Rechtspolitisches Kolloquium: Staatsverschuldung und Schuldenbremse – Politische Praxis, Verfassungsrecht und Zukunftsperspektiven
Unter dem Eindruck der damaligen weltweiten Finanzkrise wurde die derzeit geltende Schuldenbremse im Jahre 2009 grundgesetzlich verankert. Sie sollte die Begrenzung und damit auch die Tragfähigkeit der staatlichen Verschuldung sichern. Dass sich politische Handlungsspielräume hierdurch eingeschränkt sehen, ist unstreitig. Von kritischen Stimmen als nicht mehr zeitgemäßes Investitionshemmnis empfunden, verweisen ihre Fürsprecher weiterhin auf die Gefahren hoher Staatsverschuldung. Der fehlende Konsens in der politischen Debatte erfuhr mit dem Scheitern der Ampelkoalition eine besondere Aufmerksamkeit. Anlass genug, diesem Themenkomplex ein Rechtspolitisches Kolloquium zu widmen. Am 04.02.2025 durften wir Herrn Prof. Dr. Hanno Kube, Direktor des Instituts für Finanz- und Steuerrecht der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, als fachkundigen Referenten begrüßen. Nach einem einleitenden historischen Überblick betrachtete er Regelungsgegenstand und kritische Punkte der Schuldbremse aus der verfassungsrechtlichen Perspektive.
I. Historie
„Die Schulden von heute sind die Steuern von morgen“ – ein eingängiges Zitat des Nationalökonomen David Ricardo aus dem Jahre 1820, welches Kube zum Einstieg seines Vortrages wählte. Weitere, teils entgegensetzte Zitate markierten sogleich die „traditionelle“ politische Zerrissenheit in dieser Frage. So sei die Verschuldung politischer Gemeinwesen keineswegs eine Problemerscheinung der erst jüngeren Vergangenheit. Rechtliche Instrumentarien zur Verschuldensregulierung haben sich seit dem 19. Jahrhundert entwickelt.
In der Weimarer Republik verlangte die staatliche Verschuldung neben einem „außerordentlichen Bedürfnis“ auch ein staatliches Investitionsbestreben. Diese Parameter fanden sich auch in Art. 115 GG (a.F., Stand1949) wieder, ehe das Erfordernis des außerordentlichen Bedarfs mit der Haushaltsrechtsreform 1967/1969 gestrichen wurde.
II. Aktueller Regelungsgegenstands
Die aktuelle Fassung der Schuldenbremse verfolgt den Grundsatz des materiellen Haushaltsausgleichs, mit dem ein prinzipielles Verbot der Nettoneuverschuldung einhergeht. Dem Bund – nicht aber den Ländern – wird eine Nettoneuverschuldung zugebilligt, die max. 0,35 % des Bruttoinlandsprodukts pro Jahr (derzeit etwa 14 Mrd. EUR) betragen darf. Bund und Ländern werden weitere Verschuldungsmöglichkeiten zugestanden, wenn sich eine anormale Konjunkturschwäche anbahnt. Hinzutritt die Ausnahme der notlagenbedingten Verschuldung, die auch im Falle exogener Schocks (z.B. Naturkatastrophen) eine kurzfristige Liquidität sichern soll.
III. Staatsverschuldung in den Krisenjahren
Die neue Schuldenbremse wurde im Jahre 2009 beschlossen, gilt auf Bundesebene seit 2016 und in den Ländern seit 2020. Der staatliche Mittelbedarf hatte sich im Zuge der Coronapandemie drastisch erhöht. Es folgte der russische Angriffskrieg auf die Ukraine, der eine Energie- und Inflationskrise auslöste. Erstmals seit ihrem Inkrafttreten, so Kube, habe die Schuldenbremse vor einer Bewährungsprobe gestanden. Da beide Ereignisse für sich einen exogenen Schock darstellten, seien die Aufnahmen damit verbundener Notlagenkredite grundsätzlich verfassungskonform gewesen.
Bedenklich erschien jedoch eine Mittelverschiebung von 60 Mrd. EUR nicht erforderlicher Corona-Notlagenermächtigungen in den Energie- und Klimafonds bzw. den Klima- und Transformationsfonds (EKF/KTF). Das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021 bot hierzu die rechtliche Grundlage. Die Unionsparteien klagten gegen den Zweiten Nachtragshaushalt der Ampelregierung – mit Erfolg. Das Bundesverfassungsgericht erklärte den Nachtragshaushalt als verfassungswidrig und nichtig.Kube fasste die drei wesentlichen Gründe für das Scheitern des Gesetzes zusammen. So bemängelte das Bundesverfassungsgericht einen fehlenden Sachzusammenhang zwischen der Corona-Notlage und der durch die Bundesregierung angestrebten Verwendung im Energie- und Klimafonds. Da die Mittel überjährig im Energie- und Klimafonds verblieben und nicht verfielen, lag überdies eine Verletzung des Jährlichkeits- und Jährigkeitsprinzips vor. Der fehlende zukunftsorientierte Planungscharakter habe zusätzlich zu einer unzulässigen Rückwirkung des Gesetzes geführt. Das höchstrichterliche Urteil zeige, dass die Schuldenbremse wirken würde und justiziabel sei.
