Im Fokus der Rechtspolitik: Strategic Litigation – Die Durchsetzung kollektiver Interessen vor deutschen Gerichten

„Klimaneutralität“, „Ressourcen sparen“, „was wir für den Umweltschutz tun“. Formulierungen wie diese kann man heutzutage auf nahezu jeder Firmenwebseite finden. Auch der Automobilkonzern Volkswagen befindet sich nach eigener Aussage „auf dem Weg zum klimaneutralen Unternehmen“. Nichtregierungsorganisationen haben in den vergangenen Jahren immer häufiger versucht, eine solche klimafreundlichere Ausrichtung der Automobilindustrie auch auf dem Rechtsweg einzufordern. Das Mittel ihrer Wahl: sogenannte Klimaklagen.

In den Augen der Kläger können solche Verfahren auch ohne eine Verurteilung erfolgreich sein. Dann nämlich, wenn es ihnen gelingt, über den Prozess Politiker und Bürger auf ihr Anliegen aufmerksam zu machen. Diese Art der Prozessführung wird Strategic Litigation genannt und kann nicht nur das Klima, sondern jegliches gesellschaftlich oder politisch relevante Thema betreffen – beispielsweise auch die Diskriminierung gesellschaftlicher Minderheiten oder Informationsansprüche gegen den Staat. Das wachsende Phänomen findet bislang in Deutschland noch nicht die wissenschaftliche Aufmerksamkeit, die es verdient. Daher wird Strategic Litigation auch Thema der 66. Bitburger Gespräche sein, die das Institut für Rechtspolitik zusammen mit der Gesellschaft für Rechtspolitik im Januar 2023 in Trier ausrichtet.

 

        I. Begriff

Eine eindeutige Begriffsfindung gestaltet sich nicht so leicht, wie man auf den ersten Blick denken könnte.[1] Alle Definitionsversuche haben jedoch gemeinsam, dass es bei Strategic Litigation um die Durchsetzung von Kollektivinteressen geht. Das vorrangige Ziel des Prozesses ist nicht nur das Urteil an sich, sondern vor allem das Schaffen politischer und gesellschaftlicher Aufmerksamkeit über den Einzelfall hinaus.[2] Strategische Prozessführung wird von Einzelpersonen, Gruppen oder Verbänden praktiziert.

Das strategische Element bezieht sich also weniger auf die Prozessstrategie als solche, sondern vielmehr auf die Intention hinter der Klage. Auch ungeplante Prozesse können im Nachgang als strategisch gewertet werden. Strategic Litigation ist insofern strategisch, als dass sie das Herbeiführen gesellschaftlicher Veränderung zum Ziel hat.[3]

 

        II. Ursprünge

Strategic Litigation ist – wie der Name bereits vermuten lässt – keine deutsche Erfindung, sondern hat ihre Ursprünge in den USA. Das erste prominente Beispiel stellt eine Reihe von Gerichtsverfahren dar, die unter der Bezeichnung Brown v. Board of Education zusammengefasst werden. Im Jahr 1954 erklärte der US-amerikanische Supreme Court in dieser Entscheidung die formelle Rassentrennung an Schulen für verfassungswidrig.[4] Roe v. Wade[5] hatte die Legalisierung von Abtreibungen zum Gegenstand und begründete dies mit dem Recht auf Privatsphäre, das sich aus dem Recht auf ein ordentliches Verfahren ableiten lasse. Vor dem Hintergrund der Abtreibungsverbote in den USA in den 50er- und 60er-Jahren, die zu gefährlicheren illegalen Abtreibungsversuchen führten, statt sie zu verhindern, hatte die Klage 1972 Erfolg und der Supreme Court erklärte ein generelles Abtreibungsverbot für verfassungswidrig.[6]

Alle diese Klagen haben gemein, dass die klagenden Organisationen Streitfälle bewusst herbeiführten oder suchten, um diese bis vor den obersten Gerichtshof zu bestreiten. Ziel der Klagen war es weniger, den konkreten Sachverhalt zu klären.[7] Vielmehr sollte sich ein gesellschaftlicher Widerstand in einem juristischen Wandel verfestigen.

 

        III. Strategic Litigation in Deutschland

In Deutschland lassen sich die Anfänge der strategischen Prozessführung in der 1968er-Bewegung erkennen, wo sich Juristen erstmals in politischen Strafprozessen engagierten. Ein späteres Beispiel ist die Kampagne gegen die Wiedereinführung der Wehrpflicht in Westberlin Anfang der 90er Jahre.[8] Nach der deutschen Wiedervereinigung zog die Bundeswehr im Jahr 1994 rückwirkend drei Jahrgänge in dem bis dato unangetasteten Westberlin ein. Viele jedoch ignorierten den Musterungsbescheid; Aktivisten der „Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär“ berieten Zehntausende darüber, wie sie der Einziehung am besten entgehen könnten.[9] Anwälte sahen einen Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz und suchten für eine Klage gezielt nach Mandanten.[10] Auch wenn deutschen Juristen die Bezeichnung Strategic Litigation damals fremd war, ist der Fall aus heutiger Sicht aufgrund der Kombination aus zivilem Ungehorsam und Rechtsverteidigung ebenso in diese Kategorie einzuordnen.[11]

