Versickerte Dreigliedrigkeit

Neue Differenzierungsstrukturen in integrierten Schulformen der Sekundarstufe I

Mit der Einführung integrierter Sekundarschulformen ist die Erwartung verknüpft, eine gemeinsame Schule für alle Schüler:innen neben dem grundständigen Gymnasium anzubieten. In diesem Zuge werden Selektions- und Allokationsentscheidungen vom Grundschulübergang in gestuft angelegte Differenzierungsstrukturen innerhalb der Sekundarstufe I verschoben. Die Sekundarschulvarianten in den Bundesländern unterscheiden sich dabei jedoch in ihren Zielsetzungen mit Blick auf das jeweilige Bildungssystem (Zwei-Wege-Modell vs. zwei- oder mehrgliedriges System): Soll bspw. einer größeren, nicht-traditionell gymnasialen Schülerklientel der Weg zur Hochschulreife ermöglicht werden oder geht es vorrangig darum, gelingende Übergänge in eine berufliche Ausbildung vorzubereiten? Diese Unterschiede werden als gegenwärtige Tendenz zur Regionalisierung des Bildungsangebots in der Sekundarstufe I neben der gymnasialen Säule verstanden, die dem Anspruch an eine bundesweite Gleichheit der Schulverhältnisse partiell entgegen steht. In diesem Zusammenhang forschen wir derzeit zum "Praxistag".

Das schulische Langzeitpraktikum "Praxistag"

Zur Verbesserung von Übergängen leistungsschwacher Schüler:innen in die berufliche Ausbildung wurde 2007/2008 in Rheinland-Pfalz der sogenannte Praxistag eingeführt, den mittlerweile landesweit über 280 Sekundarschulen anbieten. Mindestens sechs Monate bis zu einem Jahr gehen die teilnehmenden Schüler:innen mit prognostiziertem Berufsreife-Abschluss (erster Schulabschluss) der 8. oder 9. Jahrgangsklassen dabei an einem Tag pro Woche nicht zur Schule, sondern in einen Betrieb, um berufliche Erfahrungen zu sammeln. Einerseits kann der Praxistag als Vorzeigeprojekt von Bildungskommunen gelten, insofern durch die Vernetzung von Schulen und Betrieben die Problemlage gering qualifizierter Schulabgänger:innen und unbesetzter Ausbildungsstellen als gemeinsam zu bewältigende Aufgabe gefasst wird, die nur vor Ort angemessen bearbeitet werden könne. Andererseits zeigt sich am Praxistag exemplarisch, inwiefern solche Maßnahmen den Schüler:innen nicht nur spätere berufliche Anschlüsse im lokalen Umfeld eröffnen, sondern ebenso früher Chancen verschließen, die sich aus dem Erreichen eines Sekundarstufenabschlusses (mittlerer Schulabschluss) ergeben könnten.

Publikation:

  • Gordt, S. & Klomfaß, S. (2024): Festkleben statt Entkoppeln? Eine gerechtigkeitstheoretische Analyse
    des schulischen Langzeitpraktikums an nicht-gymnasialen Sekundarschulen in Rheinland-Pfalz. In: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation (ZSE), 44(4), S. 436–449.
  • Klomfaß, S., Gordt, S. & Baray, A. (2023). Mythos Praxis. Das schulische Langzeitpraktikum „Praxistag“ in der Wahrnehmung einer Bildungskommune in Rheinland-Pfalz. In: Brüggemann, C., Hermstein, B. & Nikolai, R. (Hrsg.). Bildungskommune. Bedeutung und Wandel kommunaler Politik und Verwaltung im Bildungswesen (S. 180-197). Weinheim, Basel: Beltz.
  • Klomfaß, S. (2017): Neue Schulformen, neue Ungleichheiten? In: Freytag, T. & Baader, M. (Hrsg.): Bildung und Ungleichheit in Deutschland. Wiesbaden: Springer VS, S. 205–225.