Was ist Ethnologie?

Ethnologie, aber auch Kulturanthropologie, bzw. Völkerkunde (engl. cultural anthropology, social anthropology, frz. ethnologie; sp. antropologia cultural) ist eine empirische und vergleichende Wissenschaft, die die Daseinsgestaltung menschlicher Kollektive (Gruppen, Netzwerke) in einem um-fassenden Sinn (holistisch) zum Gegenstand hat und deren Ziel es ist, die Vielfalt kollektiver menschlicher Lebensweisen zu erforschen, Weltverständnisse‘ zu entschlüsseln und kulturübergreifend verstehbar und erklärbar zu machen; früher zu fremden, fernen und vermeintlich einfachen ("primitiven") Gesellschaften; heute nicht mehr nur zu indigenen Völkern (vgl. z.B. die Arbeit der Gesellschaft für bedrohte Völker in Göttingen) und ethnischen Minderheiten, sondern grundsätzlich zu jeglichen Kollektiven, auch zu spezifischen Bereichen der eigenen Gesellschaft dort, wo kulturelle Differenz, Vielfalt bzw. Grenzziehungsprozesse (Barth 1969) eine Rolle spielen . Dabei ist der ethnologische Blick „kulturrelativistisch, fremdkulturell informiert und auf Sinnstiftung im Hand-lungsprozess gerichtet“ (Heidemann, 2011: 11). Dementsprechend ist die Ethnologie auch weniger eine theorieprüfende, erklärende und nach Gesetzen suchende, als eine theoriegenerierende, explorierende und nach Bedeutungen suchende Wissenschaft. Ethnologen und Ethnologinnen interessieren die Geschichten hinter den lokalen Erscheinungen, deren Verortung im kulturellen Kontext und ihre interkulturelle Übersetzung.

Historisch ist die Ethnologie ein Kind der Aufklärung, eine deutsche „Erfindung“ (Vermeulen, 2006) und wurde im 18. Jahrhundert mit universalhistorischem Anspruch in Form einer historischen Soziologie betrieben (Bierschenk, Krings, & Lentz, 2013). Den für das Fach zentralen Kulturbegriff fasste Edward B. Tylor, einer der Gründerväter des Faches schon 1873 holistisch: „Cultur oder Civilisation im weitesten ethnographischen Sinn ist jener Inbegriff von Wissen, Glauben, Kunst, Moral, Gesetz, Sitte und alle übrigen Fähigkeiten und Gewohnheiten, welche der Mensch als Glied der Gesellschaft sich angeeignet hat “ (Tylor, 1873, 1). Die heute gängigste, auch über das Fach hinaus wir-kende ethnologische Kulturdefinition stammt von Clifford Geertz: „Ich meine mit Max Weber, dass der Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei ich Kultur als dieses Gewebe ansehe. Ihre Untersuchung ist daher keine experimentelle Wissenschaft, die nach Grenzen sucht, sondern eine interpretierende, die nach Bedeutung sucht“ (Geertz, 1983, 9; vgl. auch Baldwin, 2006). War der Kulturbegriff noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts an die Vorstellung von durch alle Kulturmitglieder geteilte Lebens- und Werteräume gebunden, und da-mit im Kern essentialistisch, so begreift die Ethnologie heute den Menschen als mehreren Kulturfeldern zugehörig (z.B. Nationalität, Organisation, Religion, Geschlecht, Generation, Familie: „multiple and often conflicting identities“, Agar, 1996, 11). Vermischung, Übergänge, kulturelle Ränder, die Überschreitung und das Verschwimmen von kulturellen Grenzen, Inter- und Transkulturalität prägen nun das Forschungsfeld und verweisen auf den Konstruktionscharakter von Kultur und Ethnizität (Wimmer, 2008).

Methodisch stehen in der Ethnologie intensive Mikrostudien zu Teilbereichen von Gesellschaften („large issues in small places“, Eriksen, 2015) und kulturvergleichende Studien (Gingrich & Fox, 2002) im Zentrum. Die empirischen Daten werden durch längerfristige und direkte Teilnahme im Forschungsfeld in einem Wechsel aus dünner und dichter Beschreibung (Geertz, 1983, „thin and thick description“), aus dem Beobachtbaren auf der einen, und der Annäherung an die kulturelle Binnenperspektive auf der anderen Seite, erhoben. Das Spezifikum ethnologischer „teilnehmender Beobachtung“ liegt in dem für dichte Beschreibungen notwendigen Vertrautwerden mit den kulturellen Regeln (concept), der dahinter liegenden Struktur (structure, codes) und den vorgefunden kulturellen Praxen (Bauman, 1999) eines zuvor fremden Feldes. Damit unterscheidet sie sich von einer ethnografisch arbeitenden Kultursoziologie, die sich mit den sinnhaften Phänome-nen des Eigenen befasst, und ihren Forschungsgegenstand epistemologisch umgekehrt erst einmal aus der alltäglichen Erfahrung (dem Common Sense) herauslösen, „exotisieren“ muss, um ihn beobachten zu können (Hirschauer, 2013). Ethnologische Kulturanalyse betreiben bedeutet, kulturangemessene Lesarten für gelebtes Verhalten in Gruppen zu entwickeln. Der dazu notwendige Erwerb von Mitspielkompetenz über die Feldforschung ist zeitaufwändig (je nach Gegenstand we-nige Wochen bis zu einem Jahr, vgl. Wolcott, 2005) und aufgrund von Rollenübernahmen im Feld gegebenenfalls auch persönlich fordernd (Hume, Mulcock, & Mu, 2004).

