Veranstaltungsbericht: „100 Jahre Weimarer Reichsverfassung und die Demokratie - Errungenschaften und Herausforderungen in Krisenzeiten“

Die gemeinsame Tagung des Instituts für Rechtspolitik (IRP) mit dem Landtag Rheinland-Pfalz zum Thema „100 Jahre Weimarer Reichsverfassung und die Demokratie: Errungenschaf-ten und Herausforderungen in Krisenzeiten“ fand statt vor der historischen Kulisse der Stein-halle des Landesmuseums in Mainz. Von dem IRP bzw. der Stiftung „Gesellschaft für Rechtspolitik“ (GfR) und dem Landtag gemeinsam veranstaltete wissenschaftliche Tagungen haben inzwischen bereits eine gewisse Tradition. Allein in den letzten drei Jahren gab es drei Veranstaltungen dieser Art (20. Oktober 2017: gemeinsame Tagung von IRP und Landtag zum Thema „Funktionsbedingungen unabhängiger Verfassungsgerichtsbarkeit“; 2. März 2018: gemeinsame Tagung von GfR und Landtag zum Thema „Islam und Recht I“; 13. Februar 2019: Tagung „Islam und Recht II“).

© Landtag Rheinland-Pfalz/Kristina Schäfer

In seiner Begrüßung fasste der geschäftsführende Direktor des IRP, Prof. Dr. Thomas Raab, die historischen Zusammenhänge rund um die Entstehung der Weimarer Reichsverfassung (WRV) zusammen und stellte den immensen äußeren und inneren Druck, unter dem die Verfassung für die erste Demokratie auf deutschem Boden zustande kam, heraus. Daher sei es wichtig, so Raab, im Rahmen der Veranstaltung die WRV nicht allein als „Werk“ zu betrachten, sondern daneben auch die Errungenschaften der Verfassungstradition seit 1919 sowie die seit jeher bestehenden Herausforderungen für die Demokratie als Staatsform zu beleuchten. Denn die Weimarer Verfassung habe eindrücklich gezeigt, dass „die Herrschaft des Rechts“ nur so lange Bestand haben könne, wie die Menschen bereit seien, diese zu verteidigen.

WRV – mehr als eine bloße „Kontrastfolie“ für das Grundgesetz

Daran anknüpfend hob Landtagspräsident Hendrik Hering in seinem Grußwort und Impulsvortrag darauf ab, dass das Scheitern der Weimarer Republik landläufig auf ihre Verfassung zurückgeführt, die Geschichte also „von ihrem Ende her geschrieben“ werde. Die WRV wirke daher häufig – zu Unrecht – wie eine reine „Kontrastfolie“ für das positive Bild des Grundgesetzes. Dabei drücke die WRV den Willen zu einer demokratischen Gesellschaftsordnung aus und habe als Vorbild für die Verfassungen vieler (ost-)europäischer Staaten des 20. Jahrhunderts gedient. Es komme nämlich „nicht nur darauf an, welche Verfassung ein Staat hat, sondern auch darauf, in welcher Verfassung er sich befindet“, bekräftigte Hering. Die Betrachtung des politischen Gesamtbildes dürfe nicht unterlassen werden, politische Kultur und Verfassung stünden in stetem wechselseitigem Austausch, so Hering. Dieses Abhängigkeitsverhältnis habe sich in der Weimarer Republik in einer unvollständigen Parlamentarisierung und in der unzulänglichen Umsetzung der Gleichberechtigung von Mann und Frau gezeigt. Die Weimarer Republik maß dem Reichspräsidenten große Bedeutung zu. Ein entsprechend als entscheidungsschwach empfundenes Parlament prägte das negative Bild einer parlamentarischen Demokratie, die gegen Ende vermehrt durch den Einsatz von Notverordnungen ausgehöhlt wurde. Auch die Einführung des Frauenwahlrechts bei Reichstagswahlen als Ausfluss der verfassungsrechtlich verbürgten Gleichberechtigung von Mann und Frau, stets als besondere Errungenschaft der WRV gepriesen, war nur ein kleiner Triumph der Frauenrechtebewegung. Nach Art. 109 Abs. 1 WRV sollten Männer und Frauen lediglich „grundsätzlich dieselben staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten“ haben. Für eine echte Gleichberechtigung fehlte im Deutschland des Jahres 1919 noch der gesellschaftliche Zusammenhalt.

