Geschichte für die Gegenwart

Die sinkende Zahl der Geschichtsstudenten ist kein Grund zum Alarmismus. Doch die Anpassungskrisen der Gesellschaft fordern das Fach heraus. Von Niko Lamprecht und Lutz Raphael

Ein Beitrag von Lutz Raphael (Vorsitzender des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands) und Niko Lamprecht (Vorsitzender des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands)

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.03.2024, Nr. 74, S. N4

Geschichte für die Gegenwart

Die sinkende Zahl der Geschichtsstudenten ist kein Grund zum Alarmismus. Doch die Anpassungskrisen der Gesellschaft fordern das Fach heraus.

Von Niko Lamprecht und LutzRaphael

Ist es wieder einmal Zeit, Alarm zu schlagen? Die Zahl der Geschichtsstudenten geht zurück, die Lehrkapazitäten historischer Institute werden auf den Prüfstand gestellt, vor allem Dozentenstellen in den Teildisziplinen sind gefährdet, die sich mit älteren Epochen beschäftigen. Gleichzeitig leidet der Geschichtsunterricht an einem alarmierenden Rückgang der Kompetenzen beim Text- und Leseverständnis. Wer beim Quellenfach Geschichte lernen will, braucht ein Mindestmaß an Lese- und Schreibkompetenz, welches für das mittlerweile oft als "schwer" empfundene Fach Geschichte zur Hürde wird. Wer schon bei der Lektüre einfacher Texte Probleme hat, wird an einem Text aus dem zehnten oder neunzehnten Jahrhundert erst recht scheitern.

Aus dem nahen wie fernen Ausland, aus den Vereinigten Staaten oder der Schweiz, kommen erheblich dramatischere Krisenberichte. Dort gefährden Eingriffe der Bildungs- und Wissenschaftspolitik in Schul- und Hochschulcurricula das Fach Geschichte, rechtspopulistische Angriffe auf die akademische Fachkultur verschärfen die Strukturkrise noch. Davon ist die Bundesrepublik zum Glück noch entfernt. Anders als in der Schweiz geben die bloßen Zahlen keinen Grund zu kulturkritischem Alarmismus. Die Zahl der Geschichtsstudenten nimmt zwar ab, laut amtlicher Statistik von 5361 Studienanfängern im Wintersemester 2010/11 auf 4036 im Wintersemester 2022/23. Dieser Rückstand entspricht aber dem Rückgang der Abiturientenzahlen. Nach wie vor wählen zwischen 1,3 und 1,5 Prozent eines Abiturientenjahrgangs das Studienfach Geschichte.

Produktiver als Spekulationen über nachlassendes Interesse ist es, sich die qualitativen Veränderungen anzuschauen, mit denen die Vermittlung von Geschichtskenntnissen heute an Schulen und Universitäten zu kämpfen hat. Besorgniserregend sind die hohen Abbrecherquoten und die wachsenden Defizite, mit denen Studienanfänger zu kämpfen haben, weil ihnen elementare Kompetenzen fehlen. Die schon erwähnten Schwächen beim Lese- und Textverständnis haben zugenommen bis zu dem Punkt, dass es ohne zusätzliche Lehrangebote für einen wachsenden Teil der Studenten nicht mehr gelingen kann, die Grundlagen der historisch-kritischen Methode im Bachelorstudium zu vermitteln.

Gleichzeitig haben die Elementarkenntnisse im Fach Geschichte erheblich abgenommen. Der Wissensstand der Studienanfänger schwankt enorm. In manchen Ländern besitzt der Geschichtsunterricht einen gewissen Bestandsschutz und eine ausreichende Stundentafel, in anderen steht er stark unter Druck und wird durch "Verbundmodelle" oder "Integrationsfächer" zu einem Zufallsprodukt. Wenn Lehrkräfte in Personalunion Geschichte, Sozialkunde und Erdkunde vertreten sollen, muss dies zu starken Qualitätseinbußen führen.

Den Defiziten bei der professionellen Vermittlung von Geschichtskenntnissen steht eine anhaltende "undisziplinierte" Neugierde in unserer Gesellschaft an Geschichte gegenüber: Geschichtsmessen, Mittelaltermärkte, Reenactment-Events, historische Romane mögen als Beispiele reichen. Aber auch historische Fachbücher in den Bestsellerlisten sprechen für ein anhaltendes gesellschaftliches Interesse an Geschichte, von Talkshows und "Sonntagsreden" der politischen Zunft ganz zu schweigen. Letztere betonen auffällig oft den Wert historischer Bildung und bedienen sich ihrer zur Legitimation eigener Ansichten.

