Genisa

Auswertung der jiddischsprachigen Fundstücke aus der Weisenauer Genisa
[The Genizah in Weisenau]
Genisa-Team:
Prof. Dr. Erika Timm
Dr. Simon Neuberg
Dr. Ane Kleine
Dr. Chang, Shoou-Huey
Dr. Carla Winter
Suse Bauschmid


Fragment einer bebilderten Zene-urene (Frauenbibel, Sulzbach, 1781)

 

Genisafunde in deutschen Landsynagogen:
Bei den Juden als dem 'Volk des Buches' haben Bücher von jeher einen besonderen Stellenwert. Und da die meisten Bücher in irgendeiner Form den Namen Gottes enthalten, der nicht zerstört werden darf, werden sie, wenn sie unbrauchbar geworden sind, nicht einfach weggeworfen. Sie müssen auf dem Gemeindefriedhof begraben werden, finden aber in der "Genisa" eine vorläufige Ruhestätte.
In den letzten Jahren sind bei Restaurierungsarbeiten an verschiedenen Synagogen Genisafunde gemacht worden. Von besonderem Interesse sind dabei weniger die hebräischen Standardtexte der Liturgie und der Bibel, die in unveränderlichem sprachlichem Gewande die Jahrhunderte überdauern, als vielmehr die volkssprachlichen Texte, die die Entwicklung  der allzu oft vernachlässigten westjiddischen Sprache und Literatur dokumentieren. Diese volkssprachlichen (aber natürlich in hebräischen Buchstaben geschriebenen) Texte aus der Weisenauer Genisa werden in einem Forschungsseminar der Abteilung Jiddistik an der Universität Trier bearbeitet.

Minhogim ("Brauchtum", Frankfurt a.M. 1723)

 

Jiddische Buchfragmente in der Weisenauer Genisa - das Trierer Arbeitsteam:
... die Fenster des Seminarraums sind weit geöffnet. Sechs Paar Hände fahren vorsichtig mit Pinseln über die meist schäbig wirkenden Papierüberreste. Es staubt gewaltig. So nimmt das Trierer Forschungsseminar seinen Anfang; die Auswertung der Genisafunde hat begonnen.

Bei Vorarbeiten zur Renovierung war man in der Synagoge der ehemaligen Judengemeinde Weisenau (bei Mainz) auf die traditionelle 'Wertablage'  (so die wörtliche Übersetzung von Genisa) gestoßen und fand Fragmente zerlesener Bücher, manchmal nur den Rest eines einzigen Blattes, bedeckt von Staub und Schutt, angegriffen vom Zahn der Zeit und vom Mäusefraß. Eine Vorauswahl der Texte trafen Erika Timm und Simon Neuberg bereits vor Ort, als sie, was sich an Jiddischem fand, in großen Kisten nach Trier brachten. Titelblätter fehlen meist, Seitenzählungen und Kolumnentitel häufig genug. Es darf nicht vergessen werden, daß diese Bücher zur Zeit ihrer Ankunft in der Genisa bereits stark beschädigt waren - um so schwerer sind ihre spärlichen Reste heute zu identifizieren.

Lev Tov ("Gutes Herz", Erbauungsbuch), Sulzbach 1703, Folio!

 

Nach der ersten groben Einteilung war detektivischer Spürsinn gefragt. Erst ein genauer Vergleich mit einem vollständigen Exemplar kann schließlich, ist das Werk erkannt, Sicherheit bringen, um welche Ausgabe es sich bei dem Fund handelt.
Jede Identifizierung ist dabei Freude und Enttäuschung zugleich, schließlich findet man gerne nicht nur unbekannte Ausgaben, sondern am liebsten noch gänzlich unbekannte Texte. Mit Hilfe der jiddischen Microfiche-Bibliothek konnten viele Fälle geklärt werden. Eine gemeinschaftliche Exkursion nach Frankfurt am Main lieferte weiter Identifizierungen, desgleichen die Arbeit von Simon Neuberg in Jerusalem und Ane Kleine in Oxford.

Meerjungfrau aus dem Kunstmärchen: "Historie fun prinz Galante...", erstmals in Weisenau belegter, unbekannter Druck.

 

Auf diese Weise konnte die Mehrzahl der jiddischen Fragmente knapp 60 Büchern zugeordnet werden. Wie zu erwarten, sind es überwiegend Werke der religiösen Brauchtums- und Erbauungsliteratur. Aber auch weltliche Texte und Gebrauchsliteratur, wie etwa Taschen- und Wandkalender kamen zum Vorschein.

Fundstück: Taschenkalender


Die geplante Dokumentation:
Die Genisafunde in den kleinen Landgemeinden, wie sie vor allem im süddeutschen Raum nun verstärkt zum Vorschein kommen, sind dabei ein Thema von primär literatursoziologischem Interesse. Sie bezeugen eine unerwartete Dichte der jiddischen Druckgeschichte im 17. und 18. Jahrhundert und geben zugleich konkrete Einblicke in die Lesegewohnheiten der 'einfachen' jüdischen Bevölkerung.

Übersicht der ausgewiesenen Druckorte.

 

Die erste Zusammenstellung jiddischer Fragmente eines solchen Genisafundes unternahm 1988 Erika Timm zusammen mit Hermann Süß in der Aufarbeitung der Funde der Veitshöchheimer Synagoge.
Das Trierer Genisa-Team plant, die jiddischen Genisafunde der Landsynagoge Weisenaus in einem Band zu dokumentieren. Hierin werden Abbildungen der gefundenen Fragmente zusammen mit Erläuterungen zu Werk und Ausgabe abgebildet. Zusätzlich sollen Kapitel zur Funktion einer Genisa und ihrer Darstellung in der jiddischen Literatur, zur jüdischen Gemeinde in Weisenau, zu den ausgewiesenen Druckorten und zur literatursoziologischen Bedeutung des Fundes mit diesem Schatz vertraut machen.

Seder Thechiness ("Gebete") Amsterdam 1733; bislang unbekannte Ausgabe.

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(c) Suse Bauschmid; 5/2016