In der Folgezeit habe man dennoch den Eindruck gewinnen können, die Ampelkoalition habe die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts unzureichend verinnerlicht. Angestrebt wurde etwa eine notlagenbedingte Kreditfinanzierung für im Jahre 2024 geplante Ahrtalhilfen in Höhe von rund 2,7 Mrd. EUR. Diese Belastung sei weder unvorhersehbar gewesen noch hätte sie die erforderliche Erheblichkeit erreicht.
IV. Reformansätze und offene Flanken
Ganz gleich, wie die kommende Bundestagswahl ausgehen mag, werde die staatliche Verschuldung ein zentrales Thema politischer Bestrebungen bleiben. Auf der Schuldenbremse laste dabei ein fortwährender Druck, der zu Reformansätzen veranlasse. Vorgeschlagen würde u.a. eine Investitionsklausel, deren Regelungsgehalt an Art. 115 GG a.F. erinnere. Würde nun abermals eine Staatsverschuldung im Gesamtumfang geplanter Investitionen zugelassen, stünde zunächst deren tatsächliche Rentabilität in Frage. Zugleich würde zu vorrangig schuldenfinanzierten Investitionstätigkeiten animiert, während sich der reguläre Haushalt im konsumtiven Bedarf erschöpfen könnte.
Alternativ ließe sich bei der Konjunkturkomponente der Schuldenbremse ansetzen. Bei ihrer Berechnung könne von der wirtschaftlichen Ist-Situation abgewichen und stärker auf die Soll-Situation gesetzt werden. Entstehende Produktionslücken könnten eine weitere Verschuldung sodann legitimieren. Verfassungsrechtlich sei es aus Sicht Kubes dennoch geboten, weiterhin auf die konjunkturelle Wirklichkeit abzustellen.
Im Sinne der Rechtssicherheit und -klarheit seien Nachjustierungen empfohlen, welche die offenen Flanken der Schuldenbremse zu schließen vermögen. So sollte bspw. die Verschuldung von selbstständigen Rechtsträgern des Staates und öffentlichen Unternehmen (z.B. Sozialversicherungsträger, Deutsche Bahn) künftig ausnahmslos auf die Schuldenbremse angerechnet werden. Die Übernahme etwaiger Altschulden einer Kommune müsste zudem bei der Nettoneuverschuldung eines Landes berücksichtigt werden.
V. Grundsätzliche Überlegungen zur Staatsverschuldung
Als grundsätzliche Kritik fügte Kube an, dass die Staatsverschuldung in den letzten drei Jahrzehnten stark angestiegen sei, obwohl sich die Steuereinnahmen in den letzten 15 Jahren nahezu verdoppelten hätten und eine nur mäßige Inflation zu verzeichnen war. Hieraus ließe sich schlussfolgern, dass die Zusammenstellung der staatlichen Ausgaben oder die gesetzten Prioritäten eine mögliche Neuausrichtung erfordern.
Die Schuldenbremse habe sich im internationalen Vergleich bewährt. Ihre strukturelle Schwächung sei aufgrund der Risiken, die bspw. der demokratische Wandel und die Volatilität des Zinsniveaus bergen, abzulehnen. Die exakte Festlegung von 0,35 % des Bruttoinlandsprodukts als grundgesetzliche Grenze der Nettoneuverschuldung solle von Ökonomen aber durchaus hinterfragt werden können.
Auch wies Kube die Annahme, eine Schwächung der Schuldenbremse würde zu mehr Investitionen führen, zurück und benannte den Fachkräftemangel sowie die hohen bürokratischen Hürden als eigentliche Blockadequellen weiterer Investitionen.
Auch die europäischen Vorgaben dürften nicht unbeachtet bleiben. Der im vergangenen Jahr reformierte Stabilitäts- und Wachstumspakt sowie der auf Völkerrechtsebene hinzutretende Fiskalvertrag würden den deutschen Handlungsspielraum zur Lockerung der nationalen Schuldenbremse stark eingrenzen.
VI. Die freiheitsfreundliche Idee des Steuerstaats
Abschließend betonte Kube die herausgehobene Stellung des historisch erkämpften freiheitlichen Steuerstaates, welcher nicht nur eine wichtige rechtskulturelle Stellung einnehme, sondern auch eine nachhaltige demokratische Selbstgestaltungsfähigkeit des Gemeinwesens garantiere. Dieser dürfte jedoch nicht durch stete Neuverschuldung finanziert werden, sondern müsse auch weiterhin durch eine angemessene Besteuerung des wirtschaftlichen Erfolges bestehen können.
Der Aktualität und Brisanz des Themas gerecht werdend, erfreute sich die anschließende Diskussion unter Leitung von Institutsdirektorin Frau Prof. Dr. Antje von Ungern-Sternberg einer regen Teilnahme des Auditoriums.
Interessierte finden hier eine Linkliste mit Literaturempfehlungen.