Noch heute, so Landtagspräsident Hering, stelle sich vor dem Hintergrund der Lehren von Weimar die Frage, wie sich die Demokratie gegen ihre Feinde verteidigen könne. Neben einer diversen politischen Kultur des Landes und den gesellschaftlichen Mächten sei das Recht nur ein Mittel, den Respekt der Regierenden gegenüber der Verfassung und den Respekt der politischen Gegner untereinander zu sichern. Auch die Rolle der Medien sei im Werben für die Demokratie heute größer denn je. Kurz: Demokratie erfordere eine politische Kultur, die sie stütze, schloss Hering.

Demokratie als Staats- und Lebensform

Den „Gelingensbedingungen der Demokratie“ widmete Prof. Dr. Frank Decker (Universität Bonn) seinen Vortrag. Demokratie, so Decker, sei ein wahres „Mega-Thema“, denn neben einer Staatsform bezeichne der Begriff auch eine Gesellschafts- und Lebensform.

Die WRV als Verfassung der ersten Demokratie auf deutschem Boden habe entscheidend zur Prägung moderner Demokratien beigetragen, deren Wert sich noch heute anhand der Teilhaberechte der WRV bemesse, betonte Decker. Die Demokratie in Deutschland leide seit den 1970er-Jahren unter einer sich immer weiter vertiefenden Vertrauenskrise, die Zahl der Nicht- und Protestwähler nehme seitdem zu. Das Auftreten einer Vertrauenskrise deute jedoch mitnichten auf eine verminderte Qualität der Demokratie hin. Die Unzufriedenheit der Bürger könne ebenso Ausdruck einer kritischen Grundhaltung sein, die wiederum zum Teil auf den ökonomischen Wohlstand zurückzuführen sei. Wichtig sei ein generalisiertes, nicht allein partikulares Vertrauen der Bürger in die Demokratie. Der Rechtsstaat, der Wohlfahrtsstaat und die Gewähr, dass öffentliche Einrichtungen nicht von Gruppeninteressen in Beschlag genommen werden, förderten generalisiertes Vertrauen, ebenso die ethnische und religiöse Homogenität einer Gesellschaft.

Daneben sei auch die Existenz von sog. Sozialkapital wichtig für eine stabile Demokratie. Durch das Grundkonzept der „verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit“ werde Vertrauen zum „Gleitmittel des gesellschaftlichen Lebens“, betonte Decker. Sozialkapital sei aber nicht einfach „da“, sondern müsse aufgebaut und gezielt gefördert werden. Aktuell sei aufgrund der ungleichen Verteilung kulturellen Kapitals (Bildung) aber ein „Formenwandel“ mit Blick auf das Sozialkapital zu beobachten. Die Kluft zwischen Arm und Reich werde größer, die ungleiche Verteilung von Wohlstand und die zunehmende „Privatisierung“ von Sozialkapital wurzelten in einer tiefen Zersplitterung der Gesellschaft. Decker spricht von einer „Krise des Allgemeinen“, bei deren Bewältigung gerade die Funktion der Volksparteien als gesellschaftliche „Brückenbauer“ nicht unterschätzt werden dürfe.

Gleichberechtigung: Über eine Revolution der kleinen Schritte

„Meine Herren und Damen!“ Mit diesem Zitat aus der Rede von Marie Juchacz, der ersten Frau am Rednerpult der deutschen Nationalversammlung im Weimarer Nationaltheater, begann Prof. Dr. Pascale Cancik (Universität Osnabrück) ihren Vortrag zum Thema „Demokratisierung der Demokratie – Frauenwahlrecht und Gleichberechtigung“. Juchacz, Sozialdemokratin und spätere Gründerin des Vereins „Arbeiterwohlfahrt“, kurz: AWO, war eine von 37 weiblichen Abgeordneten der Nationalversammlung, die restlichen 423 Mandate wurden von Männern besetzt. Die Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts durch Art. 22 Abs. 1 Satz 1 WRV stellte einen Meilenstein für die Frauenbewegung dar, erstmals tauchte das Wort „Frau“ im Text einer Verfassung auf:

„Die Abgeordneten werden in allgemeiner, gleicher, unmittelbarer und geheimer Wahl von den über zwanzig Jahre alten Männern und Frauen nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt.“

Doch die formale Gleichberechtigung von Mann und Frau (vgl. Art. 109 Abs. 1 WRV) habe nicht der politischen Realität entsprochen, eine „lebendige und bewusste weibliche Wählerschaft“ habe es zu diesem Zeitpunkt noch nicht gegeben. Denn obwohl die Gleichstellung beider Geschlechter durch die Verfassung Ungleichbehandlungen aller Art begründungspflichtig gemacht hatte, habe sich hartnäckig die Auffassung gehalten: „Die Frau gehört dem Haus und der Familie an“ (Georg Meyer). Das tradierte Rollenbild der Hausfrau und Mutter sei bestehen geblieben, ein frauendiskriminierendes Ehemodell nach dem Vorbild des 19. Jahrhunderts, das die „Gleichmacherei“ vermieden habe, „wo sie nicht gewollt war“ und Regelungen wie das sog. „Beamtinnenzölibat“ verhinderten die faktische Gleichberechtigung der Frau.