Auch das Phänomen der Klimaklagen hat es mittlerweile aus den USA nach Deutschland geschafft. Im Jahr 2007 erkannte der amerikanische Supreme Court in der Entscheidung Massachusetts v. EPA[12] Kohlenstoffdioxid als Schadstoff an, weshalb sich die amerikanische Umweltschutzbehörde dem Problem des Klimawandels annehmen musste. Hierzulande schlug besonders die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts[13] zum Klimaschutzgesetz im Jahr 2021 hohe Wellen. Die teilweise noch minderjährigen Beschwerdeführer wandten sich im Rahmen mehrerer Beschwerden gegen das Klimaschutzgesetz und ein Unterlassen des Gesetzgebers: Der Staat habe keine ausreichenden Regelungen zur zügigen Reduktion von Treibhausgasen unternommen, die aber notwendig seien, um den Anstieg der globalen Temperatur im Rahmen der Pariser Klimaziele von 2015 zu halten.[14] Auch Umweltvereinigungen wie Greenpeace und Fridays for Future schlossen sich als „Anwälte der Natur“ an; ihre Beschwerden wurden jedoch als unzulässig abgewiesen.[15] Das Bundesverfassungsgericht sah die Beschwerden, soweit zulässig, als teilweise begründet und das Klimaschutzgesetz in Teilen als verfassungswidrig an. Während der Gesetzgeber nachbessern musste, standen weitere strategische Klimaklagen bereits in den Startlöchern.

 

        IV. Aktuelle Praxisbeispiele

Als jüngere Beispiele sind zum einen die Kampagne „Dritte Option“ zu nennen, deren Ziel die Einführung des Geschlechtseintrags „divers“ war,[16] zum anderen die Klimaklage eines Landwirts gegen VW, der den Konzern für den Zustand seiner Wälder und Böden verantwortlich macht und ihm die Gefährdung seiner geschäftlichen Existenz vorwirft.[17] Unterstützt wird er dabei von Greenpeace. In dieser neueren Entwicklung werden Klimaklagen nicht nur gegen den Staat gerichtet, sondern auch gegen die für Treibhausgas-Emissionen verantwortlichen Unternehmen.[18] So verurteilte ein niederländisches Gericht den Mineralöl- und Erdgas-Konzern Shell im Jahr 2021 dazu, seinen Kohlenstoffdioxid-Ausstoß im Vergleich zu 2019 um 45 % zu reduzieren.[19]  Am Landgericht Braunschweig ist eine Klage der beiden Geschäftsführer von Greenpeace gemeinsam mit einer Klimaaktivistin anhängig, die sich ebenfalls gegen den ihrer Ansicht nach mangelnden Klimaschutz von VW richtet und das Ziel hat, den Verkauf von Autos mit Verbrennungsmotoren bis spätestens 2030 weltweit zu beenden.[20] Auch andere Automobilkonzerne wie Mercedes-Benz und BMW bleiben von Klimaklagen nicht verschont. Die Deutsche Umwelthilfe möchte mit ihren Verfahren gegen die beiden Konzerne ebenfalls ein Verkaufsverbot für Verbrenner ab 2030 erreichen[21].

 

        V. Ausblick

Strategic Litigation gewinnt auch in Deutschland immer mehr an Bedeutung. Gründe dafür sind zum einen, dass Themen wie Klimaschutz und Menschenrechtsschutz immer mehr Raum einnehmen. Zum anderen hat der Erfolg vergangener strategischer Prozesse zu deren Popularisierung beigetragen.

Auch ein Novum im deutschen Recht könnte dafür sorgen, dass Fälle von strategischer Prozessführung künftig zunehmen werden. Wurden Klagen in diesem Bereich bislang häufig von Verbänden unterstützt, so sollen diese bald auch selbst vor Gericht ziehen können. Die Richtlinie 2020/1828 des Europäischen Parlaments und des Rates verlangt von den Mitgliedsstaaten, bis Ende dieses Jahres ein „wirksames und effizientes Verbandsklageverfahren auf Unterlassungsentscheidungen und ein wirksames Verbandsklageverfahren auf Abhilfeentscheidungen“ einzuführen.[22] Im September wurde dazu der erste Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums öffentlich. Danach soll das neue Instrument auch bei Streitigkeiten ohne Bezug zu EU-Recht zur Verfügung stehen.[23] Klageberechtigt sollen all jene Verbraucherverbände sein, die gewisse Anforderungen an die Zahl und Zusammensetzung ihrer Mitglieder erfüllen und seit mindestens vier Jahren registriert sind. Sie dürfen finanziell nicht zu abhängig von Unternehmen sein und die Klage nicht ausschließlich zur Gewinnerzielung führen.[24]

