wurde am 11. Juli 2016 mit einem Grußwort des stellvertretenden Direktors des Instituts für Sprachwissenschaft Prof. Dr. Valerij Dem’jankov eröffnet. An der dreitägigen Konferenz, die am Institut für Sprachwissenschaft und am Vinogradov-Institut für russische Sprache der Russländischen Akademie der Wissenschaften in Moskau durchgeführt wurde, nahmen 38 WissenschaftlerInnen aus Russland, Weißrussland, Deutschland, Italien, Japan, den USA und den Niederlanden teil, darunter NachwuchsforscherInnen.
Während die erste Konferenz im November 2015 in Trier die Theorie des lyrischen Subjekts und die Entwicklung eines relevanten Beschreibungsinstrumentariums in den Mittelpunkt gerückt hat, lag der Schwerpunkt der Moskauer Konferenz auf der Untersuchung der Vielfalt an Subjektformen in der russischen Gegenwartslyrik. Die Tagung war in folgende Sektionen unterteilt: „Typologie des Subjekts und Verfahren seiner Rekonstruktion“, „Neue Methoden in der Subjektforschung“, „Das lyrische Subjekt: Erfassung vs. Auflösung“, „Neue Formen der Subjektskonstituierung“ und „Neue Formen der Subjektivität und ihre Beschreibungsmöglichkeiten“.
Behandelt wurden poetische Texte, die aufgrund von Repräsentativität (Bekanntheit, Auszeichnung, Grad der Untersuchung), aber auch von ästhetischer und ideeller Relevanz ausgewählt wurden. Hierzu zählen Texte sowohl von AutorInnen aus der älteren Generation, die bereits den Status moderner Klassiker gewonnen haben, wie Genrich Sapgir, Dmitrij Prigov, Gennadij Ajgi, Olga Sedakova, Elena Švarc, Viktor Krivulin und Arkadij Dragomoščenko, als auch poetische Texte jüngerer und weniger bekannter LyrikerInnen, wie z.B. von Anna Glazova, Nika Skandiaka, Marianna Gejde, Polina Barskova u.a.m.
Das Tagungskonzept basierte auf der Annahme, dass in der Gegenwartslyrik gemeinsame Grundformen gefunden werden können, welche die Vielfalt der poetischen Formen und Darstellungsweisen des lyrischen Subjekts zu strukturieren und Spezifika sichtbar zu machen erlauben. In den Untersuchungen kristallisierten sich drei Grundtypen der Subjektgestaltung heraus: Prozesse der Auflösung von Subjekt / Subjektivität, die scheinbare oder tatsächliche Absenz von Subjekt / Subjektivität sowie Formen der (Neu-)Konstituierung von Subjekt und Subjektivität. Mithilfe dieser drei Grundtypen bildet die neuere Lyrik verschiedene Formen von Kombinationen aus. Das zeitgenössische lyrische Subjekt wird dabei auch unter Rückgriff auf Erscheinungsformen des lyrischen Subjekts der Lyriktradition des 20. Jahrhunderts, insbesondere aus Modernismus und Avantgarde, aber auch der sowjetischen Untergrundlyrik, entwickelt. Die Subjektgestaltung zeichnet sich insgesamt durch Hybridizität heterogener und auch widersprüchlicher Merkmale aus. Das Subjekt ist keineswegs „verschwunden“ oder „aufgelöst“, sondern hat seine Erscheinungsform gewandelt – ein homogenes und starkes lyrisches Ich klassischer Art tritt zwar noch oder auch wieder erneut auf, jedoch zeigt die anspruchsvolle Lyrik eine reflektierte Überschreitung dieser klassischen Form. Auch im Fall der scheinbaren Absenz eines Subjekts, etwa durch Collage ichloser Stimmen oder sogar mehrperspektivischen Fragmenten ohne Stimmzuordnung, kehrt es „durch die Hintertür“ zurück: als Instanz der Auswahl, Kombination und Gestaltung. Die Unterscheidung von verschiedenen Ebenen der Texte, auf denen das Subjekt sich ausprägt, trägt dazu bei, komplexe und vielschichtige Subjektformen zu erfassen. Inhaltlich wie formal geht es in vielen Gedichten um die Überwindung eines in sich abgekapselten und abgeschlossenen Ich, dessen Grenzen zur Umwelt, zum Körper, zum Mitmenschen oder sogar einer metaphysischen Dimension transzendiert werden. Die Publikation der Beiträge ist in Vorbereitung.
Die nächsten Veranstaltungen im Rahmen des Projekts sind der Workshop „Das Subjekt nach der Postmoderne: Neue Theorien und Methoden aus Philosophie und Lyrikologie in interkultureller Sicht“ (3.-5.3.2017, Bernkastel-Kues) und die Tagung „Subjekt und Liminalität in der Gegenwartsliteratur (Lyrik, Prosa, Drama)“ (6.-10.07.2017, Trier).

(Ekaterina Evgrashkina)