Die „grundsätzliche“ Gleichheit von Mann und Frau, die Art. 109 Abs. 1 Satz 2 WRV postulierte, habe weiterhin „vorbehaltlich geschlechterspezifischer Unterschiede“ Bestand gehabt, Unterschiede, die auch in der frühen Bundesrepublik noch aktiv dazu genutzt worden seien, Frauen von bestimmten (insbes. juristischen) Berufen auszuschließen, führte Cancik aus. An der Lage der Frauen habe auch der neue Art. 128 Abs. 2 WRV nichts geändert, der pro forma „[a]lle Ausnahmebestimmungen gegen weibliche Beamte“ bei der Zulassung aller Staatsbürger zu öffentlichen Ämtern „nach Maßgabe der Gesetze und entsprechend ihrer Befähigung und ihren Leistungen“ habe beseitigen sollen. Erst 1922 trat das „Reichsgesetz über die Zulassung der Frauen zu den Ämtern und Berufen der Rechtspflege“ in Kraft. Dr. Maria Otto war die erste Frau, die in Deutschland als Rechtsanwältin zugelassen wurde.

Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit

In seinem Vortrag zum Thema „Parlamentarische Demokratie: Ideale, Kritik, Praxis“ beleuchtete Prof. Dr. Christoph Gusy (Universität Bielefeld) die Vorbedingungen parlamentarischer Prozesse und die Bedeutung der Parlamentarisierung als Ziel der Demokratisierung in der Zeit bis 1918.

Zur Zeit der Weimarer Republik seien Worte wie Konsens, Kompromiss und Koalition negativ besetzt gewesen. Der Krieg hatte die Gesellschaft tief gespalten, Dissens war an der Tagesordnung, Integration noch keine Tugend im Deutschland von damals, so Gusy. Die gesellschaftliche Basis der Parlamentarisierung sei entsprechend defizitär gewesen. Die Demokratie der Weimarer Republik sei geprägt gewesen durch ein beinahe regierungsunfähiges Parlament, eine „anspruchslose“ Opposition, die offene politische Privilegierung bestimmter Gruppen und eine wettbewerbsunfreundliche, weil herkunftsorientierte Besetzung öffentlicher Ämter. Entsprechend charakterisierte Gusy die Weimarer Demokratie rückblickend als „‚aufgesetzte Demokratie‘ mit noch zu schaffender Basis“.

Der Parlamentarismus der Nationalversammlung sei geprägt durch den Willen zum Schutz des Parlaments gegen einen übermächtigen Reichspräsidenten mit zu vielen Befugnissen, führte Gusy aus. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger Ebert habe Hindenburg als Reichspräsident seine Reservekompetenzen durch die regelmäßige Ausschaltung des Reichstags stark ausgebaut wie etwa im Zuge der Regierungsbildung 1932. Die Aushebelung der Schutzfunktion des Art. 25 Abs. 1 WRV, der zwar die Auflösung des Reichstags durch den Reichspräsidenten erlaubte, „jedoch nur einmal aus dem gleichen Anlaß“, die unvollständige Parlamentarisierung und die Umdeutung der Notstandsrechte in „Jederzeitrechte“ verdrängten die verfassungsdemokratische Mehrheit bald aus der Verfassungswirklichkeit. Die parlamentarische Verfassung sei mit der Zeit „uminterpretiert“ worden, sodass sie schließlich nicht mehr als eine bloße „Kulisse“ gewesen sei, die dazu diente, eine „Dysfunktionalisierung der Demokratie“ zu ermöglichen, die im Zuge des Legitimationsentzugs durch die Wähler infolge der Politik des Reichspräsidenten und der verheerenden wirtschaftlichen Lage gelingen konnte.

Das Beispiel Weimar zeige eindrücklich, dass es „keine Republik ohne Republikaner, keine Demokratie ohne Demokraten“ geben könne, dass also erst die Verfassungswirklichkeit zeige, ob ein Verfassungstext auch dem gesellschaftlichen Grundkonsens entspreche, schloss Gusy.

 

Podiumsdiskussion

Zu Beginn der abschließenden Podiumsdiskussion forderte die Moderatorin Prof. Dr. Antje von Ungern‑Sternberg – unter Bezugnahme auf das Oberthema der Tagung – die Referenten auf, einige aus ihrer Sicht zentrale Herausforderungen der Demokratie im Jahr 2019 zu nennen.