Auch wenn sich Strategic Litigation als Mittel zur Interessendurchsetzung von politischen Minderheiten eignet, wird immer wieder Kritik daran laut. Diese betrifft vor allem den Grundsatz des Individualrechtsschutzes, da mit den Klagen nicht primär die Interessen des Klägers durchgesetzt werden sollen, sondern vor allem die einer größeren Gruppe. Die Gewaltenteilung ist insofern betroffen, als mit einer Klage politische Reformen erreicht werden sollen. Entsprechend wird eine „Justizialisierung der Politik“ und eine Entpolitisierung gesellschaftlicher Streitfragen moniert.[25]

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass Strategic Litigation in Deutschland bei weitem noch nicht so etabliert ist wie beispielsweise im anglo-amerikanischen Rechtsraum und es daher weiterer wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit dem Thema bedarf. Dazu sollen auch die 66. Bitburger Gespräche einen Beitrag leisten.

 

Laura March und Philipp Roller

 

[1] Helmrich, in: Graser/Helmrich (Hrsg.), Strategic Litigation – Begriff und Praxis, S. 31.

[2] Fuchs, in: Graser/Helmrich (Hrsg.), Strategic Litigation – Begriff und Praxis, S. 44.

[3] Helmrich, in: Graser/Helmrich (Hrsg.), Strategic Litigation – Begriff und Praxis, S. 32 f.; Graser, in: Graser/Helmrich (Hrsg.), Strategic Litigation – Begriff und Praxis, S. 37.

[4] Brown v. Board of Education of Topeka, 347 U.S. 483 (1954).

[5] Roe v. Wade, 410 U.S. 113 (1973).

[6] Helmrich, in: Graser/Helmrich (Hrsg.), Strategic Litigation – Begriff und Praxis, S. 120 f.

[7] So war der Sohn der unter dem Pseudonym „Jane Roe“ auftretenden Klägerin zum Zeitpunkt der Entscheidung bereits geboren, siehe Helmrich, in: Graser/Helmrich (Hrsg.), Strategic Litigation – Begriff und Praxis, S. 121.

[8] Kaleck, in: Graser/Helmrich (Hrsg.), Strategic Litigation – Begriff und Praxis, S. 22 f.

[9] Gaserow, Ohne Bodenhaftung, Die Zeit 21/1994.

[10] o. A., Heilige Stadt, Der Spiegel 2/1994.

[11] Kaleck, in: Graser/Helmrich (Hrsg.), Strategic Litigation – Begriff und Praxis, S. 22 f.

[12] Massachusetts v. EPA, 549 U.S. 497 (2007).

[13] BVerfG, Beschluss vom 24.3.2021 – 1 BvR 2656/18; NJW 2021, 1723.

[14] Muckel, JA 2021, 610.

[15] ders.

[16] grundundmenschenrechtsblog.de/dritte-option-ein-beispiel-fuer-strategic-litigation-in-deutschland/ [Stand: 05.09.2022].

[17] www.lto.de/recht/hintergruende/h/klimaklage-lg-detmold-01o19921-klimaschutz-vw-greenpeace-landwirtschaft-umwelt-emissionen-verbrennerausstieg/ [Stand: 13.09.2022].

[18] Hierzu umfangreich: Hilf, Klimaschutz vor Gerichten: Die Perspektive der Rechtspraxis, Jahrbuch der 64. Bitburger Gespräche, S. 7.

[19] Rechtbank Den Haag, Urteil vom 26. Mai 2021, Az. C/09/571932 / HA ZA 19-379.

[20] www.lto.de/recht/kanzleien-unternehmen/k/greenpeace-klage-vw-verbrennungsmotor-ausstieg-2030-clara-mayer-fridays-for-future-lg-braunschweig/ [Stand: 13.09.2022].

[21] www.lto.de/recht/nachrichten/n/lg-stuttgart-klimaklage-mercedes-benz-ausstieg-verbrenner/ [Stand: 13.09.2022].

[22] EU-Richtlinie 2020/1828 vom 25.11.2020

[23] Röckrath, So soll die neue „Eine-für-alle-Klage“ funktionieren, abrufbar unter www.lto.de/recht/hintergruende/h/verbandsklage-abhilfeklage-sammelklage-referentenentwurf/ [Stand: 08.12.2022].

[24] Freshfields Briefing, Entwurf zur neuen Sammelklage in Deutschland – Erster Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums zur Umsetzung der Europäischen Verbandsklagerichtlinie, 26.09.2022, abrufbar unter www.freshfields.de/our-thinking/knowledge/briefing/2022/09/entwurf-zur-neuen-sammelklage-in-deutschland/ [Stand: 08.12.2022].

[25] Vgl. Fuchs, Fn. 2.