Da Untersuchungsgruppen heute oft in verstreuten Territorien leben oder sogar nur Netzwerke bilden, rücken Ethnologen zunehmend davon ab, Gruppen oder Teilgruppen als ausschließliche Forschungseinheiten zu nehmen. Jetzt werden interethnische Systeme, multiethnische Netze, globale Verknüpfungen oder soziale Bewegungen erforscht, die über einzelne Gruppen hinweg reichen. Empirisch bedeutet dies, Menschen und Probleme auch an mehreren Orten zu verfolgen („multisited ethnography“; Marcus, 1995; Coleman & Hellerman, 2013). Mit der ethnologischen Netzwerkanalyse, wie In der der Zusammenarbeit mit Kognitions- und Neurowissenschaften rü-cken in jüngster Zeit auch wieder Ansätze einer schon 20 Jahre zuvor programmatisch entwickelten erklärenden, ´analytischen‘ Ethnologie (Schweizer, 1993) in den Fokus, die mit standardisierten und auch quantitativen Methoden arbeitet.

Ob es nun um materielle Güter, Geschlechterverhältnisse, Diasporasituationen, oder die Behandlung von Entwicklungs- und Umweltfragen geht, Ethnologie wird heute zunehmend zur Schnittstel-lenforschung in kulturellen Aushandlungsräumen, in die sie vor allem ihre „Affinität zu den infor-mellen Prozessen“ (Bierschenk) sowie ihre Fähigkeiten zur dichten Beschreibung und zur Zwei-Wege-Übersetzung an Systemgrenzen einbringt.

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Der Text ist weitgehend angelehnt an: Schönhuth 2016: „Stichwort Ethnologie“; in: Grundbegriffe der Soziologie; Kopp/ Steinbach 2015. (Hg.) 11. Aufl.

Literatur

Agar, M. (1986). The Professional Stranger. An Informal Introduction to Ethnography. 2. Auflage. New York: Academic Press.

Baldwin, J. R., Faulkner S.L., Hecht, M. L. & Lindsley S. L. (2006). Redefining Culture: Perspectives Across the Disciplines. Mahwah, N.J. : Erlbaum.

Barth, F. (1969). Ethnic Groups and Boundaries. The Social Organization of Culture Difference. Oslo: Universitetsforlaget.

Bauman, Z. (1999). Culture as Praxis. London etc.: Sage.

Bierschenk, T., Krings, M. & Lentz. C. (Hrsg.). 2013. Ethnologie im 21. Jahrhundert. Berlin: Reimer.

Coleman,S & Von Hellermann, P. (2011). Multi-Sited Ethnography: Problems and Possibilities in the Translocation of Research Methods. New York: Routledge.

Eriksen, Thomas Hylland (2015). Small places, large issues. An introduction to social and cultural anthropology. 4. Auflage. London: Pluto Press.

Geertz, Clifford (1983). Dichte Beschreibung . Frankfurt/M. Suhrkamp.

Gingrich, A.; Fox, R. G. (Hrsg.). 2002. Anthropology, by Comparison. London: Routledge.

Heidemann, F. (2011). Ethnologie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Hirschauer, S. (2013). Verstehen des Fremden, Exotisierung des Eigenen. Ethnologie und Soziologie als zwei Seiten einer Medaille. In: Bierschenk, T. et al. (Hrsg.). Ethnologie im 21. Jahrhundert. (S. 229-248). Berlin: Reimer.

Hume, L., Mulcock,J. & Mu, J. (Hrsg.) 2004. Anthropologists in the Field: Cases in Participant Obser-vation. New York: Columbia Univ. Press.

Marcus, G. E. (1995). Ethnography in/of the World System: The Emergence of Multisited Ethnogra-phy. Annual Review of Anthropology, 24, 95-117.

Schweizer, T. (1993). Perspektiven der analytischen Ethnologie. In: Ders., M. Schweizer und W. Ko-kot (Hrsg.). Handbuch der Ethnologie. (S. 79–113). Berlin: Reimer.

Tylor, E. B. T. (1873). Die Anfänge der Cultur. Leipzig: C.F. Winter.

Vermeulen, H. F. (2006). The German Invention of Völkerkunde: Ethnological Discourse in Europe and Asia, 1740-1798. In: S. Eigen und M. Larrimore (Hrsg.) The German Invention of Race. (S. 123-145). Albany: State University of New York Press.

Wimmer, Andreas (2008). The Making and Unmaking of Ethnic Boundaries: A Multilevel Process Theory, American Journal of Sociology, 113, (AJS) 113, 4 (January 2008), 970–1022.

Wolcott, H. F. (2005). The Art of Fieldwork. Walnut Creek [u.a.] : Altamira Press.