Laut Prof. Decker gehört zu diesen Herausforderungen jedenfalls die Stabilisierung des ökonomischen und kulturellen Zusammenhalts, da die Demokratie auf einem politischen Gleichheitsversprechen fuße. Daneben sei aber auch die Souveränitätsproblematik weiterhin aktuell: Eine funktionierende Demokratie ist heute noch immer an einen Nationalstaat gebunden, so Decker. Demokratien ließen sich daher als überstaatliche Systeme kaum etablieren, was aber auf lange Sicht notwendig sei, da sich einige der aktuellen globalen Probleme auf nationaler Ebene nicht mehr lösen ließen.

Auch die fortschreitende Digitalisierung betrachtet Decker als eine der zentralen Herausforderungen für die Demokratie. Die Konsequenzen dieser technischen Entwicklung seien heute noch nicht absehbar, doch schon jetzt hätte die verstärkte Nutzung von neuartigen Distanzkommunikationsmitteln eine zunehmende Fragmentierung der Öffentlichkeit zur Folge. Abschließend verwies Decker auf die „Zukunftsvergessenheit“ als notorisches Problem der Demokratie. Die Menschheit neige dazu, die Interessen der zukünftigen Generationen aus dem Blick zu verlieren, dabei sei das Stichwort „Nachhaltigkeit“, gerade in Bezug auf zunehmende ökologische Bedrohungen, in aller Munde.

Nach Ansicht von Prof. Cancik steckt die Demokratie seit Langem in einer Krise. Sie bemerkt aber eine Veränderung der Wahrnehmung dieser Krise durch die Öffentlichkeit.

Bereits in den 1990er-Jahren sei mit der Frage nach der Existenzberechtigung der Demokratie eine „Krisenbehauptung“ aufgestellt worden, die die eigentliche Krise verschärft und als Aufmerksamkeitsgenerator für politische Themen gewirkt habe, so Cancik kritisch. Das habe die Angst vor Sicherheits- und Kontrollverlust bei der Bevölkerung geschürt.

Dabei werde zwar allein die parlamentarische Form der Realisierbarkeit von Demokratie in Frage gestellt, nicht die Demokratie selbst. Cancik gibt jedoch zu bedenken, dass übersteigerte Erwartungen der Öffentlichkeit an die Demokratie zu einer Veränderung des Gegenstands der Krise, des Demokratiebegriffs selbst, und so zu einer Destabilisierung führen könnten.

Zu den weiteren Herausforderungen der Demokratie im 21. Jahrhundert gehören nach Prof. Cancik die Frage nach der Handlungsfähigkeit von Parlament und Parteien mit Blick auf den Klimawandel, die Kluft zwischen parlamentarischer Repräsentativität und gesellschaftlicher Realität, das verstärkte Aufkommen eines neuen Nationalismus und die Populismusanfälligkeit innerer Angelegenheiten sowie das Problem der Wahrnehmung von Bürokratie als „Demokratiebremse“ durch die breite Masse.

Prof. Gusy schließlich sieht eine besondere Herausforderung in der Klärung der Frage, was Demokratie zu leisten im Stande ist. Derzeit, so Gusy, werde Demokratie in Europa vielfach als gesellschaftlich „unterbelichtet“ wahrgenommen. Sinn und Unsinn von Demokratie seien Gegenstand umfassender Diskussionen, gerade im Zusammenhang mit aktuellen Fragen rund um das Für und Wider des vermehrten Einsatzes direkter Demokratie zur gesellschaftlichen Mobilisierung, die Notwendigkeit des Aufbaus von sog. „Expertenregimen“ und den Zusammenhang zwischen Demokratie und technischem Wandel.

Die Skepsis gegenüber der Demokratie als Staatsform liege unter anderem in einem „Wandel von vorausgesetzten Selbstverständlichkeiten“ begründet, einer totalen Spaltung der Gesellschaft, in der das „Sein“ das „Bewusstsein“ bestimme. Diese Entwicklung wiederum hänge zusammen mit einem Gefühl der bürgerfernen Repräsentation durch die gewählten Vertreter, das in der Öffentlichkeit vorherrsche und sich in dem Vorwurf äußere, Politiker beschäftigten sich ausschließlich mit ihren Problemen.

Im Ergebnis sei ein „Funktionswandel von sozialen Zusammengehörigkeiten“ zu beobachten. „Wir‑Gefühle“ innerhalb der Gesellschaft träten immer seltener auf, eine demokratiekonforme Rezeption dieses Problems sei unerlässlich, betonte Gusy.

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