Resilienz und jüdische Geschichte: Aschkenasische Juden im späten Mittelalter
Phase 1: Reaktionen auf Verfolgung, Entrechtung und Vertreibung
Am 18. März 2016 hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft beschlossen, vier neue Forschergruppen einzurichten, darunter auch die Trierer Forschergruppe zum Thema »Resilienz: Gesellschaftliche Umbruchphasen im Dialog zwischen Mediävistik und Soziologie« werden wir am Arye Maimon-Institut für Geschichte der Juden ab Sommer 2016 ein neues Projekt bearbeiten, dass sich mit den Reaktionen aschkenasischer Juden auf Verfolgung, Entrechtung und Vertreibung seit der Mitte des 14. Jahrhunderts befasst.
Das Projekt untersucht Handlungsoptionen und Resilienzstrategien der jüdischen Minderheit in Aschkenas, d. h. im römisch-deutschen Reich und den daran angrenzenden Siedlungsgebieten deutschsprachiger Juden (Oberitalien, Ostmitteleuropa), angesichts vielfältiger und tiefgreifender Disruptionserfahrungen vom 14. bis frühen 16. Jahrhundert. Damals erwies sich die kollektive Praxis jüdischen Lebens in Familien, Haushalten und Gemeinden immer wieder akut in ihrem Bestand bedroht. Das Projekt fragt nach strukturellen Voraussetzungen, Akteurskonstellationen und konkreten Handlungen, die dazu geeignet waren, mittel- und langfristig akzeptable Rahmenbedingungen für den Fortbestand der jüdischen Religion als Lebensform in der christlichen Umgebung zu sichern.
Unter dieser Leitperspektive werden in einer ersten Förderperiode (2016–19) die tiefen Einbrüche seit der Mitte des 14. Jahrhunderts als Ausgangslagen für zwei vergleichend angelegte Studien zu den jeweils anschließenden Bewältigungs-, Anpassungs- und Transformationsprozessen gewählt: (1.) die schweren Judenverfolgungen von 1348–50 im Kontext der Pest mit ihren demographischen, ökonomischen und sozialen Folgen, und (2.) die Verdichtung gewaltsamer Übergriffe und herrschaftlicher Repressionen zwischen ca. 1380 und 1420: »Judenschuldentilgungen« (1385 und 1390–93), lokale Pogrome sowie Vertreibungen aus Städten und Territorien.
Projektleitung: Lukas Clemens & Christoph Cluse
wissenschaftliche Mitarabeit: Michael Schlachter & Thilo Becker
Phase 2: Bewältigungs-, Anpassungs- und Transformationspotentiale regionaler Netzwerke
In der zweiten Förderphase wird die abermalige Verdichtung rechtlicher und ideologischer Exklusionsbemühungen und disruptiver Phänomene seit den 1470er Jahren im Hinblick auf die den jüdischen Familien und Gemeinden verbliebenen Optionen in den Blick genommen. Am Ende der Gesamtlaufzeit soll eine begründete Einschätzung darüber stehen, welchen Einfluss die mittelfristigen Resilienzstrategien individueller oder kollektiver Akteure (Netzwerkbildung, Migration, Diplomatie, Konversion) auf die langfristige Entwicklung der Bedingungen jüdischen Lebens in Aschkenas vom 14. bis 16. Jahrhundert hatten. Geprüft wird dabei die Hypothese, dass die Resilienzprozesse angesichts der kumulativen Auswirkungen einer Serie von Disruptionsphänomenen neben den Modi von Bewältigung und Anpassung zunehmend auch Potentiale der Transformation freisetzten, und dass diese Veränderung sich insbesondere im Verhältnis von Institutionen und individuellen Akteuren aufweisen lässt. Neben die traditionelle Formation des jüdischen Lebens in stadtzentrierten Gemeinden tritt seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert vermehrt ein Judentum, das in der bisherigen Forschung als „atomisiert“ bezeichnet worden ist, tatsächlich aber durch netzwerkartige Siedlungsstrukturen und die Aktivität starker Einzelakteure die Voraussetzungen für die langlebige Formation des sog. Landjudentums in mehreren bedeutenden Schwerpunktregionen schuf. Der Fokus der Teiluntersuchung 3 „Bewältigungs-, Anpassungs- und Transformationspotentiale regionaler Netzwerke“ liegt deshalb auf einer vergleichenden Analyse von drei Regionen, in denen an der Wende zur Neuzeit noch Schwerpunkte jüdischer Niederlassungen im Reich zu finden sind: Franken, Wetterau und Elsass. Alle drei Regionen sind in der historischen Forschung bereits gewürdigt worden, wobei vor allem die herrschaftlichen Verhältnisse als begünstigender Faktor in den Blick gerieten. Im vergleichenden Zugriff wird der Versuch unternommen, die jeweilige Gewichtung von Einzelakteuren, Netzwerken und Institutionen (Gemeinden) in den Resilienzprozessen zwischen ca. 1470 und der Mitte des 16. Jahrhunderts im Hinblick auf die anteilige Bedeutung der Modi von Bewältigung, Anpassung und Transformation abzuschätzen. Damit werden auf empirischer Grundlage Dynamiken in der Geschichte der aschkenasisch-jüdischen Gesellschaft und der christlich-jüdischen Beziehungen des ausgehenden Mittelalters als Resilienzprozesse verständlich.
Projektleitung: Lukas Clemens & Christoph Cluse.
Mitarbeiterinnen: Annika Funke, seit 2023 Ruth Bruchertseifer.