Mehr denn je verteidigen auch Regierungen und demokratisch gesonnene Parteien im Land die hohen Standards unserer Geschichtskultur. Gedenkstätten, historische Museen und Ausstellungen werden öffentlich gefördert, vor allem die Zeitgeschichte ist in die unterschiedlichen Programme der Erforschung und Bekämpfung von Antisemitismus, Xenophobie und Rassismus sehr gut eingebunden. Es wird aber höchste Zeit, dass auch die Schul- und Bildungspolitiker wach werden und gegen die Auszehrung der schulischen Voraussetzungen unserer demokratischen Geschichtskultur vorgehen. Neben der wachsenden Zahl von Elternhäusern ohne größeren Bildungsbezug ist auch angesichts anwachsender Schülerkohorten mit Deutsch als Erstsprache, die in die Klassen der Sekundarstufe 1 und 2 aufrücken, eine drastische Anstrengung notwendig, um die Standards beim Lese- und Textverständnis wieder zu erreichen. Gleichzeitig ist es notwendig, die Inhalte des Geschichtsunterrichts mit Blick auf die Herausforderungen der Gegenwart zu prüfen, was für Geschichte aber keineswegs bedeuten kann, den "Baum der Geschichte" von allen "Ästen" zu befreien, die die heutigen Standards (beispielsweise zur Gleichberechtigung) nicht erreichen können.

Schule wie Universität haben als Lernorte auch noch keine überzeugende Antwort auf die Frage entwickelt, wie mit den neuen Möglichkeiten und Gefahren von ChatGPT und anderen Angeboten der KI sinnvoll umzugehen sei. Fatal wäre es, wenn die neuen Verführungen zur scheinbar anstrengungslosen Erzeugung guter Standardtexte zu historischen Fragen mit einer wachsenden Ignoranz der Grundverfahren historischer Textprüfung und Faktenchecks einhergingen. Die Unterminierung einer kritischen Geschichtskultur wäre die Folge. Damit fiele eine bislang selbstverständliche Grundlage unserer Demokratie weg. Faktenleugner und Erfinder "alternativer" Wahrheiten hätten gesiegt.

Verbindlichkeit und Relevanz sind Eckpfeiler, um die professionellen Vermittlungsformen von Geschichte in Schulen und an den Universitäten wieder zu stärken. Verbindlichkeit meint, dass Standards notwendiger Elementarkompetenzen, aber auch Wissensbestände aktualisiert, effektiv vermittelt und überprüft werden. Relevanz heißt, dass bis zum Bachelorabschluss zentrale Fragestellungen, Grundstrukturen und Inhalte historischen Wissens in den Curricula angemessen berücksichtigt werden. Das setzt voraus, dass Routinen und Traditionen ebenso wie Moden auf den Prüfstand kommen.

Drei konkrete Beispiele, was wir mit Relevanz und Verbindlichkeit meinen: Die Chronologie im Geschichtsunterricht gibt Orientierung. Ihre Entkernung und Übertragung in diffusere Kompetenz- oder Problemfelder ist für schwächere Teile der Schüler- und Studentenschaft sehr anstrengend. Auch im mittleren Leistungssegment überfordert dies teilweise. In Schulen wie an den Universitäten bewährt sich die Kombination von strukturierender Chronologie und Längsschnitten sowie problemgeschichtlichen Feldern. Curricula und Lehrpläne sollten den periodischen Ansatz nicht völlig negieren.

Im Oberstufenbereich darf es, zweitens, nicht passieren, dass die Leistungskurskombination von Geschichte mit gängigen anderen Fächern durch bestimmte Setzungen und Kombinationsvorschriften erschwert oder gar versperrt wird. Drittens bräuchte Geschichte an Schulen einen "Gedenkstättengutschein", damit engagierte Lehrkräfte Konzentrationslager oder andere Gedenk- und Erinnerungsorte (etwa zur Demokratiegeschichte) unbürokratisch per Exkursion besuchen können. Zurzeit ist das Exkursionswesen in diesem Bereich ein länder- und regionalspezifisch sehr unterschiedlicher Parcours, der Lehrkräften neben der Genehmigung durch die Schulleitung zahlreiche Recherche-, Akquise- und Organisationsaufgaben aufbürdet. Eine den Schulen mit Jahrgang 10 oder 10 bis 13 durch Bund oder jeweiliges Land zur Verfügung gestellte Pauschalsumme würde dem Besuch dieser wichtigen Lernorte Rückenwind verleihen.

Die geschilderten Auszehrungssymptome stellen ein sehr ernsthaftes Problem dar. Die Lehrkräfte an Schulen und Hochschulen dürften damit nicht alleingelassen werden. Sie haben pädagogisch sowieso mit diversen Anpassungskrisen unserer Gesellschaft zu kämpfen, die alle Fächer betreffen. Wir erhoffen uns konkrete Signale der Bildungspolitik, die den Sonntagsreden Taten folgen lassen, die dem Fach ein erneuertes Fundament verschaffen. Frei nach George Santayana: Eine geschichtsvergessene Gesellschaft ist verdammt, die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen.

Niko Lamprecht, Vorsitzender des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands

LutzRaphael, Vorsitzender des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands